Verpflichtet zum Faktencheck: Der DSA zeigt Zähne
Europäisches Parlament Plenartagung 07.02.2025 "Bekämpfung von Hassreden und Desinformation". Bild: Fred Marvaux © European Union 2024
Hassrede bis Desinformation: EU-Kommission überführt ehemals freiwillige Codices in geltendes Recht. Wie viel politischen Einfluss übt die EU wirklich auf die Meinungsäußerung aus?
"Angst vor dem eigenen Volk"? Wie Telepolis berichtete, quittierten die Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz die Rede des US-Vizepräsidenten zur Meinungsfreiheit innerhalb der Europäischen Union mit großer Empörung.
Seine Anschuldigung suchte J.D. Vance auch anhand des umstrittenen Umgangs mit mutmaßlicher Desinformation im Zuge der rumänischen Präsidentschaftswahlen zu bekräftigen.
DSA: Streit zwischen Plattform X und NGOs
Dass dieser Umgang eine immer entscheidendere Rolle in der Debatte spielt, zeigte zuletzt auch die Anfechtung eines Urteils des Landesgerichts Berlin durch die Plattform X, wonach diese einen umfassenden Zugriff auf alle öffentlich verfügbaren Daten erlauben müsse, um einer Wahlmanipulation vorzubeugen.
Zuvor hatten die NGOs Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und Democracy Reporting International (DRI) unter Berufung auf den Digital Services Act (DSA) der EU erfolgreich geklagt.
Beide Organisationen wurden seitdem für ihren Empfang staatlicher Zuwendungen kritisiert. Wie der öffentliche Account der Plattform X mitteilte, sei der zuständige Richter am Landesgericht infolge eines Eilantrags aufgrund seiner mutmaßlichen Befangenheit als Sympathisant der GFF von dem Verfahren abgezogen worden.
Wellen geschlagen hatte im Zusammenhang mit dem DSA auch ein Beitrag des US-Senders CBS in der Sendung "60 Minutes", der deutsche Ermittler bei ihrem strafrechtlichen Vorgehen gegen Hassrede im Internet begleitete.
Belebt wird die Debatte um den politischen Einfluss der Europäischen Union auf die Meinungsfreiheit des DSA aber auch durch zwei brisante Meldungen, die in den vergangenen Wochen wenig Beachtung fanden.
Sie betreffen die Überführung der einst freiwilligen Verhaltensrichtlinien für große Online-Plattformen (VLOPs) in bindendes Recht unter dem umstrittenen EU-Gesetz.
Von Hassrede zur Desinformation
So vermeldete die EU-Kommission am 20. Januar, dass der bis dato freiwillige "Verhaltenskodex zur Bekämpfung illegaler Hetze im Internet +" in den Rechtsrahmen des Gesetzes über digitale Dienste (DSA) integriert wird.
Demzufolge verpflichten sich die Unterzeichner – darunter unter anderem Facebook, TikTok und die Google-Videoplattform YouTube – Maßnahmen gegen die Verbreitung rassistischer und xenophober Inhalte zu ergreifen.
Die Kommission und der Europäische Rat für Digitale Dienste empfehlen den Plattformen dabei, umfassende Datensätze bereitzustellen, um eine Überwachung des Verhaltenskodex’ im Rahmen einer "jährlichen unabhängigen Prüfung" zu gewährleisten.
Bei Verstößen der VLOPs gegen den DSA behält sich die Kommission das Recht vor, Verfahren einzuleiten, die in empfindlichen Geldstrafen münden können.
Wie von Telepolis im Zuge der vorgeblichen Aufkündigung des Desinformations-Verhaltenskodex’ durch Meta und Google – und deren Absage an die Zusammenarbeit mit institutionalisierten Faktencheckern – beschrieben, markiert die im DSA vorgesehene Risikominderungspflicht (Artikel 35) die Stellschraube für diesen weitreichenden Eingriff in die Informations- bzw. Kommunikationspolitik der Online-Plattformen.
Verhaltenskodex wird in geltendes Recht überführt
Am 13. Februar schließlich gab die EU-Kommission bekannt, auch den betreffenden "Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation" zum 1. Juli in geltendes DSA-Recht zu überführen. Aus dem einstigen "Code of Practice" wird demzufolge ein strenger benannter "Code of Conduct".
Das Online-Portal Reclaim The Net hatte bereits am 3. Februar einen Bericht über den Schritt veröffentlicht, welcher insbesondere mit Blick auf die Bundestagswahlen vollzogen worden sein soll, diesem allerdings keine überprüfbaren Quellen beigefügt.
Telepolis hatte in den beiden oben genannten Artikeln bereits über die vorgesehenen Maßnahmen berichtet. Die Kommission stellt sie in einer Übersicht noch einmal zusammen:
• Demonetisierung [sic]: Verringerung der finanziellen Anreize für die Verbreiter von Desinformationen;
Aus der Pressemitteilung der EU-Kommission
• Transparenz der politischen Werbung: effizientere Kennzeichnung, damit die Nutzer politische Werbung erkennen können;
• Sicherstellung der Integrität von Diensten: Verringerung von Fake-Accounts, Bot-gesteuerter Verstärkung, böswilligen Deep Fakes und anderen manipulativen Verhaltensweisen, die zur Verbreitung von Desinformationen eingesetzt werden;
• Stärkung von Nutzern, Forschern und der Gemeinschaft der Faktenprüfer: bessere Instrumente für Nutzer zur Erkennung von Desinformation, breiterer Zugang zu Daten, EU-weite Berichterstattung über Faktenprüfung.
Der letztgenannte Punkt hatte sich in der Debatte um politische Einflussnahme als zentral herauskristallisiert. Wir werden später noch auf ihn zu sprechen kommen.
Weiter stellt die EU-Kommission die rasche Umsetzung des sogenannten Rapid Response System (RSS) als wesentlich heraus, "das alle nationalen Wahlen und Krisen abdeckt". Zur Definition des RSS heißt es in besagter Pressemitteilung:
Das Rapid Response System des Kodex hat sich insbesondere während der Europawahlen als sehr wirksames Instrument erwiesen und ermöglicht es "Organisationen der Zivilgesellschaft, Faktenprüfern und Online-Plattformen", bei zeitkritischen Inhalten, die sie als Bedrohung für die Integrität des Wahlprozesses ansehen, zusammenzuarbeiten.
Aus der Pressemitteilung der EU-Kommission
Bilanz des DSA: Verfahren gegen X, TikTok und chinesische Plattformen
Auf eine kleine Anfrage der Unionsfraktion hin lieferte das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) im vergangenen Dezember eine Reihe von Bezugsgrößen zur aktuellen Umsetzung des DSA innerhalb Deutschlands.
Demnach seien bis dato 700 Meldungen der sogenannten Trusted Flagger eingegangen, den umstrittenen Drittparteien, die befugt sind, die Einhaltung der DSA-Bestimmungen zu überwachen.
Der Großteil aller an das Bundeskriminalamt gemeldeten Verstöße gegen den DSA entstammen wenig bekannten Chat-Plattformen wie "knuddels", "Deutscher-Chat" und solchen des Fediverse-Anbieters Hetzner Online. Gesondert führt das BMDV 240.000 Meldungen wegen sexueller Gewalt gegen Minderjährige in seiner Aufstellung an.
Teil der Umsetzung des DSA sind weiterhin auch Verfahren gegen die Plattform X (Verfahrenseröffnung am 18. Dezember 2023), TikTok (Verfahrenseröffnung am 19. Februar 2024) sowie den chinesischen Online-Plattformen AliExpress (Verfahrenseröffnung am 14. März 2024), Temu und Shein.
Unabhängigkeit? Debatte um Meinungsfreiheit und staatlich geförderte Meldeportale
Von Bedeutung für die nachgezeichnete Debatte um die Meinungsfreiheit sind die Aussagen des BMDV, wonach das in die Kritik geratene Meldeportal "REspect!" trotz dessen Förderung durch das Land Baden-Württemberg als unabhängige Einrichtung angesehen wird.
Zur Erklärung heißt es in der Antwort, dass die Unabhängigkeit "von jeglichen Anbietern von Online-Plattformen" gegeben sei und die Tätigkeit als vertrauenswürdiger Hinweisgeber "unabhängig von der Finanzierung der Einrichtung" erfolge.
Auch im Falle des kommissarisch vom Präsident der Bundesnetzagentur Klaus Müller (ehem. Grüne) bekleideten Amts des Digital Services Coordinator (DSC) sieht das BMDV "kein(en) Widerspruch zu europarechtlichen Vorgaben". Eine von der Unionsfraktion zur Sprache gebrachte Weisungsgebundenheit – etwa gegenüber dem (nicht genannten, aber antwortenden) BMDV – sei ferner nicht gegeben.
Wie Telepolis in den oben genannten Artikeln berichtete, fokussiert auch die Bestimmung der Unabhängigkeit von Faktencheckern innerhalb des DSA in erster Linie auf Verbindungen zu "parteilichen Institutionen", offenbar ungeachtet staatlicher Förderungen oder sonstiger Formen der Regierungsnähe.
Dieses potenzielle Missverhältnis in der Unabhängigkeits-Gewichtung tritt auch bei den Organisationen zutage, mit denen die Bundesregierung im Rahmen der Durchsetzung des DSA zusammenarbeitet.
Staatlich geförderte NGOs und public-private partnerships
So zählen zu den NGOs, mit denen die Bundesregierung im Rahmen des DSA im Austausch steht, unter anderen die aktivistisch ausgerichtete Amadeu Antonio Stiftung, welche allein 2022 von Bundesregierung mit einer institutionellen Förderung in Höhe von rund 2,2 Millionen bedacht wurde und darüber hinaus im Rahmen von Programmen wie dem umstrittenen "Demokratie leben!" weitere Fördergelder in Millionenhöhe erhält.
Ebenfalls im Austausch mit der Bundesregierung steht das Projekt "Reset Tech", welches sich laut Lobbyregister des Deutschen Bundestages für eine "eine stärkere Regulierung großer Tech- Unternehmen ein(setzt)" und dem es nach eigenen Angaben "vorrangig um eine schlagkräftige Durchsetzung des Digital Service Act / Digitale-Dienste-Gesetz auf Bundesebene" zu tun ist.
Reset Tech ist neben Europa in den USA, und Australien aktiv und wurde nach eigenen Angaben 2019 mit der Unterstützung der Sandler Foundation und Luminate – der NGO des eBay-Gründers Pierre Omidyar – gegründet, welche auch die Räumlichkeiten für das Hauptquartier in London stellte.
Die NGO betont, ausschließlich durch öffentliche Mittel gefördert zu werden, nennt aber zugleich "Partnerschaften" mit weiteren privatwirtschaftlichen Stiftungen wie der Alfred Landecker Foundation, der Children’s Investment Fund Foundation (s. Christopher Hohn, Extinction Rebellion) und der Skoll Foundation. Alle der genannten Stiftungen gelten als starke Förderer einer dezidiert globalen Politikausrichtung.
Das Institute for Strategic Dialogue (ISD)
Schließlich geht aus der besagten Anfrage, zusammen mit einer weiteren vom vergangenen August, hervor, dass die Bundesregierung insgesamt vier Gespräche mit dem britischen Thinktank Institute for Strategic Dialogue (ISD) geführt hat.
Das ISD ist nach eigenen Angaben auf die Bekämpfung von Desinformation und Extremismus ausgerichtet und wird auch von deutschen Medien regelmäßig zu kontroversen Themen wie dem Umgang mit der AfD, der Corona-Krise, dem Klimawandel oder dem Ukraine-Krieg befragt.
Das ISD wurde mehrfach aufgrund seiner Finanzierung durch die britische Regierung und das US-Verteidigungsministerium sowie das U.S. Department of Homeland Security kritisiert.
Einige ISD-Personalien überschneiden sich außerdem mit solchen der Nato und der – ähnlich benannten – "strategischen Kommunikation" des Militärbündnisses (vgl. hier und hier).
Daneben weisen die zahlreichen Partnerschaften mit vornehmlich westlichen Regierungsbehörden – darunter auch die Europäische Kommission und das Auswärtige Amt – und ebenso zahlreichen, global agierenden Stiftungen wie den Open Society Foundations, der Stiftung Mercator oder der Bill and Melinda Gates Stiftung das ISD als öffentlich-private Partnerschaft aus.
Telepolis-Frage an die Bundesregierung
Telepolis hat die Bundesregierung Ende Januar um eine Auskunft gebeten, inwiefern das ISD geeignet ist, als unabhängiger Kooperationspartner im Rahmen der Durchsetzung des DSA zu agieren. Dazu lieferte die Bundesnetzagentur folgende Antwort:
Dem DSC steht gemäß §14 Digitale-Dienste-Gesetz ein jährlicher Forschungsetat zur Verfügung und schreibt [sic] daher verschiedene Studien zum Themenbereich DSA aus. Den Zuschlag für eine dieser Studien erhielt das ISD im Rahmen des entsprechenden Ausschreibungsverfahrens. Bei den durchgeführten Terminen handelt es sich um Zwischenberichte zu der zu erstellenden Studie.
Aus der Antwort der Bundesnetzagentur an Telepolis
Den Verweis von Telepolis auf die Unabhängigkeit, welchen Faktenprüfer im Rahmen des DSA – wenngleich in erster Linie in Bezug auf "parteiliche Institutionen" genügen sollen, beantwortete die Bundesnetzagentur folgendermaßen:
Der DSC sieht bei sich keine Notwendigkeit der Beurteilung des ISD als möglicher Faktenprüfer.
Aus der Antwort der Bundesnetzagentur an Telepolis
Dem Umstand, dass das ISD zwar nicht direkt, aber doch mittelbar in seiner Position als Verfasser einer Studie zum Thema DSA (und als regelmäßig in Faktenchecks deutscher Medien befragter Experte) als Desinformationsprüfer auftritt, scheint diese Antwort aus Sicht des Verfassers nicht Rechnung zu tragen.