Verleugnete Neutralität: Das verdrehte Demokratie-Selbstverständnis der öffentlich-rechtlichen Sender
Wer darf rein und wer muss draußen bleiben? Wie ARD, ZDF und Deutschlandfunk die politische Landschaft präsentieren. Kommentar.
Wie lebendig halten die öffentlich-rechtlichen Sender die Demokratie? Der Programmauftrag verpflichtet die Sender zur größtmöglichen Neutralität. Das Ideal der demokratischen Öffentlichkeit lautet: Hört die Argumente, diskutiert, debattiert, räsoniert, bis ihr die besten Argumente für kollektiv bindende Entscheidungen findet.
Dass der Sättigungsgrad dieses Ideals unbefriedigt bleibt, ist an sich kein Grund zur Empörung. Man kann das als Ansporn nehmen, die Demokratie lebt von Sehnsüchten nach einem besseren, gerechterem Leben, das treibt sie an.
Was aber, wenn der demokratische Motor, der Unzufriedenheit mit politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen als wesentlichen Antrieb hat, an wichtigen Stellen gedrosselt wird?
Demokratie stumpft zu behaglicher Biederkeit ab
Dann wächst das Risiko, dass die Demokratie in behagliche Biederkeit abstumpft, weil ein irriges Verständnis von Demokratie zum Herzstück wird. Ein Beispiel: In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk am Tag nach der Europa-Wahl war von einer Spitzenpolitikerin der SPD zu hören, dass zwar ihre Partei auch, aber hauptsächlich die "Demokratie verloren habe".
Gewonnen hat die Wahl bekanntlich die konservative EVP, gefolgt vom sozialdemokratischen Bündnis S&D, Schlagzeilen machten die Gewinne der rechten Parteien, darauf bezieht sich wohl die Aussage.
Heißt das nun übersetzt, dass Wahlen nur dann demokratisch in Ordnung sind, wenn die richtigen gewählt werden, die politisch-korrekten Mehrheiten und die politisch-korrekten Minderheiten? Wobei die Beurteilung von "korrekt" stark davon abhängt, was etablierte Sprecher dazu meinen?
Dazu zählen nicht nur Politiker der traditionellen Parteien, sondern auch die öffentlich-rechtlichen Sender, ARD, ZDF und Deutschlandfunk.
Der Umgang mit der Opposition
Wer sich die Berichterstattung vor der Europawahl und die Nachberichte dazu angeschaut hat, selbst nur sporadisch, der oder dem mag, wie dem Autor, aufgefallen sein, dass die oppositionellen Parteien mit Suggestivfragen konfrontiert wurden, die einen anderen Umgang zeigen, als den, der mit Vertretern der etablierten Parteien Union, SPD, FDP, Grüne üblich ist.
So sahen sich Vertreter des Bündnisses Sahra Wagenknecht, das einen beachtlichen Wahlerfolg errang, auffallend häufig mit Fragen konfrontiert, die das linke Bündnis in die rechte Populistenecke manövrierten, in die Nähe zur AfD, wie das schon in der Vorberichterstattung herausgestellt wurde. Die Angesprochenen sollten sich da tunlichst wieder herauswinden: Beweislastumkehr.
Dass es Gemeinsamkeiten gibt, dafür sorgt das BWS allerdings auch selbst, wie etwa diese Tage durch das Fernbleiben bei der Rede des ukrainischen Wolodymyr Selenskyj vor dem Bundestag. Das machte auch die AfD. Die Gründe für das Fernbleiben sind ein allerdings eigenes Argumentationsfeld, das hier nicht behandelt werden soll, weil es um anderes geht.
Der Vorwurf der nicht-neutralen, regierungsnahen Berichterstattung über Oppositionsparteien, den man den öffentlich-rechtlichen Medien entgegenhalten muss, hat mit diesem Ereignis nur so viel zu tun, als es darum geht, wie stark Argumente in eine Debatte gebracht werden, die schon reichlich mit Affekten gesättigt ist.
Genauer gesagt geht es darum, wie sich die Gewichtung von Framing, Platzanweisung und Argumentation in der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien in der Praxis, etwa in den Interviews mit Vertretern des linken Bündnisses und der rechtsnationalen-völkischen AfD zeigt. Da wäre noch Luft nach oben, wie das bei Sport-Reportern heißt. Für Argumentationen.
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Neutralität und politische Minderheiten
Stattdessen verstärkt sich der Eindruck, dass es weniger um Debatte, statt um Labels geht. "Populisten", "antidemokratisch", "systemfeindlich".
Das ist eine Zuordnung, die ihre Gründe beanspruchen kann, die man aber benennen muss und in der Berichterstattung wie auch in Interviews konkret belegen, ansonsten verbreitet man eine Auffassung von Demokratie als bloße Attitüde, die nur mit den richtigen Fahnen herumlaufen muss, um in der Debatte für voll genommen zu werden.
Zur lebendigen Demokratie gehören die Rechte von Minderheiten, also auch der oppositionellen Parteien. Das demokratische Selbstverständnis der Öffentlich-Rechtlichen, ist, wenn es um politische Akteure geht, die nicht an der Macht sind, ein verdrehtes.
Der Kontrollkonsens
Man bietet eine breite Berichterstattung zu Positionen der Regierungsparteien, wenn es aber um Minderheiten in der oppositionellen Parteienlandschaft geht, so agiert man als Kontrolleur, der zum Ausschluss über Etikettierungen und Framing neigt.
Kontrolliert wird, wer wie an der öffentlichen Debatte mitmachen darf, wer den Umgang mit den öffentlich-rechtlichen Sendern verdient.
Die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger ist dafür nicht die erste Richtschnur, was sich allein schon daran zeigt, dass sich man jedes Mal schockiert und überrascht gibt, wenn rechte völkische Parteien oder "linke Populisten" Wählerstimmen bekommen, die sie aus Sicht der Demokratieschützer nicht bekommen sollten.
Streituntüchtig
Sie müssen das Streiten wieder lernen, kommentierte kürzlich Heribert Prantl in der SZ den Niedergang der Grünen. In der deutschen politischen Kultur wird Streiten stets mit Diskutieren gleichgesetzt. Vielleicht kommt die Scheu vor Debatten, die ans Eingemacht gehen, daher. Diskutieren von konträren Positionen, statt ausschließen, wär schon mal ein guter Anfang, nicht nur im Lehrerzimmer der Grünen.
Was haben die öffentlich-rechtlichen Sender aus der Corona-Zeit gelernt? Wer damals als Spinner und abgedrehter Demokratiefeind abgestempelt und ins Debattenaus geschickt wurde, hat im Nachhinein, wie man jetzt erfährt, nicht zuletzt über die Veröffentlichung der RKI-Files, mit dem Vorwurf einer politisch-eskalierten Beschneidung von Grundrechten Argumente bekommen, die diesen Vorwurf bestärken.