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Verkommt Plagiatsjagd zur politischen Waffe?

Themen des Tages: Erfolg für chinesische Diplomatie. Konzertverbote in Frankfurt. Und wie Telepolis über die Uni-Kündigung Ulrike Guérots berichtet – und wie nicht.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Neuer Deals für Iran und Saudi-Arabien.

2. Kein Konzert von Roger Waters.

3. Und auf Seite 2 lesen Sie: Was an der Debatte über den Fall Ulrike Guérot falsch läuft.

Doch der Reihe nach.

China erreicht Iran-Saudi-Deal

Der chinesischen Diplomatie ist es nach Verhandlungen gelungen, Iran und Saudi-Arabien nicht nur an einen Tisch zu bringen, sondern auch einen Deal abzuschließen. Nach sieben Jahren Eiszeit wollen die beiden Länder nun ihre Beziehungen wieder normalisieren, berichtet heute Telepolis-Redakteur David Goeßmann [1]:

Und das ist auch dringend notwendig. Denn Saudi-Arabien und Iran führen seit 2014 einen blutigen Stellvertreterkrieg im Jemen. Mit der Unterstützung der USA hat die von den Saudis angeführte Koalition in dem Bürgerkrieg nach UN-Angaben rund 400.000 Menschen direkt oder indirekt getötet.

Frankfurt verbietet Konzert von Roger Waters

Am 24. Februar haben die Stadtverwaltung von Frankfurt am Main und die hessische Landesregierung die Absage des Frankfurter Konzerts von Roger Waters wegen dessen "anhaltenden israelfeindlichen Verhaltens" bekanntgegeben – und Waters einen Antisemiten genannt, schreibt heute bei Telepolis der indische Journalist Vijay Prashad.

Die Absage von Waters' Konzert ist eine Bedrohung der Meinungs- und Kunstfreiheit. Sie zielt darauf ab, legitime Kritik an der israelischen Regierung zum Schweigen zu bringen, die von der weltweiten Menschenrechtsgemeinschaft und innerhalb Israels geäußert wird.

Vijay Prashad

Ukraine will Russland umbenennen

Bald könnten die Russen in einem anderen Land aufwachen – jedenfalls aus ukrainischer Sicht, heißt es heute in einem Beitrag unseres Partnerportals Echo FM [2]. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jedenfalls hat seinen Regierungschef beauftragt, die Möglichkeiten der Umbenennung Russlands in Muskowy zu klären – die ukrainische Bezeichnung für das einstige Großfürstentum Moskau, oder eben auch: Moskowien.

Selenskyjs Auftrag geht auf eine Online-Petition auf seiner eigenen Webseite zurück, die 25.000 Unterschriften zusammenbrachte. Dort beruft man sich darauf, dass Russland seinen aktuellen Namen erst seit 300 Jahren trägt.

Wer stürzt eigentlich über Plagiate?

Die Kündigung der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot [3] durch die Universität Bonn hat zu einem in solchen Fällen vorhersehbaren Ergebnis geführt: einem politischen Glaubenskrieg, in dem sich beide Lager schwere Vorwürfe machen. Fakten werden durch Anschuldigungen ersetzt, sachliche Argumente durch Diffamierungen.

Im Kern geht es darum: Guérot hat sich sowohl in der Corona-Pandemie als auch in der Debatte um den Ukraine-Krieg mit streitbaren Thesen zu Wort gemeldet. "Wer schweigt, stimmt zu", heißen ihre Buchtitel, oder: "Endspiel Europa". Daraus das Zitat:

Der russisch-ukrainische Krieg ist ein lang vorbereiteter amerikanischer Stellvertreterkrieg. Er ist eine Apotheose jahrzehntelanger amerikanischer Geostrategie, deren eigentliches Ziel die Verfestigung der amerikanischen Dominanz in Europa ist.

Ulrike Guérot

Ihr Noch-Arbeitgeber, die Uni Bonn, reagierte Ende Oktober 2022 mit einer verschwurbelten Erklärung [4], in der sie sich von "öffentlichen Äußerungen eines Mitglieds der Universität" distanzierte. Dort aber: Kein Name, keine inhaltliche Auseinandersetzung, deswegen verschwurbelt.

Und das ist bezeichnend für die zeitgenössischen ideologischen Grabenkämpfe, die einer inhaltlichen Auseinandersetzung konsequent aus dem Weg gehen und sie durch Etikettierungen ersetzen. Ist ja auch einfacher.

Oder die einen Umweg nehmen. Im Fall von Guérot führt dieser Umweg über die Kritik an mutmaßlichen Textkopien, die unter anderem der Wiener Plagiatsjäger und Telepolis-Autor Stefan Weber zu bestätigen können meint. Die Passagen finden sich in Büchern, die Guérot unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Arbeit veröffentlichte.

Ein schaler Beigeschmack bleibt. Nicht nur, weil die Uni Bonn eine inhaltliche Kontroverse auf skurrile Weise vermeidet, sondern auch, weil die politisch ausgerichteten Plagiatsvorwürfe ursprünglich von Markus Linden von der Universität Trier kommen. Der Politologe ist wissenschaftlich ein Leichtgewicht. In Erscheinung getreten ist er zuletzt durch Beiträge in der politischen Tagespresse und zumindest eine wissenschaftlich defizitäre Auftragsarbeit [5] für die umstrittene Lobbyorganisation Zentrum Liberale Moderne [6].

Diese schwer übersehbaren politischen Interessen müssen thematisiert werden. Ebenso wie um den immer stärker eingehegten wissenschaftlichen Diskurs gestritten werden muss. Das vermeiden aber die politischen Gegner Guérots im wissenschaftlichen Apparat. Ein Teil ihrer Anhänger weist die Plagiatsnachweise indes pauschal zurück, etwa Weber finanzielle Interessen zu unterstellen.

Recht unverhohlen haben sich nach der Bekanntgabe der Kündigung Guérots politische Akteure jubelnd zu Wort gemeldet, etwa der Grünen-Politiker Volker Beck [7]: "Sicher ist: Mit Ihrer schon fast antiwissenschaftlichen zu nennenden Art zu argumentieren, haben Sie dem Ansehen von Wissenschaft und Ihrer Universität schwer geschadet."

Dieses Zurechtbiegen muss man erst mal intellektuell erfassen, ohne dass einem der Kopf explodiert: Nicht "antiwissenschaftlich", sondern "schon fast antiwissenschaftlichen". Und alles nicht faktisch, sondern in so "zu nennender Art". Aber trotzdem alles Fakt. Wenn auch ohne jedes Beispiel oder Argument.

Ungeklärt ist auch die Frage, wer über Plagiate stürzt und wer nicht. Anatoly Stefanovich, Professor für Linguistik an der Freien Universität Berlin, hat der (noch) Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD), in deren Masterarbeit auf 26 Seiten 62 unwissenschaftliche Zitate nachgewiesen. Stefanovich sprach von einem "Flickenteppich aus Plagiaten".

Im Juni 2021 wurde Annalena Baerbocks Buch "Jetzt: Wie wir unser Land erneuern" veröffentlicht worden. Telepolis-Autor Stefan Weber wies wenig später auf eine Reihe plagiatsverdächtiger Stellen hin. Baerbock und die Grünen verteidigten die politkommerzielle PR-Arbeit zunächst. Der Vorwurf der Urheberrechtsverletzung sei aus der Luft gegriffen, so Partei und Ullstein-Verlag. In Baerbocks Buch fehlten allerdings Fußnoten und Quellenverzeichnis. Nach ein paar Wochen wurde das blamable Werk von Markt genommen, eine Korrektur erfolgte bis heute nicht.

Natürlich kann man jetzt sagen: Das sind Äpfel und Birnen. Hier Guérot, die Wissenschaftlerin, dort Giffey und Baerbock, die Politikerinnen. Aber so einfach ist das nicht. Denn zum einen artikuliert sich die Kritik an Guérot in erster Linie politisch. Und was sollte eine solche Unterscheidung zum anderen auch bedeuten? Wissenschaftler:innen werden, wenn sie sich politisch positionieren und ihnen Textklau nachgewiesen wird, gefeuert – Politiker:innen sieht man Diebstahl geistigen Eigentums aber nach? Schwierig.

Die Position von Telepolis ist klar. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Kündigung durch Guérot selbst hat bei uns der Medienwissenschaftler Stefan Weber über den Fall geschrieben. Am vergangenen Wochenende kam mit Johannes Schillo eine gegenteilige Position zu Wort. Guérot selber hatten wir hier interviewt und werden sie auch weiter zu Wort kommen lassen. Den Streit um die Kündigung der Uni Bonn werden wir weiter verfolgen.

Artikel zum Thema:

Stefan Weber: Fall Guérot: Kündigung wegen Querdenkens oder Nichtdenkens? [8]
Johannes Schillo: Ulrike im Wunderland [9]
Harald Neuber: "Wichtig, dass Kritik wieder den breiten medialen Raum füllt" [10]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7544478

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Wie-ein-chinesischer-Deal-imperiale-Aengste-in-den-USA-ausloest-7543762.html
[2] https://www.telepolis.de/features/Heisst-Russland-demnaechst-Moskowien-7543240.html
[3] https://twitter.com/ulrikeguerot/status/1628968711335075840
[4] https://www.uni-bonn.de/de/neues/stellungnahme-zu-oeffentlichen-aeusserungen-eines-mitglieds-der-universitaet
[5] https://www.telepolis.de/features/Gegneranalyse-und-Zentrum-Liberale-Moderne-Die-Presse-als-Feind-7155940.html
[6] https://www.telepolis.de/features/Gegneranalyse-Zu-einer-Fallstudie-ueber-die-Nachdenkseiten-7152314.html
[7] https://twitter.com/Volker_Beck/status/1629023996225241088
[8] https://www.telepolis.de/features/Fall-Guerot-Kuendigung-wegen-Querdenkens-oder-Nichtdenkens-7527536.html
[9] https://www.telepolis.de/features/Ulrike-im-Wunderland-7539442.html?seite=all
[10] https://www.telepolis.de/features/Wichtig-dass-Kritik-wieder-den-breiten-medialen-Raum-fuellt-6542295.html