Vernichtendes Zeugnis der Regierung: Bürger mit Defiziten
Mit dem Demokratiefördergesetz soll die Zivilgesellschaft zum Bollwerk gegen Extremismus werden. Es ist jedoch ein Angriff auf die Bürger, die Meinungsfreiheit und die Demokratie. Ein Gastbeitrag.
Mit dem geplanten Demokratiefördergesetz stellt die Bundesregierung den Bürgern ein vernichtendes Zeugnis aus. Die Zivilgesellschaft in Deutschland sei derzeit nicht das "Bollwerk gegen fremdenfeindliche und rassistische Umtriebe", das sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) so sehr wünschen.
"Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Islam- und Muslimfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit und Extremismen wie Rechtsextremismus, islamischer Extremismus, Linksextremismus sowie Hass und Hetze" seien immer größer werdende Probleme, so der Regierungsentwurf.
Zudem nähmen "die Verbreitung von Verschwörungsideologien, Desinformation und Wissenschaftsleugnung […], aber auch Hass und Hetze im Internet sowie multiple Diskriminierungen und Bedrohungen immer weiter zu".
Das Problem sind die Bürger?
Mit dem Demokratiefördergesetz macht die Bundesregierung allzu deutlich, dass sie den Bürgern nicht zutraut, diesen Entwicklungen selbst entgegenzutreten.
Ganz im Gegenteil sei das noch vor geraumer Zeit funktionierende "Modell einer offenen, pluralistischen und vielfältigen Gesellschaft" in den vergangenen Jahren "zunehmend unter Druck geraten".
Im Regierungsentwurf wird an keiner einzigen Stelle gezeigt, dass die adressierten "demokratie- und menschenfeindlichen Phänomene" tatsächlich zugenommen haben, noch wird eine Erklärung dafür geliefert, woran das liegen könnte.
Stattdessen wird postuliert, dass eine Situation entstanden sei, "die eine zunehmende Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt" darstelle.
So steht schließlich der schlimme Verdacht im Raum, dass die Bürger nicht nur zu passiv sind, um der gesellschaftlichen Entwicklung eine positive Richtung zu geben, sondern dass sie selbst – oder zumindest ein relevanter Teil von ihnen – zu einem Problem für die Demokratie geworden sind.
Sind die Bürger anfälliger geworden für demokratie- und menschenfeindliche Auffassungen, so dass, wie im Gesetzentwurf konstatiert, "sich [eine] in Teilen der Gesellschaft verfestigende demokratiefeindliche und gegenüber staatlichen Institutionen ablehnende Haltung erkennen lässt"?
Sind viele Bürger selbst zu Hassern, Hetzern, Leugnern oder gar zu Vertretern der "unterschiedlichen Formen des Extremismus" geworden, sodass sich das gesellschaftliche Klima in die von der Bundesregierung beschriebene negative Richtung entwickeln konnte?
Da es vermutlich weder Aliens noch Agenten fremder Länder waren, die verantwortlich gemacht werden können, liegt das Problem auf der Hand: Die Bürger sind schuld!
Um einer fortgesetzten Erosion der Demokratie vorzubeugen und um den Trend umzukehren, setzt das Demokratiefördergesetz daher beim Bürger an. Die im Gesetz problematisierten Einstellungen seien inzwischen "leider auch in der Mitte der Gesellschaft" vorzufinden.
Mithilfe staatlicher und staatlich geförderter zivilgesellschaftlichen Initiativen sollen die vermeintlich bestehenden Defizite der Bürger durch politische Bildung und Teilhabe behoben werden. Zudem sollen sie widerstandsfähiger gegenüber demokratiefeindlichen Auffassungen werden.
Verstärkte Prävention
Es gehe darum, dass sich insbesondere die "in der Mitte der Gesellschaft" vorhandene "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", also Einstellungen wie "Rassismus, Sexismus" oder etwa die "Abwertung von Menschen mit Behinderung und die Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen", nicht noch "weiter verbreite".
Andererseits sollen die zivilgesellschaftlichen Initiativen so enorm gestärkt werden, dass "demokratie- und menschenfeindliche Phänomene" möglichst aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden. Mit verstärkter "Prävention" sollen die Bürger schädlichen Einflüssen wie beispielsweise "Diffamierungskampagnen und Falschinformation" nicht weiterhin ausgesetzt werden, so Faeser.
Annahmen über die Disposition der Bürger
Das Demokratiefördergesetz basiert auf der Annahme einer geistigen und moralischen Schwäche einfacher Bürger und ihrer politischen Verführbarkeit. Das gesamte Vorhaben der Demokratieförderung speist sich aus der Einschätzung, dass die große Masse der Wähler weder über die intellektuelle Reife verfügt noch moralisch hinreichend gefestigt ist, um etwa Desinformation nicht auf den Leim zu gehen oder sich von Extremisten nicht verleiten zu lassen.
Die Bürger selbst gelten als Nährboden für die problematisierten Auffassungen, indem sie sich von dumpfen Parolen beeinflussen und verführen lassen.
Die Fähigkeit zur Bildung einer unabhängigen Meinung wird ihnen in einem Umfeld von Hass und Hetze, Desinformation und sich ausbreitender Filterblasen kaum zugetraut. So machte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache 2018 die Bürger sogar für die Entstehung von Echokammern und die voranschreitende Spaltung der Gesellschaft verantwortlich, indem er behauptete:
Immer mehr Menschen ziehen sich zurück unter ihresgleichen, zurück in die eigene Blase, wo alle immer einer Meinung sind – auch einer Meinung darüber, wer nicht dazugehört.
Frank-Walter Steinmeier
Noch klarer drückte sich sein Vorgänger im Präsidentenamt, Joachim Gauck aus, der sich kurz vor der Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit besorgt über die Demokratie äußerte und behauptete:
Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.
Demokratie von oben
Im Bestreben, die Bürger vor 'demokratiegefährdenden' Ansichten bestmöglich abzuschirmen, lanciert das Demokratiefördergesetz eine heftige Attacke auf die Meinungsfreiheit.
Im Gesetzentwurf wird deutlich, dass es der Bundesregierung in erster Linie darum geht, Auffassungen und Meinungen abzuwehren, die etwa als rassistisch, extremistisch, leugnend, hassend oder hetzend gelten. Das wird jedoch verklausuliert, indem pauschalisierend von der Bekämpfung "demokratie- und menschenfeindlicher Phänomene" die Rede ist.
Mit dem Demokratiefördergesetz ist ein tiefer Eingriff in die Meinungsfreiheit geplant, denn es zielt darauf ab, Meinungen zu bekämpfen, die nicht in den Bereich von Straftaten fallen. Die Verbreitung rechtswidriger Inhalte wie zum Beispiel Volksverhetzung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten oder sogar tätliche Angriffe sind nämlich nicht Gegenstand des Demokratiefördergesetzes.
Diese strafrechtlich relevanten Äußerungen und Taten werden üblicherweise in erster Linie von staatlichen Organen verfolgt, geahndet und bestenfalls von diesen vereitelt.
Die demokratiefördernden Ambitionen der Bundesregierung liegen vielmehr darin, gewissermaßen das zivilgesellschaftliche Vorfeld zu bearbeiten. Bürger sollen durch Aufklärung resilienter werden und von gefährlichen Meinungen ferngehalten werden.
Schutz und Risiko: Meinungsfreiheit
Und hier liegt das zentrale Problem: Mit dem neuen Gesetz geht es ausschließlich um die Bekämpfung von Meinungen und Auffassungen, die unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Relevanz liegen und die aus gutem Grund vom Grundgesetz geschützt sind. Der grundgesetzliche Schutz der freien Meinungsäußerung wird durch das Demokratiefördergesetz, wie bereits seit 2017 durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), massiv untergraben.
Das deutsche Grundgesetz schützt, trotz einer Vielzahl von Einschränkungen, formal das Recht, eine Meinung frei und ungehindert zu äußern. Meinung gilt dabei als Aussage, der "ein Element der Stellungnahme" und "des Dafürhaltens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung" innewohnt, also ein subjektives Werturteil im Sinne von Stellungnahmen, Beurteilungen, Wertungen oder Auffassungen.
Auch Meinungen, die der verfassungsmäßigen Ordnung zuwiderlaufen, werden durch die Meinungsfreiheit geschützt. Der Schutz der Meinungsfreiheit betrifft also auch Werturteile, die "extremistisch, rassistisch, antisemitisch oder in anderer Weise rechtswidrig oder menschenverachtend sind".
Die so definierte Meinungsfreiheit steht mit dem Demokratiefördergesetz zur Disposition, denn es zielt explizit auf die Verdrängung aller Phänomene, die als demokratie- oder menschenfeindlich eingestuft werden können. So wird staatlichen und als förderungswürdig erachteten zivilgesellschaftlichen Initiativen die Rolle eines Lautsprechers zugedacht.
Indem sie "die Stärkung und Förderung demokratischer Werte, demokratischer Kultur [und] demokratischen Bewusstseins" übernehmen, sollen "Hass und Hetze" weitestmöglich aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden.
So soll eine Zivilgesellschaft geschaffen werden, die regierungsfreundliche Meinungen und Haltungen vertritt und auf die sich Medien und Politik wiederum beziehen und referenzieren können.
Das Ergebnis ist eine staatlich sanktionierte Meinungsblase, die die öffentliche Meinung immer stärker prägt und dominiert. Für schädlich gehaltene Auffassungen werden aus dem öffentlichen Raum verdrängt und an dessen Ränder verbannt.
Der suspekt gewordene Bürger wird schleichend seines demokratischen Einflusses beraubt, indem das institutionelle Gefüge der wehrhaften Demokratie immer weiter in den öffentlichen Raum hinein ausgebaut wird.
Mutige und tolerante Bürger
In einer fatalen Umkehrung des demokratischen Prinzips beabsichtigt die Bundesregierung mit dem Demokratiefördergesetz nicht etwa, den Einfluss der Bürger auf den gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess durch Förderung der öffentlichen Debatte und Kontroverse zu stärken, sondern ihn zu behindern.
Mit der Etikettierung Andersdenkender als demokratie- und menschenfeindlich macht sie sich und die gesamte Öffentlichkeit im besten Fall zu Sklaven ihrer eigenen Meinung, da sie Anderen das Recht vorenthält, sich zu äußern. Im schlimmsten Fall geht es darum, oppositionelle Meinungen zu unterdrücken.
Ganz anders als die Regierungskoalition ermunterten die Philosophen der Aufklärung die Menschen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Fehlender Mut zum Selbstdenken, also mangelndes Vertrauen in die eigene Vernunft, so Immanuel Kant, führe in die Unmündigkeit. "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung", schrieb er 1784.
Frei zu denken erfordert auch, zu sagen und zu schreiben, was man selbst für richtig hält. Und es geht darum, die eigene Meinung auf die Probe zu stellen, indem Andere die Möglichkeit erhalten, die eigenen Auffassungen zu hören, zu prüfen und zu kritisieren.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet wird die Wahrheit durch unabhängiges Denken der Bürger entdeckt, die in offenen Debatten voneinander lernen. Die leichtfertige Ächtung und Unterdrückung unliebsamer Auffassungen behindert die unabhängige Meinungsbildung aller Bürger.
Meinungsfreiheit erfordert ein Höchstmaß an Toleranz. In diesem Sinn bedeutet Toleranz, jedwede politische Auffassung zuzulassen, auch wenn sie den eigenen Vorstellungen oder den vorherrschenden gesellschaftlichen Moral- und Wertmaßstäben widerspricht. Auch wenn sie einen abstößt und anwidert.
Toleranz bedeutet jedoch nicht, diese Auffassungen mit respektvoller Gleichgültigkeit hinzunehmen, gar zu akzeptieren, sondern sie schließt die Möglichkeit oder gar Pflicht ein, durch eigene Meinungsäußerung den als falsch empfunden Vorstellungen entgegenzutreten. Toleranz ohne Widerspruch ist Gleichgültigkeit.
Indem wir Toleranz üben, ermöglichen wir, dass auch solche Meinungen sicht- und hörbar werden, die wir ablehnen. Die freie Artikulation ist sogar ausdrücklich zu begrüßen, denn nur dann können andere Idee und Argumentation verstehen, dieser zustimmen oder sie ablehnen, um sie dann selbst einer öffentlichen Kritik zu unterziehen.
Das verlangt uns mehr ab als der einfache Weg der Diffamierung oder Unterdrückung durch Verbote. Aber es ist unabdingbar für mehr Meinungsfreiheit und Demokratie.
Mehr von Alexander Horn lesen Sie in den aktuellen Büchern Sag was du denkst! – Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture" und "Experimente statt Experten – Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie".