Venezuela gegen Kleinstaat Guyana: Geht es um Bodenschätze oder Kolonialismus?

Venezuela will einen Teil von Guyana annektieren. Dort gibt es Öl- und Mineralvorkommen. Ein Kolonialstreit mit geopolitischem Sprengstoff.

Statt Friedensgesprächen, Waffenruhen und Aufatmen bekommt die Weltbevölkerung einen weiteren geopolitischen Konflikt geschenkt: Venezuelas Präsident Nicolás Maduro möchte sich einen bedeutenden Teil des Nachbarstaats Guyana einverleiben.

Es geht um das Esequibo-Gebiet im Westen des Landes, das mit einer Fläche von 160.000 Quadratkilometern größer als England ist. Das Gebiet ist dünn besiedelt, endlose grüne Flächen prägen die Gegend – Guyana besteht ohnehin zu 85 Prozent aus Regenwald.

Einige der höchsten Wasserfälle des ganzen Planeten finden sich dort. Was die Esequibo-Region jedoch so interessant macht, sind die Entdeckungen dort, die nur wenige Jahre zurückliegen. Denn 2015 fand der US-Konzern ExxonMobile große Vorkommen an Erdöl und Gas vor der Küste des Esequibo. Vor wenigen Monaten sorgte ein weiterer Ölfund für Aufsehen. Guyana erteilte bereits vor acht Jahren Förderlizenzen an ExxonMobile.

Elf Milliarden Barrel Erdöl werden insgesamt vermutet, zudem weitere wertvolle Rohstoffe wie Gold, Kupfer, Diamanten, Eisen und Bauxit. Damit hätte der kleine südamerikanische Staat größere Reserven als die bedeutenden Petro-Staaten Kuwait oder die Vereinigten Arabischen Emirate.

Guyanas Wirtschaft wächst schnell

Dieser Ressourcenfund konvertiert Guyana in eine der am schnellsten wachsenden Ökonomien der Welt. 2022 erlebte das Land fast 60 Prozent Wachstum des BIP, für 2023 werden rund 25 Prozent erwartet.

Der aktuelle Grenzkonflikt mit Venezuela, die Gebietsansprüche Maduros: All das ist keine plötzliche, unerwartete Entwicklung. Die Auseinandersetzung der beiden Nachbarländer wurzelt in der Kolonialgeschichte. Venezuela hat die Esequibo-Region stets als die ihre angesehen.

Schulkinder lernen Landkarten, die den Esequibo zu Venezuela zählen, und nicht zu Guyana. Das Territorium macht zwei Drittel des gesamten Staates von Guyana aus. Jetzt möchte Maduro gleich zur Tat schreiten: Nach einem fragwürdigen Referendum ordnete der autoritäre Machthaber nur einen Tag später an, "unverzüglich" Betriebslizenzen in dem umstrittenen Gebiet an das staatliche Erdölunternehmen PdVSA zu erteilen.

Abstimmung in Venezuela: 96 Prozent Zustimmung?

Das kleine Land im Norden Südamerikas ist den meisten Menschen im Westen – wenn überhaupt – durch das Jonestown-Massaker 1978 bekannt. Damals ordnete der charismatische Sektenführer Jim Jones den Massensuizid seiner über 900 Anhängerinnen und Anhänger an. Guyana hat weniger als 800.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Esequibo-Region beherbergt rund 125.000 davon.

Vergangenen Sonntag rief Präsident Nicolás Maduro zur Wahl auf – eine Volksabstimmung sollte ermitteln, ob die Venezolanerinnen und Venezolaner seine Sicht der Dinge teilen.

Doch Maduro geht es nicht bloß um Rechthaberei: Er plant, Esequibo als eigenen Bundesstaat in Venezuela einzugliedern, als "Guyana-Esequiba". Der "Nationale Wahlrat" (CNE) zählte ungefähr 10,4 Millionen Stimmen aus – in der ersten Mitteilung des Wahlrats war noch von 10,5 Millionen Stimmen die Rede.

Dabei ist jedoch unklar, ob es sich um Gesamtstimmen oder mehrfach gezählte handelt. Denn das Referendum beinhaltete fünf verschiedene Fragen, zu denen jeweils separat abgestimmt wurde.

Darüber hinaus ist die Abstimmung nicht rechtlich bindend, hat keinerlei Auswirkung auf internationales Recht. Der CNE teilt rund 96 Prozent Zustimmung zu Präsident Maduros Vorhaben mit, sowie über 50 Prozent Wahlbeteiligung. Wahlergebnisse in Venezuela sind, angesichts der jüngeren Geschichte des Landes, stets mit Vorsicht zu betrachten.

Guyana sieht "Direkte Bedrohung"

Hierzu kommentiert die venezolanische Digitalzeitung Analítica mit bitterem Zynismus:

Nicht einmal die hartnäckigsten Chavisten glauben die Zahlen, die Elvis Amoroso [Leiter des Wahlrats, Anm. d. Red.] aus dem Hut gezaubert hat.

Guyana hingegen konnte nicht an der Abstimmung teilnehmen. Irfaan Ali, Guyanas Präsident, spricht hinsichtlich Maduros Vorgehen von einer "direkten Bedrohung" für seine Nation.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) mahnte Venezuela wenige Tage vor der Abstimmung dazu an, "jede Handlung zu unterlassen, die die gegenwärtige Lage in dem umstrittenen Gebiet ändern würde". Der UN-Gerichtshof wies Venezuela an, auf das finale Urteil zu warten. Doch das Maduro-Regime erkennt die Entscheidungskompetenz des IGH nicht an.

Koloniale Hintergründe und Europas Schuld

1811, als sich Venezuela von der spanischen Krone befreite, gehörte die Esequibo-Region noch zu Venezuela. Drei Jahre später jedoch kaufte England der Niederlande Territorien ab. Das sollte sich später als problematisch erweisen, denn zwischen Amsterdam und London wurde die Westgrenze nicht klar definiert. Also schickte die Königliche Geografische Gesellschaft Großbritanniens 1835 den deutschen Forschungsreisenden Robert Schomburgk los, um die Grenze zu Venezuela eindeutig zu ziehen.

Das junge, unabhängige Venezuela widersprach der Grenzziehung, die immer weiter nach Westen ausgedehnt wurde – vermutlich, weil damals große Goldvorkommen gefunden wurden.

Die USA schritten ein und brachte die Angelegenheit 1899 zusammen mit England vor ein internationales Schiedsgericht in Paris. Das entschied zugunsten von Guyana, das noch bis 1966 unter britischer Herrschaft stehen sollte.

Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass der Schiedsspruch ein Deal zwischen den Richtern und der englischen Regierung war. Der venezolanische Staat nahm seine Forderung nach Gebietsansprüchen wieder auf und erkannte die Entscheidung von 1899 nicht mehr an.

Wenige Monate vor der Unabhängigkeit Guyanas erkannte Großbritannien im Genfer Abkommen 1966 formell das Recht Venezuelas auf die Region an. Seitdem sollte eine diplomatische Lösung für den Konflikt gefunden werden – was bis heute nicht passiert ist.

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