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Verschwundene Kinder

Blondierte Roma in Athen. Bild: W. Aswestopoulos

Schicksal des kleinen blonden Roma-Mädchens Maria ist kein Einzelfall - Die Roma und die griechischen Verhältnisse

Knapp zehn Tage lang beherrschte das Schicksal der kleinen Maria die internationalen Schlagzeilen. Kaum eine Nachrichtensendung Deutschlands kam ohne Bilder des kleinen blonden Mädchens, das im Roma-Lager Farsala gefunden wurde, aus (Zu blond für ein Romakind? [1]). Übersehen wurde oft, dass viel mehr als ein Einzelschicksal hinter der Geschichte steckt. Dass das Drama der verschwundenen Kinder sich nicht nur auf Griechenland beschränkt, wurde spätestens dann deutlich, als die leibliche Mutter des Kindes in Bulgarien auftauchte. Im Prinzip kann nicht ausgeschlossen werden, dass ähnliche Vorgänge auch in westlicheren Staaten geschehen. Denn Marias Leben ist kein Einzelschicksal.

Zwischen 1998 und 2002 verschwanden sage und schreibe 502 von 661 albanischen Romakindern [2], die in der Obhut des staatlichen Waisenhauses Agia Varvara waren. Nur wenige tauchten nach Jahren wieder auf. Sie berichten davon, dass sie zu den Olympischen Spielen 2004 als Bettler an Ampeln eingesetzt wurden. Sexuelle Ausbeutung und sogar Organhandel war den Zeugenaussagen gemäß das Schicksal einiger Leidensgenossen.

Erst eine parlamentarische Anfrage der SYRIZA-Abgeordneten Maria Giannakaki Ende August brachte das Justizministerium dazu, den Fall noch einmal aufzurollen. Die UNO und das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge ermahnten den griechischen Staat ein ums andere Mal, berichtete Giannakaki. Die internationalen Organisationen verlangten nach Aufklärung des ungeheuerlichen Vorgangs.

Obwohl sich nach der parlamentarischen Anfrage Justizminister Charalambos Athanasiou eingeschaltet hat, gibt es keine vorzeigbaren Ermittlungsergebnisse. Bekannt wurde nur, dass lediglich eine Handvoll der Kinder nach 1995 geboren wurde. Demnach, so ein lakonischer Pressekommentar, seien die meisten nun volljährig.

Das Lager Farsala, die Roma und das gar nicht so lustige Zigeunerleben

Die polizeiliche Razzia vom 16.Oktober im Lager Farsala stand zunächst nicht im Zusammenhang mit den verschwundenen Kindern. Eher durch Zufall kam ein Polizeibeamter auf die Idee, bei der helläugigen, blassen Maria näher hinzusehen.

Die erste Meldung des Polizeiberichts betraf "die Bekämpfung der Kriminalität". Im Bericht wurde vermerkt, dass Drogen, Waffen, Kreditkarten und zwei unerlaubt im Land befindliche Albaner [3] gefunden wurden. Von der kleinen Maria war noch nicht die Rede. Erst zwei Tage später wurde dieser Fall öffentlich [4]. Vielmehr wurde im Polizeibericht penibel vermerkt, dass auch eine Skimaske, also eine verbotene Bedeckung des gesamten Gesichts, beschlagnahmt wurde.

In Griechenland werden nicht alle "Angehörigen des fahrenden Volkes" als Roma bezeichnet. Denn erstens sind nicht alle Roma und zweitens sind nicht mehr alle "fahrend". Das Wort für Zigeuner, "Tsinganoi" ist im Griechischen nicht negativ besetzt. Ethymologisch wird es auf "a-tsiganoi = "die Unberührbaren" zurückgeführt. Als herabwürdigendes Schimpfwort gilt sowohl bei Griechen als auch bei den Tsiganoi selbst "Gyftoi". Die Roma nennen alle Weißen "Balamo" (weiß) und sich selbst "Melele" (dunkel). Sie haben eine ausgesprochene Hassliebe zu den helleren Griechen, die jedoch eindeutig auf Gegenseitigkeit beruht. Weiße Haut und blonde Haare gelten als absolutes Schönheitsideal, dem die jungen Roma-Mädchen gern nacheifern.

Im Land befinden sich neun verschiedene Stämme. Die Batsoria, Bapamane-Roma, Roma, Souvaliotes, Tsinganoi, Chorachagia (ein moslemischer Stamm), Beskarides, Dermetsides und die Chantouria. Untereinander sind sie sich meist spinnefeind. Erst seit 1955 hatten die seit dem 13 Jahrhundert im Land befindlichen Stämme das Recht, sich einbürgern zu lassen. Wie so viele griechische Gesetze wurden auch für dieses erst Jahre später mit neuen Novellen 212/69468 von 1978 und 51/16701 von 1979 Ausführungsbestimmungen erlassen. Erst seitdem können die bis dahin als Staatenlose geltenden Nomaden Grundbesitz erwerben und Bürgerrechte wahrnehmen.

Noch Anfang der 2000er wurden bislang nie registrierte, erwachsene Roma in städtische Melderegister eingetragen. Exemplarisch ist der Fall einer damals 57-Jährigen. Die Dame existierte für den Staat nicht, obwohl ihre eineiige Zwillingsschwester ordnungsgemäß eingetragen worden war.

Verworren ist auch die Statistik zur Anzahl der Zigeuner im Land. Der Zentralstaat gibt eine Zahl von 120.000 bis 150.000 Angehörigen dieser Volksgruppe an. Die Interessenverbände der Roma bestehen auf 500.000 und die Städte und Gemeinden haben 200.000 bis 300.000 bei ihnen gemeldete Zigeuner griechischer Staatbürgerschaft in den Registern. Zyniker sehen in der Diskrepanz der staatlichen und kommunalen Zahlen einen Beleg für Tricks, mit denen die Kommunen an EU-Fördergelder für soziale Randgruppen kommen wollten. Zumindest könnte dies ansatzweise erklären, warum niemand von den nicht an Korruption Beteiligen bei den Melderegistern der Roma näher hinsah.

Während im Athener Stadtgebiet keine Lager existieren, siedeln zahlreiche bulgarische und rumänische Roma in höherer Konzentration im 4. und dem direkt benachbarten 6. Stadtbezirk der Hauptstadt. Genau aus diesen Bezirken stammen die meisten Meldungen zu Hausgeburten griechischer Roma.

Bislang hatte offenbar niemand Interesse an einer Kontrolle. Das griechische Recht lässt nachträgliche Meldungen von Hausgeburten bis kurz vor der Volljährigkeit zu. Nötig sind dafür nur ein Elternteil und zwei Zeugen. Zerknirscht musste Athens Bürgermeister Giorgos Kaminis eingestehen, dass sein Standesamt mitten in der Finanzkrise eine wahre Flut an solchen Geburten notierte. Im Jahr 2011 gab es 50 solcher Fälle, 2012 waren es schon 200 und noch vor Ende 2013 stehen 400 derartige Anmeldungen zu Buche.

Kaminis schasste die Direktorin des Standesamtes, die Abteilungsleiterin, ihren Stellvertreter und zeigte den ebenfalls suspendierten zuständigen Standesbeamten an. Die Steuerfahndung SDOE rückte ein, um "die Industrie der Sozialmittelerschleichung" aufzudecken. Der bürgermeisterliche Vorwurf lautet, dass den vier Beamten die unheimlichen Anstiege der Geburten hätten auffallen müssen. "Kaminis selbst hätte bemerken müssen, dass in seinem Stadtgebiet offiziell kein Romalager existiert", beschuldigt der Bürgermeister von Dimopoulous Heimatgemeinde Farsala seinen Amtskollegen der sträflichen Nachsichtigkeit.

Die Sesshaften und die Nomaden

In Griechenland wird zwischen zwei Gruppen von Roma unterschieden. Die Sesshaften, südlich der Hauptstadt in Agia Varvara und Menidi leben und die Nomaden, deren Hauptsammelorte sich in Aspropyrgos nahe Athen und Piräus sowie neben dem Vorort Menidi befinden. Teilweise leben die Menschen dort noch in Zelten. Weitere Orte mit hohem Bevölkerungsteil an "Tsinganous" sind Achaia, Dentropotamos, Alexandria Imathias, Amaliada, Gastouni, Examili bei Korinth, Nea Ionia Magnisias und Nymphopetra.

Der Katavlismos Farsala, wie das Lager der Roma bei den Griechen heißt, ist eins der besseren Lager im Land. Es ist kein Zeltlager, die Wege im Lager sind zwar ärmlich und wie in der griechischen Provinz üblich staubig, aber sauber. Für Nordeuropäer wirkt das Lager einfach und arm. Tatsächlich jedoch haben die Roma hier einen höheren Lebensstandard, als er in den griechischen Dörfern der Region in den siebziger Jahren herrschte. Einzig die zahlreichen Pick-up-Transporter, betont bunte Kleidung der Roma-Frauen und die typischen drei geflochtenen Zöpfe der unverheirateten Mädchen lassen vom Straßenbild erkennen, dass es sich um ein Roma-Lager und nicht um eine Arbeitersiedlung handelt.

Eine Existenz als fliegender Händler für Obst, Gemüse, Kleinmöbel und Geschirr, das ist der typische Erwerbszweig der Nomaden. Darüber hinaus treten sie als Wandermusiker, Lumpensammler und Schrotthändler in Erscheinung. Die Sesshaften verdingen sich meist als Erntehelfer. Wenn sie einen bürgerlichen Beruf ausüben, dann meist im Handel und nur in Einzelfällen als Angestellte.

Eine hohe Kinderzahl ist bei den Roma nicht selten und fällt daher kaum auf. Mädchen heiraten in der Regel vom 16. bis zum 18. Lebensjahr. Zumindest bezeugen dies die offiziellen Dokumente. Real zwölfjährige Bräute existieren offensichtlich auch. In griechischen Medien erklärten Roma ohne jegliches Schuldbewusstsein, dass in ihrem Lager auch eine Zehnjährige lebe, die im dritten Monat schwanger sei. Eine Hochzeit hätte Marias Eltern eine weitere Einnahmequelle beschert, den oft hohen Brautpreis, mehrere tausend Euro. Als blonde, hellhäutige Roma wäre sie auf dem Heiratsmarkt extrem attraktiv gewesen.

In einer Diskrepanz zum gewöhnlich niedrigen Bildungsstand der meisten Roma verfügen die Vereinsfunktionäre über beispielhafte Kenntnisse und eine breit gefächerte, exzellente Ausbildung. Einige wenige der Roma, so die Musikerfamilie Angelopoulos, der Liedermacher Kostas Chatzis und die Interpretin Eleni Vitali zählen zu den beliebtesten Künstlern des Landes und im Fall Chatzis sogar zum öffentlichen moralischen Gewissen.

Bildungshungrige Roma haben es schwer mit Vorurteilen. Vor knapp einem Jahr, im Oktober 2012, verlangten Elternpflegschaften zweier staatlicher Schulen im Athener Vorort Chalandri mit 294 zu 5 Stimmen den Ausschluss der Roma aus den Schulklassen. Die unerwünschten Schüler hausten in einem wilden Lager innerhalb der Gemeinde. Auch das Lager soll, geht es nach den Bürgerwünschen, weichen.

Im gesamten Land ist jetzt eine noch hysterischere Stimmung gegen die Roma spürbar. Schulkinder aus Roma-Familien fanden im nordgriechischen Veria mit farbigen Füllern und Mädchenschrift geschriebene Drohbriefe in ihren Ranzen. "Scheißzigeuner, Kinderdiebe verpisst euch", gehört zu den höflicheren Formulierungen, denen die Kinder ausgesetzt sind.

Der Fall der blonden Maria

Die leibliche Mutter und der Kauf eines Kindes

Die mittlerweile aufgetauchte, leibliche Mutter der blonden Maria, Sasha Rouseva, lebt in Bulgarien in bitterster Armut. Sie brachte das Mädchen, so belegen es die Geburtsunterlagen des Krankenhauses Lamias, am 31.1.2009 im Krankenhaus zur Welt. Rouseva war illegal im Land. Sie meldete das Kind nicht bei den Behörden an.

Polizeifoto der kleinen Maria

Die Krankenhausärzte unterließen dies mit Verweis auf ihre ärztliche Schweigepflicht ebenfalls. Mit dieser ist es nun vorbei. Die Behörden beschlagnahmten die Krankenhausunterlagen der vergangenen Jahre und suchen nach weiteren Fällen [5]. Das Dilemma der Ärzte ist, dass illegale Einwanderer sich bei einer behördlichen Meldung staatlicher Verfolgung aussetzen würden. Vor einer Ausweisung wäre in den meisten Fällen eine Haftstrafe wegen "illegalen Grenzübertritts" fällig.

Rousevas Zwangslage war nach eigenen Angaben [6], die finanzielle Not. Fünf ihrer neun weiteren Kinder leben in bulgarischen Waisenhäusern, da sie mit 40 Euro Stütze schlicht nicht genug Geld für Nahrung hat. Sie arbeitete hochschwanger als Erntehelferin. Nach der Geburt übergab sie das Mädchen, so behauptet sie nun, an ihre Arbeitgeberin. Die Dame, von der Rouseva lediglich eine mittlerweile ungültige Mobiltelefonnummer besitzt, habe ihr versprochen, das Kind für eine Weile zu pflegen. Rouseva verließ Griechenland unbezahlt und ohne Maria.

Anfang 2013 war sie erneut in Griechenland und brachte im Hippokrates-Krankenhaus in Thessaloniki wieder ein Kind zur Welt. Sie versuchte offenbar, das Kind zu verkaufen, wurde auf frischer Tat erwischt und kam gegen Auflagen auf freien Fuß. Die Auflagen hielt sie nicht ein. Sie floh nach Bulgarien und wird deshalb seit April 2013 in Griechenland per Haftbefehl gesucht.

Von einem bulgarischen Roma erwarben Christos Sali und Eleftheria Dimopoulou die kleine Maria für 80 Euro. Jedenfalls behaupten die beiden dies steif und fest. Hinter dieser illegalen Adoption verbarg sich nach Aussagen des Ehemanns die Liebe, die Dimopoulou für die kleine Maria empfand. "Von Anfang an habe ich ihr gesagt, dass das Kind eine Zeitbombe ist", beteuert der stämmige Neununddreißigjährige nun. Als seine Gattin mit Maria ankam, verschwand der wegen Erschwindelung von Urkunden Vorbestrafte aus Protest zunächst für einige Wochen aus der ehelichen Wohnstätte. Diese Aussage wird von allen Bewohnern des Lagers Farsala bestätigt. Auch heute noch, aus der U-Haft heraus, versuchen die "Adoptiveltern", juristisch das Sorgerecht für das kleine Kind zu erhalten.

Die vierzigjährige Eleftheria Dimopoulou bestand trotz Ehekrach darauf, das von ihr geliebte Kind zu behalten. Sie meldete seine Geburt im Athener Standesamt problemlos an. Als Adresse für die Hausgeburt gab sie die Alexandras Avenue 130 an. Ein Wohnhaus gibt es an dieser Stelle, nur wenige hundert Meter vom Athener Polizeipräsidium und fast gegenüber des höchsten griechischen Gerichts, des Areopags, jedoch nicht. Die Alexandras Avenue 130, einem ehemaligen Abbruchgelände, ist nun eine Baustelle für ein Bürogebäude einer Mobilfunkfirma. Der Geburtsurkunde gemäß wurde Maria am 31.1.2009 geboren. Amtsärztliche Untersuchungen ergaben allerdings ein Alter von fünf bis sechs Jahren. Offenbar ist der Wissenschaft hier ein Fehler unterlaufen.

Maria ist, soviel steht nach DNA-Tests fest, kein Kind von Dimopoulous, sondern von Rouseva. Sie ist aber auch eine Roma und kein geraubtes Kind einer nordeuropäischen Familie. Denn auch diese Version wurde medial verbreitet und sorgte bei zahlreichen Eltern verschwundener Kinder für falsche Hoffnungen. Die Mutter des 1991 aus einer Hotelanlage auf Rhodos geraubten Ben Needham glaubte in Maria eine potentielle Enkelin zu erkennen. Weil blonde Roma nicht ins allgemeine Klischee passen und weil als Kollateralschaden des Falls Maria eine allgemeine Hysterie ausgebrochen war, saß auf Zypern ein blonder Roma aus Rumänien fest. Der zweiundzwanzigjährige glich dem wissenschaftlich ermittelten Phantombild eines erwachsenen Ben Needham und musste sich einem DNA Test unterziehen. Zum Leidwesen der Mutter des verschwundenen Kindes gab es auch hier ein negatives Ergebnis [7].

Polizeifoto von Eleftheria Dimopoulou

Im Zug der Aufklärung des Falls wurde bekannt, dass das blonde Kind auch einem noch nicht näher benannten reicheren Griechen aus Larissa ins Auge gefallen war. Zwischen zwanzig und fünfundzwanzigtausend Euro wollte er zahlen, damit das Roma-Pärchen ihm das Kind zur Adoption frei geben sollte. Aus dem Deal wurde nichts, weil dem potentiellen Käufer missfiel, dass Maria an einer Augenkrankheit leidet. Die hatten intensive ärztliche Untersuchungen gezeigt, die der Mann vor einer Adoption durchführen ließ. Marias Adoptiveltern hingegen ließen die Augen behandeln und schmissen nach erfolgreicher Behandlung ein großes Fest für das gesamte Lager Farsala.

Marias "Adoptivmutter", der Staat und das Geld

Tatsächlich ist in dem gesamten Fall auch Geld im Spiel. Frank und frei gab Christos Sali zu, "vier Kinder sind von mir, bei den anderen müssen sie meine Frau fragen". Das klingt seltsam für einen traditionsbewussten Roma. Fremdgehen ist schließlich nur Männern erlaubt. Doch Dimopoulou ging nicht fremd, sie sammelte förmlich Kinder, fremde Kinder. Für insgesamt vierzehn Kinder ist sie behördlich als Mutter eingetragen. Das brachte ihr knapp 2800 Euro pro Monat. Geld, was der ansonsten bei Sozialleistungen knauserige Staat Familien mit vier Kindern und mehr zur Verfügung stellt. Listig nutzte sie eine zweite, formal legal erscheinende Identität als Selini Sali aus, um ein zweites Mal als Mutter von vier Kindern abzukassieren. Zu Selini Sali gehört ein weiterer Ehemann, der als Vater der Kinder gemeldet wurde.

Wie viele der gemeldeten Kinder Dimopoulous tatsächlich existieren oder wie sie selbst schlicht mit doppelten Identitäten ausgestattet wurden, ist weiterhin unbekannt. Als zusätzliche Einnahmequelle für Roma gibt es die staatlichen Abendschulen. Den Angehörigen des fahrenden Volks steht eine jährliche Prämie zu, wenn sie sich in Sekundärstufen einschreiben. Meist füllen sich die entsprechenden Klassen zu Schuljahresbeginn mit zehn bis fünfzehn Roma. Einen Monate später sind sie dann meist verschwunden. Die Roma sind die einzige Volksgruppe im Land, die mit einer sechsjährigen Volksschulbildung an den für sie essentiellen PKW-Führerschein kommen kann. Für die übrigen Griechen ist der Abschluss einer neunjährigen Schulausbildung unbedingte Vorraussetzung.

Alles kulturelle Eigenheiten, an die sich der griechische Staat bereits gewöhnt hat. Dimopoulou aber brachte das Kunststück fertig, eine normale Geburt und eine weitere Zwillingsgeburt innerhalb von weniger als fünf Monaten beim gleichen Standesamt registrieren zu lassen. Als wäre das nicht genug, folgten nach wenigen Monaten eine weitere Zwillingsgeburt und eine einzelne Geburt innerhalb von nur dreieinhalb Monaten. "Hätte jemand hingesehen, er hätte unweigerlich merken müssen, dass bei den angeblichen Zwillingen ein eklatanter Altersunterschied besteht. Eine sieht nun aus wie fünfzehn und die andere wie beinahe vierzig", bemerkte der Polizeisprecher Thessaliens sarkastisch und mit einer hohen Dosis Übertreibung.

Die Romakinder bringen ihren Eltern noch über einen weiteren Weg Geld. Die kleine Maria war ebenso ans Betteln an Ampeln und Straßenecken gewöhnt wie ihre übrigen Geschwister. Als hellhäutiges Straßenkind erregte sie besonderes Mitleid und brachte höhere Summen als ihre Geschwister nach Hause.

Das als wissbegierig und intelligent beschriebene Mädchen spricht kaum Griechisch und verständigt sich hauptsächlich über die Sprache der Roma. Sie lernt schnell, berichten ihre Betreuer. Maria kümmert sich intensiv um ihre Puppen und ihre Körperhygiene. Die Betreuer sind zuversichtlich, dass sie schon bald in den normalen Schulalltag geführt werden kann.

Die überwiegende Anzahl der erschlichenen Geburtsregistereinträge betrifft Mädchen. Jungs würden automatisch an die Kreiswehrersatzämter gemeldet und könnten daher leichter auffallen. Erst jetzt denkt die Regierung an eine Gesetzesnovelle, um die Sozialhilfe für kinderreiche Familien an den nachweislichen Schulbesuch zu koppeln. So könnten zumindest die doppelten Meldungen einzelner Kinder erfasst werden.

Zumindest jetzt sind die Behörden und Fahnder aufmerksamer. In Mytilini wurden am Mittwoch vergangener Woche ein einundzwanzigjähriger Mann, seine neunzehnjährige Lebensgefährtin und seine einundfünfzigjährige Mutter festgenommen. Sie hatten versucht, ein zweieinhalb Monate altes Kind beim Standesamt mit einer nachträglichen Erklärung als eigenes Kind anzumelden. Die Polizei wurde stutzig und nahm die kleine Gruppe in die Mangel. Nach zahlreichen Ausflüchten und Widersprüchen gestand das bislang kinderlose Pärchen, dass das Kind angeblich von Verwandten stamme. Der junge "Vater" sei wegen einer Nierenerkrankung zeugungsunfähig, beteuerte der Bruder des Verhafteten ohne jegliches Schuldbewusstsein. "Die Verwandten, die ihm das Kind überließen, haben doch bereits den Status des Vielkinderpaares", bemerkte er gegenüber Journalisten.

So weltfremd wie sie klingt, ist diese Erklärung nicht. Für die Roma ist die Zeit stehen geblieben. Illegale Adoptionen großen Stils gab es in Griechenland vor allem in den Sechzigern. Aus dem staatlichen Waisenhaus Agios Stylianos wurden damals hellhäutige und blauäugige Kinder per Katalog in die USA verkauft (http://www.seasyp.gr/gr/trial1964b.htm). Nur wenige griechische Paare mit besten Verbindungen kamen an solche Kinder. Die einundfünfzigjährige Marianna ist ein solches Kind. Auch heute noch fürchtet sie sich vor den damaligen Menschenhändlerringen und möchte ihre Identität verschleiern. "Illegale Adoptionen oder Anmeldungen bei Ämtern klappen niemals ohne dass auch von der Seite des Staatsapparats jemand mithilft", meint sie gegenüber Telepolis. In den Akten ihrer verstorbenen Adoptiveltern entdeckte sie, dass in ihrem Fall alle Instanzen mithalfen. Der als einfacher Sekretär arbeitende Vater wurde in amtlichen Dokumenten bei Gericht zum Chefarzt erklärt, damit er den für Adoptionen notwendigen sozialen Status erfüllen konnte. In der seinerzeit dreißigjährigen Mutter erkannte das Gericht, wie im damaligen Adoptionsrecht vorgeschrieben, eine Fünfzigjährige.

Marianna kennt noch nicht einmal ihr genaues Geburtsdatum. Zwei verschiedene Tage im Februar sind in ihren Amtlichen Papieren verzeichnet. Bei Nachforschungen fand sie heraus, dass sie tatsächlich im März 1962 geboren sein könnte. Sie hat Kontakt zu zahlreichen ihrer Altersgenossen. Die Adoptionskinder von einst sind heute vereint in Interessenverbänden. Sie suchen über Verbände aber auch mit Blogs (http://illegalgreekadoptions.blogspot.gr/) alle nach der Spur ihrer wahren Eltern. "Es ist aussichtslos. Nicht einmal beim roten Kreuz oder in Krankenhäusern gibt es Unterlagen. Dafür aber existieren zahlreiche Spinner, die unsere Hoffnungen für ihre eigenen finanziellen Interessen verwenden", klagt Marianna. Die Akten der in den Skandal verwickelten Waisenanstalten verbrannten 1982 auf mysteriöse Weise. Juristisch belangt wurde nur der Chef der Anstalt Agios Stylianos, weil er vor Gericht die Alleinschuld auf sich nahm.

Leider sieht alles danach aus, als würde der aktuelle Fall ebenso enden. Man wird vergessen was geschehen ist und in ein paar Jahren fallen wir wieder alle aus den Wolken, wenn das nächste, dem Mitleidsfaktor des Mainstreams entsprechende, verschwundene Kind auftaucht.

Denn auch im Fall des Waisenhauses Agios Stylianos gab es zuletzt im Januar 2013 eine Wiederholung. Eine freiwillige Helferin des Heimes flog auf. Sie hatte Adoptionen für 3000 Euro pro Kind vermittelt (http://www.makthes.gr/news/reportage/99514/).


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[1] https://www.heise.de/tp/news/Zu-blond-fuer-ein-Romakind-2048872.html
[2] http://www.real.gr/DefaultArthro.aspx?page=arthro&id=261424&catID=3
[3] http://www.astynomia.gr/index.php?option=ozo_content&lang='..'&perform=view&id=33294&Itemid=1181&lang=
[4] http://www.astynomia.gr/index.php?option=ozo_content&lang='..'&perform=view&id=33338&Itemid=1181&lang=
[5] http://www.enikos.gr/society/185639,BINTEO-Sfragisan_to_vivlio_neognwn_sth_L.html
[6] http://www.protothema.gr/greece/article/323624/se-kratika-idrumata-pede-apo-ta-paidia-tis-viologikis-miteras-tis-marias/
[7] http://www.sigmalive.com/news/local/72702