Verbote auf Vorrat: Zeitenwende für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit?

Symbolbild: ki-generiert

Neuer Grundrechte-Report alarmiert: Sind Versammlungsverbote bald der Normalfall? Und inwieweit rutscht die "Mitte" nach rechts?

Der alljährliche Grundrechte-Report gilt als "alternativer Verfassungsschutzbericht", in dem nicht oppositionellen Gruppen, sondern den Mächtigen auf die Finger geschaut wird.

Herausgeben wird er von zehn Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, dieses Jahr bereits zum 28. Mal. In 44 Einzelbeiträgen werden Entscheidungen von Parlamenten, Gerichten und Behörden, aber auch von Privatfirmen im Jahr 2023 eingeordnet.

Zentrale Kritikpunkte betreffen nicht nur marginalisierte Gruppen – wie etwa die Aushöhlung des Asylrechts durch die GEAS-Reform – sondern auch engmaschig überwachte Lohnabhängige in Unternehmen wie Amazon und potenziell alle, die mit Entscheidungen von Regierenden oder Konzernen unzufrieden sind und einen Anlass für Proteste sehen.

Rollback: Moderne Auslegung von Versammlungsrecht war gestern

Der Berliner Juraprofessor Clemens Arzt stellt in seinem Beitrag eine "Zeitenwende für die Versammlungsfreiheit in Deutschland" fest – oder eigentlich zwei: Die erste fand demnach Mitte der 1980er-Jahre durch die "Brokdorf-Entscheidung" im Zuge der Anti-Atom-Proteste statt – damals habe "eine moderne Auslegung" von Artikel 8 des Grundgesetzes begonnen.

Im Umgang mit Demonstrationen gegen den jüngsten Gaza-Krieg nach dem Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 sieht der Rechtswissenschaftler einen Rückschritt.

Verbotspraxis: Von der Ausnahme zum Regelfall?

Trotz enger Voraussetzungen nach der "Brokdorf-Entscheidung" des Bundesverfassungsgerichts werde der Ausnahmefall des Versammlungsverbots immer mehr zum Regelfall. "Die Praxis einiger Versammlungsbehörden seit dem 7. Oktober 2023 kann nicht als "Sonderfall" angesehen werden", schreibt Arzt.

Schon seit den untersagten Corona-Protesten gebe es immer mehr "Vorrats-Verbote" durch Allgemeinverfügungen. 2023 habe diese Praxis auch die Klima-Initiative "Letzte Generation" getroffen.

Das präventive Verbot ("Totalverbot") ist das schärfste Schwert des Versammlungsrechts. Es verhindert die öffentliche Meinungskundgabe durch Versammlung von Anfang an und "eliminiert" damit die Grundrechtsgewährleistung aus Artikel 8 Absatz 1 GG: "Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln."

Prof. Dr. Clemens Arzt, Rechtswissenschaftler

Historischer Beschluss: Verbote nur als letztes Mittel

Versammlungsverbote könnten daher nur das letzte Mittel sein, wie das Bundesverfassungsgericht in der "Brokdorf-Entscheidung" festgestellt habe: Der Gesetzgeber darf demnach "die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen".

Gegen Planung und Bau des Atomkraftwerks Brokdorf hatten ab Mai 1976 Demonstrationen stattgefunden, bei denen es teilweise zu Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstrierenden kam. Zu einer Großdemonstration bei Brokdorf im Februar 1981 hatten sich trotz Verbot mehr als 50.000 Menschen versammelt und überwiegend friedlich gegen den Bau des Kernkraftwerks protestiert.

Das Bundesverfassungsgericht entschied erst im Mai 1985 über eine Verfassungsbeschwerde der Organisatoren gegen das Verbot.

Strafverfolgung und Präventivhaft statt Klimaschutz?

Der Strafverfolgung von aktuellen Umwelt- und Klimaprotesten der "Letzten Generation" ist ein eigener Beitrag gewidmet, der auch auf Unterlassungen beim Klimaschutz von Seiten der Bundesregierung eingeht. Ein weiterer befasst sich kritisch mit der Präventivhaft, die im vergangenen Jahr in Bayern gegen Mitglieder der Gruppe verhängt wurde.

"Die Anwendungspraxis zeigt: Präventivhaft dient derzeit vor allem als Mittel gegen Klimaproteste", schreibt Rechtsanwalt Benjamin Derin und erinnert daran, dass hier "Befugniserweiterungen mit Bildern von terroristischen Anschlägen verkauft" worden seien.

Die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs zur Ausweitung des polizeilichen Präventivgewahrsams beschreibt er als "grundsätzlichen Paradigmenwechsel im Sicherheitsrecht".

Die Warnung vor der autoritären Mitte

Als der aktuelle Grundrechte-Report am Mittwoch im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin vorgestellt wurde, war auch der ehemalige Bundesinnenminister Gerhard Baum zentral beteiligt. Er gilt als Vertreter des alten Bürgerrechtsflügels der FDP.

"Es ist ein gefährlicher Moment der Menschheitsgeschichte", sagte der 91-Jährige: Die Grundrechte seien nicht nur durch rechte Parteien in hohem Maße gefährdet, sondern deren Ideologie sickere auch immer weiter in die Mitte der Gesellschaft und ihre Institutionen ein. "Wir bleiben nur glaubwürdig, wenn wir selbstkritisch bleiben", sagte Baum auch mit Blick auf staatstragende Parteien.

Die Veranstaltung wurde auch per Livestream im Internet übertragen. Der Grundrechte-Report 2023 ist ab dem 29. Mai 2024 über den Buchhandel oder über die Internetseite der Humanistischen Union erhältlich.

Grundrechte-Report 2023 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland (FISCHER Taschenbuch Verlag). Herausgegeben von: Rolf Gössner, Rosemarie Will, Britta Rabe, Benjamin Derin, Wiebke Judith, Sarah Lincoln, Lea Welsch, Rebecca Militz, Max Putzer, Rainer Rehak. ISBN: 978-3-596-70882-6

Beteiligte Organisationen: Humanistische Union, Gustav Heinemann-Initiative, Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, Internationale Liga für Menschenrechte, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Neue Richtervereinigung, PRO ASYL, Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung, Gesellschaft für Freiheitsrechte.