"Vernichtungszonen" in Gaza? Südafrika erhebt vor UN-Gericht neue Vorwürfe gegen Israel
"Extrem verschlechterte" Lage in Gaza: Südafrika fordert Internationalen Gerichtshof zum Eingreifen auf. Israel müsse Rafah-Offensive stoppen und Hilfe ermöglichen.
Weitgehend ignoriert von Politik und Medien in Deutschland wird am Internationalen Gerichtshof in Den Haag ein Eilantrag Südafrikas zum Stopp der israelischen Militäroffensive in Rafah im Gaza-Streifen verhandelt.
Das höchste UN-Gericht müsse den andauernden Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung stoppen, forderte Südafrikas Rechtsvertreter, der britische Völkerrechtler Vaughan Lowe, in der Anhörung. Das Vorgehen Israels in Rafah sei "Teil des Endspiels" und "der letzte Schritt zur Zerstörung von Gaza und des palästinensischen Volkes".
In der zehn Seiten umfassenden juristischen Eingabe fordert Südafrika den sofortigen Rückzug der israelischen Armee aus dem Süden des Gaza-Streifens und den ungehinderten Zugang von humanitärer Hilfe.
Auch der ungehinderte Zugang von Vertretern der Vereinten Nationen und anderen Personen, die humanitäre Hilfe und Unterstützung für die Bevölkerung im Gaza-Streifen leisten, sei notwendig. Erforderlich sei auch der Zugang von Untersuchungskommissionen, international mandatierten Gremien oder Beamten, Ermittlern und Journalisten nach Gaza. Nur so könnten die Zustände vor Ort ausreichend beurteilt und dokumentiert werden.
Südafrika sieht "extrem verschlechterte" Lage
Die Forderung nach zusätzlichen Dringlichkeitsmaßnahmen im Völkermord-Verfahren gegen Israel begründet Südafrika mit der "extrem verschlechterten" Lage der palästinensischen Bevölkerung in den vergangenen Wochen.
Die Regierung in Pretoria wirft Israel vor, vorsätzlich die bisherigen Anordnungen des Internationalen Gerichtshofes vom 26. Januar und 28. März zu brechen. Das militärische Vorgehen liefere "massive und weiter zunehmende Beweise für Israels völkermörderische Absicht".
Die Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten sei letzter Zufluchtsort für 1,5 Millionen Palästinenser, die meisten von ihnen Vertriebene. Israels Militäroffensive dort sei eine "Eskalation" und "der finale Schlag, der die Gruppe der Palästinenser in Gaza vernichten soll". Bei einem Nichteingreifen schwinde die Möglichkeit, mit den Überlebenden des Krieges einen palästinensischen Staat aufzubauen.
Südafrika: Evakuierungszonen als "Vernichtungszonen" behandelt
Israel habe durch die Übernahme der Kontrolle über die Grenzübergänge Rafah und Kerem Schalom (Karem Abu Salem) nun direkte, vollständige Kontrolle über Ein- und Ausreisen im Gaza-Streifen. Man habe den Küstenstreifen von allen humanitären und medizinischen Hilfsgütern, Waren und Treibstoffen abgeschnitten, von denen das Überleben der Bevölkerung abhänge, und verhindere medizinische Evakuierungen.
Die Gefahr für die in Rafah verbliebenen Palästinenser sei "besonders groß". Viele, darunter auch zahlreiche palästinensische Kinder, seien bereits getötet oder verletzt worden. "Kürzlich veröffentlichte Aussagen israelischer Soldaten, die im Gaza-Streifen gedient haben, besagen, dass israelische Soldaten Evakuierungszonen als Vernichtungszonen' (zones of extermination) behandeln, in denen alle verbliebenen Palästinenser als legitime Ziele betrachtet werden", heißt es unter Berufung auf israelische Medienberichte weiter.
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"Videos, die von israelischen Soldaten in sozialen Medien gepostet wurden, zeigen, wie sie direkt auf Gebiete schießen, in denen Zelte von vertriebenen Palästinensern aufgestellt sind", mahnt Südafrika. Dazu kämen massive Zerstörungen und bei Krankenhäusern im Gaza-Streifen gefundene Massengräber.
Israel stütze sich bei der Auswahl seiner Ziele und "Tötungslisten" zudem in hohem Maße auf Künstliche Intelligenz … All dies stelle das schwerwiegendste und dringendste Risiko irreparabler Beeinträchtigungen der Rechte der in diesem Fall Betroffenen dar und erfordere "dringendes Eingreifen und Untersuchung" durch den Internationalen Gerichtshof.
"Die Notwendigkeit des sofortigen Einstellens der Militäroperationen im gesamten Gaza-Streifen könnte nicht offensichtlicher sein und wird wiederholt von Staaten, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und internationalen Organisationen bekräftigt", erinnert Südafrika, dessen Einsatz von den Ländern des Globalen Südens große Unterstützung erfährt.
Israel: "Falsche Behauptungen von Hamas-Quellen"
Israel weist die Feststellungen Südafrikas unisono als "voreingenommene und falsche Behauptungen" zurück, behauptet seinerseits, diese würden "auf unzuverlässigen Hamas-Quellen beruhen" – die gut dokumentiere, breite Quellenlage im IGH-Schriftsatz unter den Tisch kehrend.
Das israelische Außenministerium behauptet kurz, man handle "im Einklang mit dem Völkerrecht und seinen humanitären Verpflichtungen". Das Land ergreife "Maßnahmen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen zu minimieren". Israels Außenamt fordert den Weltgerichtshof auf, "die Anrufung Südafrikas zurückzuweisen und dem Missbrauch des Gerichtshofes ein Ende zu setzen".
Der israelische Vertreter Gilad Noam bezeichnete die Vorwürfe als "Verdrehung der Tatsachen" und warf Südafrika vor, das internationale Recht "auf abscheuliche und zynische Weise" zu missbrauchen.
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Noam betonte, Israel unternehme mehr zum Schutz palästinensischer Zivilisten als die "völkermörderische Terrororganisation Hamas", die ihre eigenen Bürger als "menschliche Schutzschilde" missbrauche. Südafrika präsentiere dem Gericht bereits zum vierten Mal ein Bild, das "völlig von den Tatsachen und Umständen losgelöst" sei, so der israelische Vertreter.
Der von Südafrika geforderte vollständige israelische Truppenabzug aus dem gesamten Gaza-Streifen hätte laut Noam zur Folge, dass sich Israel nicht mehr gegen die anhaltenden Angriffe der Hamas verteidigen könnte. Die palästinensische Terrormiliz habe von ihrem "Vernichtungswillen gegenüber Israel" nicht abgelassen und die Stadt Rafah sei inzwischen zum "Brennpunkt der Terroraktivitäten" geworden, führte er aus.
Baerbock: "Verhindern, dass Israel sich selbst verliert"
Die jüngste Erklärung aus dem Grünen-geführten Auswärtigen Amt wiederum klingt reichlich bemüht. "Ich bin zutiefst besorgt über das aktuelle Vorgehen der israelischen Armee in Rafah", lässt Außenministerin Annalena Baerbock mitteilen.
Die Menschen dort wüssten weder ein noch aus und hätten keine sicheren Orte mehr, an die sie fliehen könnten. Der Schutz der Zivilbevölkerung müsse aber "höchste Priorität" haben. Das sei im Moment nicht zu erkennen. Baerbock weiter:
Das ist nicht nur fatal für die Menschen in Gaza, sondern auch für die Sicherheit Israels. Unsere Staatsräson bedeutet, für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen. Sie bedeutet auch, alles dafür zu tun, dass sich Israel in diesem Krieg nicht selbst verliert.