Verschwörungstheorien als Krankheit

Sars-CoV-2, Biosicherheit und Paranoia (Teil 2)

Die metaphorische Gleichsetzung von Krankheitserregern und Verschwörungstheorien ist nicht neu. Schon vor Covid-19 galten Verschwörungstheorien als "toxisch".1 Sie konnten als Internet-Phänomene viral gehen und man konnte, wie für Krankheiten, "anfällig"2 für Verschwörungstheorien sein. Auch im politischen Bildungsdiskurs ist etwa die Rede von sozialen Medien als "Nährboden" für Verschwörungstheorien oder von Verschwörungstheorien als "toxischen Narrativen".3 Seit Covid-19 ist es gängiger denn je, vom "Virus Verschwörungstheorie" zu sprechen.

In der Corona-Krise hat aber nicht nur die Sprache über Verschwörungstheorien einen zunehmend medizinisch-pathologischen Charakter angenommen. Nach dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben ist die Medizin in der Corona-Krise zu einer Art Religion aufgestiegen. Gesundheit ist in der "neuen Normalität", welche die Pandemie mit sich gebracht hat, nicht mehr nur ein Recht, sondern sie wird "zu einer Pflicht […], die alle um jeden Preis zu erfüllen haben."4

Im Paradigma der Biosicherheit werde das Worst-Case-Szenario, also "die Logik des schlimmsten anzunehmenden Falls", zum "Leitprinzip der politischen Rationalität".5 Wer in dieser Logik denkt und handelt, tut dies notwendig im Modus von Angst und Sorge. Die Virusangst bestimmt die sozialen Beziehungen, wobei die gegenseitige Verdächtigung aus Angst, der andere könnte ein Infizierter sein, omnipräsent ist.

Der sogenannte "Masken"- oder "Quarantäneverweigerer" ist im Paradigma der Biosicherheit daher doppelt gefährlich. Zum einen medizinisch, zum anderen symbolisch – als potenzieller Verbreiter von Viren oder von Verschwörungstheorien, die diese Viren verharmlosen. Die normative Kraft des Infektionsschutzes macht dabei jeden Unmaskierten zum potenziellen "Ausscheider", was bedeutet, dass er "eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein".


Der Text stammt aus dem Buch "Der Kampf um die Wahrheit: Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten" von Andreas Anton und Alan Schink.

Komplett Media, 336 Seiten, 22 Euro


Er könnte zum sogenannten "Superspreader" werden und viele andere anstecken. Diese Angst wird immer auch symbolisch vermittelt. Die Mund-Nasen-Bedeckung gilt einerseits als Symbol der Solidarität und Fürsorge in der Krise. Zugleich symbolisiert die Maske aber auch die Angst vor dem Virus. Sie hält die drohende Gefahr der Ausbreitung eines unsichtbaren, gefährlichen Feindes ständig in der Öffentlichkeit präsent – sei es in Form eines Virus oder einer Verschwörungstheorie. Durch die Maske, meint der Anthropologe Matthias Burchardt, verändert sich das öffentliche Verhalten so, dass "Maskenverweigerung als potenzielle Körperverletzung" wahrgenommen wird.6

Die "moralische Aufladung der Maske", vor der die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot warnt, ist im Paradigma der Biosicherheit eine kalkulierte Realität. In der Konsequenz dieser Logik geben etwa Apotheken-Portale Tipps, wie mit "Masken-Verweigerern" und "Verschwörungsanhängern" umzugehen sei; der SWR greift in der Fernsehserie mit dem Titel "Vorsicht Verbrechen" das Thema auf und stellt Maskenverweigerer in der Einkaufspassage oder am Busbahnhof zur Rede.

Der Maskenverweigerer ist im vorherrschenden Covid-19-Diskurs eine Manifestation des "Corona-Leugners". Dieser ist – wie der "Verschwörungstheoretiker" – in erster Linie eine diskursive Figur und wird mit jenen Personen assoziiert, die die Gefahr des Virus relativieren oder die Maßnahmen kritisieren.

Rein zeitlich gesehen geht die Angstkommunikation und die Antizipation des Worst Case dem Pandemiemanagement der WHO und einiger Regierungen voraus. Das sogenannte "Panikpapier" des Bundesinnenministeriums, das zwischen Anfang und Mitte März 2020 konzipiert wurde, setzt auf die Strategie, in der Bevölkerung eine Schockwirkung zu erzeugen, indem man Urängste adressiert. Wörtlich heißt es in dem Papier:

Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden: […] Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.

Das Papier sorgte im Internet für viel Wirbel, Irritation und Unverständnis. Verstärkt wurde dies noch durch den Umstand, dass im Februar 2021 bekannt wurde, dass Otto Kölbl, Germanist, Prüfer für Deutschtests und Doktorand an der Universität Lausanne in der Schweiz, einer der Autoren des Papiers war. Kölbl hatte zuvor gemeinsam mit einem Politikwissenschaftler einen Text mit dem Titel "Von Wuhan lernen – es gibt keine Alternative zur Eindämmung von Covid-19" im Internet veröffentlicht.7

Die Autoren loben darin die chinesische Strategie im Umgang mit der Pandemie und werfen westlichen Politikern, Experten und Medien vor, aus "gewohnheitsmäßiger Arroganz gegenüber China" nicht rechtzeitig die richtigen Maßnahmen ergriffen zu haben.8 Zuvor hatte Kölbl auf seinem Blog und in sozialen Medien Mao Zedong und die chinesische Tibet-Politik verteidigt.

Nach Recherchen der Welt am Sonntag verfasste Kölbl u. a. den oben zitierten Abschnitt über die "gewünschte Schockwirkung".9 Die Aargauer Zeitung aus der Schweiz hält dazu fest10:

Was genau Otto Kölbl, Teilzeit-Verantwortlicher für Deutschprüfungen an der Universität Lausanne, als Corona-Berater für das deutsche Innenministerium qualifiziert, bleibt ein Rätsel. Trotz mehrerer Anfragen der Welt am Sonntag gab die Regierung dazu keine Auskunft.

Es ist nicht klar, wie viel Beachtung das Dokument in Regierungskreisen fand. In der Krisenkommunikation von Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn fanden sich die Argumente aus dem "Panikpapier" jedenfalls nicht.11 Der Faktor Angst spielt in der politischen und medialen Krisenkommunikation zum Corona-Virus allerdings unbestreitbar eine zentrale Rolle.

Protest als "Widerstand" und "Querdenken"

Es ist unter anderem diese Virusangst, gegen die sich im Netz und auf der Straße Protest breit macht. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift Demokratischer Widerstand vom 17. April 2020 heißt es auf der Titelseite: "Gegen die Angst!". Die Verfasser stellen klar:

Zum Virus gibt es mindestens zwei stark voneinander abweichende Meinungen" und behaupten, die "Parlamente und Parteien" hätten "sich dem Regierungskurs unterworfen", die "großen Medienhäuser (…) gleichgeschaltet" und "sämtliche Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt". Die Regierung versetze die Menschen "in Todesangst" und nutze die Corona-Krise, um vom "Zusammensturz des Finanzmarktkapitalismus" abzulenken. Im Hintergrund, so die verschwörungstheoretische Behauptung, dränge ein "dystopisches Digital- und Pharmakonzern-Kartell zur Macht.

Herausgeber der Zeitung ist das politische Künstler-Kollektiv Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand rund um die Journalisten und Verleger Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp. Diese hatten am 28. März 2020 auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin eine sogenannte "Hygiene-Demonstration" gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung initiiert, die in den Folgewochen fortgesetzt wurde und jeweils mehrere hundert Teilnehmer zählte.

Bekannt gemacht wurden die auch als "Hygiene-Spaziergang" betitelten Proteste unter anderem über die alternativen Medienkanäle und die Webseiten von KenFM und Rubikon. Im Laufe der Sommermonate 2020 etablierte sich im Rahmen von Medien der Gegenöffentlichkeit und den Demonstrierenden auf der Straße eine Protestbewegung, die in vielen deutschen Städten jeweils hunderte bis tausende Menschen auf die Straßen brachte.

In den Leitmedien wurde über diese zumeist dezentral organisierte und heterogene Protestbewegung in der Regel abschätzig und verallgemeinernd unter Verwendung der Bezeichnung "Querdenker" berichtet.

Die Selbstbezeichnung "Querdenken" geht auf eine Initiative des Unternehmers Michael Ballweg zurück, der, in Anlehnung an die Berliner Demonstrationen im Frühjahr 2020, von Stuttgart ausgehend weitere Proteste für das Grundgesetz und gegen die Anti-Corona-Maßnahmen organisierte. Ballweg gilt als Kopf von "Querdenken" und spricht vom "Freiheitsvirus", das bei den Menschen ausgebrochen sei, die auf die Straße gehen, um das Grundgesetz zu verteidigen.

Während die Berliner Proteste und Forderungen um den Demokratischen Widerstand von vornherein eine links- bis sozialliberale politische Schlagseite hatten, mobilisierten die "Querdenken"-Proteste vor allem unpolitische bis politisch-enttäuschte Bürger.

Für den Soziologen Oliver Nachtwey, der eine Untersuchung zu den Anti-Maßnahmen-Protesten geleitet hat, stellen die "Querdenken"-Proteste die vielleicht "erste wirklich postmoderne Bewegung" dar. Laut Nachtwey bedeutet das, dass im Vordergrund der Kritik dieser Bewegung nicht bestimmte Argumente oder klare politische Forderungen stünden, sondern der Widerstand "gegen die Herrschaft, die Regierung, das System".

Diese dissidente Haltung vereint die Protestbewegung, für die ansonsten ihre politische und weltanschauliche Heterogenität kennzeichnend ist. Während ein großer Teil der Protestierenden politisch grün-links und antiautoritär eingestellt ist, finden in der "Querdenken"-Bewegung gleichzeitig rechte Positionen zunehmend Anklang und mobilisieren rechte bis rechtsextreme Gruppierungen und Parteien, wie etwa Teile der AfD oder der sogenannten Reichsbürger-Szene.

Ein zentraler Faktor in der Bewegung ist der Verlust des Vertrauens in etablierte gesellschaftliche Institutionen wie Medien, politische Parteien oder Verbände. Das Themenspektrum auf den Protest-Bühnen, in Vor-Ort-Gesprächen oder in dissidenten Chatgruppen reicht von der Bill-Gates-Verschwörung über 5G bis hin zu alternativen Heilmethoden oder marginalisierten wissenschaftlichen Expertisen hinsichtlich Covid-19. In den Gegendiskursen der Maßnahmen-Proteste erfüllen Verschwörungstheorien die Funktion der Gemeinschaftsstiftung.

Die Virusangst wird gleichsam durch die Angst vor Verschwörungen oder vor einer angeblich drohenden Gesundheitsdiktatur ersetzt. Bestimmte (mächtige) Akteure oder Gruppierungen gelten als Drahtzieher, Profiteure oder Erfüllungsgehilfen der Krise, über die es nicht nur aufzuklären gelte, sondern gegen die auch Widerstand zu leisten sei. So bildet sich eine Gruppenidentität der "Widerständigen" gegenüber den vermeintlichen mächtigen Verschwörern einerseits und der noch nicht aufgeklärten Bevölkerung andererseits.12

Auch hierbei spielt unter anderem die Maske als Symbol eine zentrale Rolle: Die Maske gilt bei den Protesten als Zeichen der Herrschaft und der Unterdrückung. Die Maskenverweigerung ist zugleich Ausdruck von Widerstand und Quer-Denken gegenüber einer als autoritär und einseitig wahrgenommenen Corona-Politik.

Die Dialektik des Verschwörungsdenkens äußert sich in der Pandemie einerseits darin, dass Protagonisten von Corona-Verschwörungstheorien als "Covidioten" oder "Maskenverweigerer" geächtet werden. Andererseits ergeben sich durch genau diese Art von sozialer und politischer Exklusion neue Allianzen, Koalitionen und Netzwerke, die sich durch den Ausschluss definieren und damit neuartige dissidente Gemeinschaften bilden.

Verschwörungstheorien können diese Gemeinschaftsbildung verstärken, während sie die Vertrauens- und damit auch die Gemeinschaftsbildung in anderen Kontexten gleichzeitig verhindern.