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Verschlusssache Amri

Breitscheidplatz am Abend nach dem Anschlag am 19.Dezember 2016. Foto: Foto: Andreas Trojak / CC BY 2.0

Der angebliche Attentäter vom Breitscheidplatz soll gleich mehrfach bestritten haben, an der Tat beteiligt gewesen zu sein - Die Bundesanwaltschaft hat die Unterlagen gesperrt

Der Tunesier Anis Amri, der offiziell als der Attentäter vom Breitscheidplatz in Berlin gilt, hat nach dem Anschlag offensichtlich mehrfach gegenüber Bekannten und Freunden bestritten, mit der Tat zu tun gehabt zu haben. Ein erster Hinweis darauf findet sich in den Vernehmungsunterlagen des Bundeskriminalamtes (BKA), über den Telepolis im Dezember 2020 berichtet hat (Anis Amri: "Ich habe mit dieser Sache nichts zu tun. Helft mir!!!" [1]).

Jetzt gibt es ein zweites Beispiel, wonach Amri unmittelbar nach dem Anschlagsgeschehen mit jemandem aus dem Umfeld der Fussilet-Moschee in einem persönlichen Gespräch gesagt haben soll, er sei an dem Anschlag nicht beteiligt gewesen und werde zu Unrecht beschuldigt.

Der Sachverhalt war noch im Jahr 2020 Gegenstand von Ermittlungen. Die Bundesanwaltschaft hat die Akten dazu als geheim eingestuft und hält sie sowohl gegenüber den eigentlich einsichtsberechtigten Opfern und ihren Anwälten als auch für die gewählten Abgeordneten unter Verschluss. Mit ein Grund wird sein, dass ein staatlicher Informant darin verwickelt ist.

Zweifel daran, dass Amri jener Mann war, der am 19. Dezember 2016 den LKW in den Weihnachtsmarkt gelenkt und insgesamt zwölf Menschen ermordet hatte, ergeben sich bereits seit einiger Zeit aus einer Reihe objektiver Spuren. Einige von ihnen kamen auch im Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Sprache: fehlende Fingerabdrücke und nicht belastbare DNA-Fragmente von Amri im Tat-LKW. Stattdessen fanden sich Spuren einer bisher nicht identifizierten "unbekannten Person 2".

Dass der angebliche Attentäter selbst seine Beteiligung dementiert, ist deshalb bemerkenswert, weil er sich laut offizieller Auslegung zu der Tat bekannt haben soll. Beispielsweise durch das demonstrative Zeigen des islamistischen Grußes in eine Überwachungskamera am U-Bahnhof Zoo wenige Minuten nach dem Anschlag.

Und seine Geldbörse mit einer amtlichen Duldungsbescheinigung sowie seine beiden Handys habe er als Zeichen der Tatbekennung absichtlich im LKW zurückgelassen.

Amris erstes Dementi

Amris erstes Dementi seiner angeblichen Täterschaft findet sich in den Vernehmungsprotokollen des BKA von 2017. Danach erhielt ein gewisser Mohamed A., Bruder von Khaled A., mit dem sich Amri bis zum Anschlagstag ein Zimmer teilte, auf seinem Mobiltelefon ein Posting von Anis Amri, versehen mit einem Passbild und einem Text mit folgendem Wortlaut:

"Leute, ich kann mich nicht öffentlich zeigen, ich habe mit dieser Sache nichts zu tun. Ich würde so was nie im Leben machen. Alles gelogen!! Bitte teilt ALLE diesen Beitrag und glaubt nicht diesen Medien. Helft mir!!! Gott beschütze euch alle meine Brüder und Schwester."

Wann und wo die Nachricht abgesetzt wurde, geht daraus nicht hervor. Die Ermittler des BKA sind darauf gestoßen, weil ihnen ein anderer Zeuge seine Whats-App-Kommunikation mit Mohamed A. offengelegt hatte. Der hatte das Amri-Posting am 31. Dezember 2016 an ihn weitergeleitet.

Dem BKA muss die Brisanz des Sachverhalts bewusst gewesen sein, denn es fasste ihn in einer extra Anmerkung zusammen. Unklar ist, wie die Ermittler mit der Spur umgingen. Mohamed A., die erste bekannte Quelle, wurde gar nicht danach befragt. Dessen Bruder Khaled A. erklärte unhinterfragt, unmittelbar nach dem Anschlag seine beiden Handys entsorgt zu haben. Eines will er verkauft, das andere weggeworfen haben. Ob er die Nachricht erhielt, soll also nicht mehr feststellbar sein.

Dasselbe gilt für Bilel Ben Ammar. Er will nach dem Anschlag alle Whats-App-Nachrichten von Amri gelöscht haben, erklärte er gegenüber den Vernehmern im Januar 2017 - und räumte damit unfreiwillig zugleich mögliches Täterwissen ein. Zu diesem Zeitpunkt stand der Plan längst fest, Ben Ammar nach Tunesien abzuschieben, obwohl er als Beschuldigter geführt wurde. Am 1. Februar 2017 wurde das dann vollzogen.

Das zweite Dementi

Jetzt ist sind Aktenseiten aufgetaucht, die ein zweites Dementi des angeblichen Täters dokumentieren und die noch im Mai 2020 zu Ermittlungen von Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt geführt haben.

Danach soll im November 2019 ein "Informant" folgendes mitgeteilt haben: Amri habe unmittelbar nach dem Anschlagsgeschehen Semsettin E., den er aus der Fussilet-Moschee kannte, in einem "persönlichen Gespräch" gesagt, er sei nicht am Anschlag beteiligt gewesen und werde zu Unrecht beschuldigt. Den im Tat-LKW aufgefundenen Ausweis habe er, Amri, bereits einige Monate vorher bei der Polizei in Berlin abgegeben.

Ende April 2020 wurde Semsettin E. zur polizeilichen Zeugenvernehmung einbestellt. Warum so spät, ist unklar. Allerdings ließ der Vorgeladene durch seinen Anwalt übermitteln, er mache von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch. Er erschien nicht zur Vernehmung. Schon das ist ungewöhnlich.

Noch ungewöhnlicher aber ist, dass die Bundesanwaltschaft als federführende Behörde das akzeptierte. Der zuständige Oberstaatsanwalt meldete dem BKA zurück, er sehe von "Zwangsmaßnahmen zur Umsetzung der Zeugenvernehmung" ab.

Im Gegensatz zu Beschuldigten haben Zeugen kein entsprechendes, umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht. Sie müssen grundsätzlich zur Vernehmung erscheinen und ihre Verweigerung bei jeder Frage neu erklären und begründen.

Warum hat die Bundesanwaltschaft darauf verzichtet?

Soll vielleicht jener Informant vom November 2019 geschützt werden? Über welche Informationen verfügte er genau? Darauf gibt es keine Antwort, denn die gesamte Akte ist, wie Opferanwälte und Mitglieder des Bundestagsuntersuchungsausschusses erfuhren, gesperrt. Der Generalbundesanwalt hat sie als geheim eingestuft. Wenn sie nicht einmal dem Bundestag herausgegeben wird, muss sich eine gefährliche Wahrheit in der Akte verbergen.

Der Deutsch-Türke Semsettin E. gehörte zum radikalen Kern der Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit, die nach dem Anschlag behördlich geschlossen wurde. Bereits bei einem anderen Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit der Moschee war er nicht zur Vernehmung erschienen. Bekannt ist, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine Akte über Semsettin E. geführt wurde, so wie beispielsweise auch zu Amri, Ben Ammar oder Khaled A.

Dass sich Amri und E. kannten, davon ist bei der überschaubaren Größe der Einrichtung auszugehen. Die Angabe vom "persönlichen Gespräch" zwischen beiden bereitete dem BKA aber Kopfzerbrechen. Wenn sie sich getroffen haben, hieße das, Amri hat nach dem Anschlag nicht direkt die Stadt verlassen, sondern verkehrte noch mit verschiedenen Leuten.

Da sich Amri in dem Gespräch aber auch auf die Ausweispapiere bezogen haben soll, die erst einen Tag später im LKW gefunden wurden, als er möglicherweise bereits auf der Flucht war, läge andererseits auch ein Telefonat nahe.

Das wiederum würde bedeuten, dass der Flüchtige ein Mobiltelefon besessen haben müsste, was das BKA offiziell bestreitet. Seine zwei bekannten Handys wurden im und am Tat-LKW sichergestellt. Und als Amri getötet wurde, soll er laut offizieller Sprachregelung auf jeden Fall kein Mobilphone bei sich gehabt haben.

Am Anschlag nicht beteiligt? Das muss man genauer betrachten. Amri war zu einem bestimmten Zeitpunkt zumindest am Tat-LKW, wo sich außen Fingerabdrücke von ihm fanden. Und er hatte die Tatpistole, mit der der polnische Fahrer erschossen wurde, bei sich, als er selber in Italien getötet wurde.

So gesehen kann er als Tatbeteiligter gelten. Aber war er auch der Haupttäter, der am 19. Dezember 2016 den 40-Tonnen schweren Sattelschlepper in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz steuerte, wo insgesamt zwölf Menschen starben und Dutzende verletzt wurden?

Daran gibt es Zweifel, zu denen die beiden Amri-Dementis passen würden. In der Fahrerkabine des LKW wurden an unbeweglichen Teilen keine Fingerabdrücke und vollwertige DNA von Amri gefunden. Stattdessen Spuren von anderen Personen, die bisher nicht identifiziert sind.

Zum Beispiel DNA-Material einer "unbekannten Person", genannt UP 2, an gleich vier Stellen: Unter anderem an der Kopfstütze des Fahrersitzes, am Griff der Sitzverstellung und am inneren Öffnungshebel der Fahrertür. Die Person könnte auf dem Fahrersitz gesessen haben.

Bedenken, dass Anis Amri am Steuer des Tat-Lastwagens saß, formulieren auch drei Experten, die der Untersuchungsausschuss letztes Jahr beauftragt hat, die Spurenbefunde und die Ermittlungen des BKA zu überprüfen: Ein Kriminologe, ein DNA-Forensiker und ein Spezialist für Daktyloskopie (Ende offizieller Gewissheiten im "Fall Amri" [2])

Am 25. März wird deren Gutachten in einer Sondersitzung des U-Ausschusses im Bundestag öffentlich vorgestellt [3].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-5993075

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Anis-Amri-Ich-habe-mit-dieser-Sache-nichts-zu-tun-Helft-mir-4988291.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Ende-offizieller-Gewissheiten-im-Fall-Amri-5076191.html
[3] https://www.bundestag.de/ausschuesse/untersuchungsausschuesse/1untersuchungsausschuss#url=L2Rva3VtZW50ZS90ZXh0YXJjaGl2LzIwMjEva3cxMi1wYS0xdWEtODI3NTEy&mod=mod546072