Verkommt Plagiatsjagd zur politischen Waffe?

Seite 2: Wer stürzt eigentlich über Plagiate?

Die Kündigung der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot durch die Universität Bonn hat zu einem in solchen Fällen vorhersehbaren Ergebnis geführt: einem politischen Glaubenskrieg, in dem sich beide Lager schwere Vorwürfe machen. Fakten werden durch Anschuldigungen ersetzt, sachliche Argumente durch Diffamierungen.

Im Kern geht es darum: Guérot hat sich sowohl in der Corona-Pandemie als auch in der Debatte um den Ukraine-Krieg mit streitbaren Thesen zu Wort gemeldet. "Wer schweigt, stimmt zu", heißen ihre Buchtitel, oder: "Endspiel Europa". Daraus das Zitat:

Der russisch-ukrainische Krieg ist ein lang vorbereiteter amerikanischer Stellvertreterkrieg. Er ist eine Apotheose jahrzehntelanger amerikanischer Geostrategie, deren eigentliches Ziel die Verfestigung der amerikanischen Dominanz in Europa ist.

Ulrike Guérot

Ihr Noch-Arbeitgeber, die Uni Bonn, reagierte Ende Oktober 2022 mit einer verschwurbelten Erklärung, in der sie sich von "öffentlichen Äußerungen eines Mitglieds der Universität" distanzierte. Dort aber: Kein Name, keine inhaltliche Auseinandersetzung, deswegen verschwurbelt.

Und das ist bezeichnend für die zeitgenössischen ideologischen Grabenkämpfe, die einer inhaltlichen Auseinandersetzung konsequent aus dem Weg gehen und sie durch Etikettierungen ersetzen. Ist ja auch einfacher.

Oder die einen Umweg nehmen. Im Fall von Guérot führt dieser Umweg über die Kritik an mutmaßlichen Textkopien, die unter anderem der Wiener Plagiatsjäger und Telepolis-Autor Stefan Weber zu bestätigen können meint. Die Passagen finden sich in Büchern, die Guérot unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Arbeit veröffentlichte.

Ein schaler Beigeschmack bleibt. Nicht nur, weil die Uni Bonn eine inhaltliche Kontroverse auf skurrile Weise vermeidet, sondern auch, weil die politisch ausgerichteten Plagiatsvorwürfe ursprünglich von Markus Linden von der Universität Trier kommen. Der Politologe ist wissenschaftlich ein Leichtgewicht. In Erscheinung getreten ist er zuletzt durch Beiträge in der politischen Tagespresse und zumindest eine wissenschaftlich defizitäre Auftragsarbeit für die umstrittene Lobbyorganisation Zentrum Liberale Moderne.

Diese schwer übersehbaren politischen Interessen müssen thematisiert werden. Ebenso wie um den immer stärker eingehegten wissenschaftlichen Diskurs gestritten werden muss. Das vermeiden aber die politischen Gegner Guérots im wissenschaftlichen Apparat. Ein Teil ihrer Anhänger weist die Plagiatsnachweise indes pauschal zurück, etwa Weber finanzielle Interessen zu unterstellen.

Recht unverhohlen haben sich nach der Bekanntgabe der Kündigung Guérots politische Akteure jubelnd zu Wort gemeldet, etwa der Grünen-Politiker Volker Beck: "Sicher ist: Mit Ihrer schon fast antiwissenschaftlichen zu nennenden Art zu argumentieren, haben Sie dem Ansehen von Wissenschaft und Ihrer Universität schwer geschadet."

Dieses Zurechtbiegen muss man erst mal intellektuell erfassen, ohne dass einem der Kopf explodiert: Nicht "antiwissenschaftlich", sondern "schon fast antiwissenschaftlichen". Und alles nicht faktisch, sondern in so "zu nennender Art". Aber trotzdem alles Fakt. Wenn auch ohne jedes Beispiel oder Argument.

Ungeklärt ist auch die Frage, wer über Plagiate stürzt und wer nicht. Anatoly Stefanovich, Professor für Linguistik an der Freien Universität Berlin, hat der (noch) Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD), in deren Masterarbeit auf 26 Seiten 62 unwissenschaftliche Zitate nachgewiesen. Stefanovich sprach von einem "Flickenteppich aus Plagiaten".

Im Juni 2021 wurde Annalena Baerbocks Buch "Jetzt: Wie wir unser Land erneuern" veröffentlicht worden. Telepolis-Autor Stefan Weber wies wenig später auf eine Reihe plagiatsverdächtiger Stellen hin. Baerbock und die Grünen verteidigten die politkommerzielle PR-Arbeit zunächst. Der Vorwurf der Urheberrechtsverletzung sei aus der Luft gegriffen, so Partei und Ullstein-Verlag. In Baerbocks Buch fehlten allerdings Fußnoten und Quellenverzeichnis. Nach ein paar Wochen wurde das blamable Werk von Markt genommen, eine Korrektur erfolgte bis heute nicht.

Natürlich kann man jetzt sagen: Das sind Äpfel und Birnen. Hier Guérot, die Wissenschaftlerin, dort Giffey und Baerbock, die Politikerinnen. Aber so einfach ist das nicht. Denn zum einen artikuliert sich die Kritik an Guérot in erster Linie politisch. Und was sollte eine solche Unterscheidung zum anderen auch bedeuten? Wissenschaftler:innen werden, wenn sie sich politisch positionieren und ihnen Textklau nachgewiesen wird, gefeuert – Politiker:innen sieht man Diebstahl geistigen Eigentums aber nach? Schwierig.

Die Position von Telepolis ist klar. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Kündigung durch Guérot selbst hat bei uns der Medienwissenschaftler Stefan Weber über den Fall geschrieben. Am vergangenen Wochenende kam mit Johannes Schillo eine gegenteilige Position zu Wort. Guérot selber hatten wir hier interviewt und werden sie auch weiter zu Wort kommen lassen. Den Streit um die Kündigung der Uni Bonn werden wir weiter verfolgen.

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