Verschickte Kinder: Sadismus und langes Wegschauen
Betroffenen Kindern wurde vermittelt, ihnen wĂŒrde sowieso niemand glauben. Symbolbild: Engin_Aykurt auf Pixabay (Public Domain)
Misshandlungen hatten in "Erholungsheimen" System. Betroffene wurden dort gegeneinander ausgespielt. Was sie heute sagen. (Teil 2 und Schluss).
"Ich dachte immer, das sei nur mir passiert." Diesen Satz hat Detlef Lichtrauter hunderte Male gehört. Lichtrauter ist Erster Vorsitzender und Pressesprecher des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickung NRW (AKV-NRW) [1], und er sagt, jedes Mal, wenn er sich öffentlich zum Thema geĂ€uĂert habe, meldeten sich weitere Menschen, die selbst als Kinder auf in sogenannte Erholungsheime verschickt worden seien. Und dann sprĂ€chen sie diesen Satz aus.
"Nach einem Zeitungsartikel in der WAZ habe ich ungelogen anderthalb Tage tĂ€glich acht bis zehn Stunden mit Betroffenen telefoniert. Und das ist immer sehr ergreifend. 60-jĂ€hrige Frauen und 80-jĂ€hrige MĂ€nner sind in TrĂ€nen ausgebrochen", berichtet Lichtrauter. Weil er selbst ein Betroffener sei, spĂŒrten die Menschen, dass er auf Augenhöhe mit ihnen sei. Und dann sprĂ€chen sie.
"Der Standardsatz ist immer: âIch dachte immer, das sei nur mir passiert.â Auch hunderte Male gehört habe ich den Satz: 'Ich dachte immer, ich sei selber schuld, irgendetwas stimmt nicht mit mir.' Oder: 'Die Betreuer sagten zu mir: 'Wenn du diese LĂŒgengeschichten weiter erzĂ€hlst, kommst du nie wieder nach Hause. Dann wollen deine Eltern dich nicht mehr sehen'."
Warum Verschickung?
Detlef Lichtrauter kam im Alter von zwölf Jahren in ein Verschickungsheim, das Kindersanatorium Haus Bernward in Bonn-Oberkassel. Er war damit relativ alt. "Darum habe ich sehr viele und detaillierte Erinnerungen."
FĂŒr eine Verschickung gab es unterschiedliche GrĂŒnde. Laut der Studie "Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach 1945. Organisation, quantitative Befunde und Forschungsfragen" von Prof. Dr. Marc von Miquel [3] bezuschussten die Landesversicherungsanstalten in NRW Erholungskuren vor allem bei "Erkrankungen der Atemwege wie Bronchialasthma und Bronchitis. Hinzu kamen Herz-Kreislauferkrankungen und HaltungsschĂ€den."
Lichtrauter berichtet, dass viele Kinder aufgrund der Ergebnisse ihrer Schuleingangsuntersuchung verschickt worden seien, darum waren die meisten so jung. Sein Fall lag etwas anders: "Bei mir gab es keine medizinische Indikation. Ich sollte aufgepÀppelt werden", erzÀhlt er.
Er war dĂŒnn â nicht der Einzige zu dieser Zeit: "In den Sechzigern bis Achtzigern hatte man kein Handy oder Tablet, sondern Fahrrad, Kettcar, einen FuĂball, und wir spielten Fangen und Verstecken. Wir waren den ganzen Tag in Bewegung, da war niemand adipös, wir waren alle rank und schlank!"
Die Gesamtzahl der Verschickungskinder lĂ€sst sich nicht genau angeben, so die Miquel-Studie: "Gesicherte Angaben zu der Anzahl der verschickten Kinder nach 1945 sind auf der Grundlage des vorhandenen Datenmaterials nicht möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht erhoben wurde, wie viele Kinder mehrfach an KurmaĂnahmen teilnahmen."
Bundesweit dĂŒrften es Millionen Kinder gewesen sein, Miquel fasst eine SchĂ€tzung der Autorin und Betroffenen Anja Röhl aus "Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt" (GieĂen, 2021) zusammen: "Um die Gesamtzahl der verschickten Kinder in der Bundesrepublik zu ermitteln, legt Röhl die fĂŒr 1963 amtlich genannte KapazitĂ€t von 56.608 PlĂ€tzen fĂŒr Kurkinder zugrunde."
Ausgehend von einer Belegung von fĂŒnf bis sieben Kureinheiten pro Einrichtung im Jahr schĂ€tzt Röhl die Anzahl der verschickten Kinder auf 300.000 bis 400.000 Kinder pro Jahr, fĂŒr den Zeitraum von 20 Jahren von 1960 bis 1979 damit auf sechs bis acht Millionen.
Dies sei jedoch eine konservative SchĂ€tzung, wĂ€hrend die Publikation von Folberth [Sepp Folberth (Hg.), Kinderheime, KinderheilstĂ€tten in der Bundesrepublik Deutschland, Ăsterreich und der Schweiz: mit TextbeitrĂ€gen von K. Nitsch und H. Kleinschmidt, einem Verzeichnis der Heime, HeilstĂ€tten und Anstalten und sonstigen wichtigen Anschriften fĂŒr die Kinderpraxis, MĂŒnchen, 1. Auflage 1956, 2. Auflage 1964] auf eine höhere Zahl um 12 Millionen Kinder schlieĂen lasse."
"Der Erfolg wurde in Kilos gemessen"
Kinder sollten aufgepĂ€ppelt werden, sie sollten gesund werden, das wollten jedenfalls ihre Eltern. In der Praxis allerdings litten die Kinder nur zu oft unter ZwĂ€ngen und â man kann es nicht anders sagen â oft auch Bösartigkeit und Sadismus.
So erinnert sich Detlef Lichtrauter an seine Zeit: "Man wurde zum Essen gezwungen, in der ersten Woche gab es jeden Tag zwei Scheiben Brot, in der zweiten Woche drei, in der dritten Woche vier. Der Erfolg wurde in Kilos gemessen.
Man musste so lange dasitzen, bis man aufgegessen hatte. Es herrschte Redeverbot, wenn man redete, wurde man angebrĂŒllt, und wenn das nichts nĂŒtzte, wurde die TĂŒr zum BĂŒro von Dr. MĂŒller geöffnet. Und dann war es sofort totenstill."
Einmal habe es Linsensuppe gegeben, "da waren alle am WĂŒrgen, und mein GegenĂŒber erbrach sich in den Teller. Dann wurde er angeschnauzt und musste alles aufessen. Auch das Erbrochene", erinnert er sich.
Andererseits: Weil viele Kinder BettnĂ€sser waren, habe man ab 17 Uhr nichts mehr trinken dĂŒrfen, "da wurde die Hauptwasserleitung abgestellt, im ganzen Haus."
Drakonische Strafen â Freundschaften kaum möglich
Die Kinder konnten sich nicht untereinander verbĂŒnden:
Es haben sich dort keine Freundschaften gebildet. Denn man war an einem Tag Opfer und am anderen Tag TĂ€ter. Das kam so: Es gab relativ viele BettnĂ€sser und die wurden am nĂ€chsten Morgen vor der ganzen Gruppe bloĂgestellt. Die sollten dann die BettnĂ€sse auslachen. Als Kind entwickelt man schnell ein GespĂŒr dafĂŒr, dass die Rollen schnell wechseln konnten.
Detlef Lichtrauter
Die Erwachsenen seien unberechenbar gewesen und die Strafen drakonisch: "Man wurde angepöbelt, oder man bekam nur Ohrfeige, oder eine Tracht PrĂŒgel." Einmal wurde er Zeuge einer "PrĂŒgelorgie" des leitenden Arztes Dr. Otto MĂŒller: Drei oder vier Jungs waren nachts aufgestanden, wurden von der Schwester ertappt, die sagte dem Arzt Bescheid, "und der ist von Bett zu Bett gegangen, hat den Jungen die Bettdecke weg und die Hosen runtergezogen, und sie richtig verprĂŒgelt."
Das erlebte er noch im Jahr 1973! In diesem Jahr wurde die PrĂŒgelstrafe fast in der gesamten Bundesrepublik abgeschafft â lediglich Bayern verbot sie in der Schule erst im Jahr 1983. "Diese Verschickungsheime waren rechtsfreie RĂ€ume, verteilt ĂŒber das ganze Bundesgebiet", sagt Lichtrauter.
Medizinische Gewalt: Sedierungen wegen Personalmangels
Diese "rechtsfreien RĂ€ume" betrafen nicht nur PrĂŒgel, sondern auch "medizinische Gewalt", wie Miquel es in der Studie (S. 45 ff) ausdrĂŒckt. Man mĂŒsse das Ă€rztliche Handeln â meistens waren es KinderĂ€rzte â auch daraufhin "untersuchen, inwiefern medizinische und therapeutische Gewalt eingesetzt und gerechtfertigt wurde.
Damit sind die Medikamentenversuche in der KinderheilfĂŒrsorge mit zuweilen tödlichem Ausgang angesprochen, die mittlerweile in das Blickfeld der Ăffentlichkeit gerĂŒckt sind." (S. 46)
Auch Lichtrauter erinnert sich an diese spezifische Art von Gewalt: Jeden Abend nach dem Abendessen sei die Betreuerin mit einer halb durchsichtigen Plastikdose voller Tabletten durch die Reihen gegangen.
"Dann mussten die Kinder den Kopf in den Nacken legen und bekamen eine Tablette rein in den Mund. Die mussten sie trocken runterschlucken und danach wurde kontrolliert - Zunge links, Zunge rechts, Zunge hoch - ob die Tablette auch runtergeschluckt worden war."
SpĂ€ter erfuhr Lichtrauter, dass in dem Heim zwei Medikamente verabreicht wurden, Implicor und Protactyl: "Die Kinder wurden sediert, abends, denn es gab nur eine Nachtschwester fĂŒr 60 bis 65 Kinder. Die saĂ da zwischen der Jungs- und der MĂ€dchenetage."
Auch ĂŒberliefert sei, dass besonders lebhafte Kinder mit einer Spritze sediert wurden. Und sein Nachbar sei BettnĂ€sser gewesen, "der wurde jeden Morgen gefragt, ob er eingenĂ€sst hatte, dann wurde er in den Keller gefĂŒhrt und bekam jedes Mal eine Spritze in den Po." Dabei habe es sich um destilliertes Wasser gehandelt â der Zweck sei Angstmache und Strafe gewesen.
Keiner hörte zu
Miquel berichtet zudem, dass viele Eltern ihren Kindern nicht geglaubt hĂ€tten. Und wenn doch, wenn sich die Eltern dann an die Behörden wandten, hĂ€tten diese den Eltern nicht geglaubt â und wenn doch, dann hĂ€tten die Behörden nicht adĂ€quat reagiert.
Detlef Lichtrauter erinnert sich, wie er als Kind zurĂŒckkehrte. Als seine Mutter fragte, wie es war, habe er gesagt: "Gut." VerdrĂ€ngung, meint er. Erst als er ĂŒber 30 Jahre alt war, mehr als 20 Jahre nach dem Heimaufenthalt, sprach er mit seiner Mutter darĂŒber. Ein einziges Mal.
Er sagte ihr, wie schrecklich es war. "Meine Mutter, eigentlich eine sehr emotionale und empathische Frau, und eigentlich war ich ihr Ein und Alles, aber sie hat bloĂ gesagt 'Ach Detlef, war es denn wirklich so schlimm?â"
Auch das, diese abwertende Reaktion der Eltern, ist nicht nur ihm passiert.
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[1] https://kinderverschickungen-nrw.de/
[2] https://www.telepolis.de/features/Als-Kuren-Kinder-krank-machten-8983286.html
[3] https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/studie-verschickungskinder_nrw.pdf
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