Verurteilter Demonstrant im Iran: "Ich wollte nicht mehr schweigen"

Seite 2: Jede neue Protestwelle bringt neue Vorbilder hervor

Was wollte man von Ihnen wissen?

Omar Rahimi: Ich habe einen Fragebogen bekommen, da standen Dinge wie: Warum bist du auf die Straße gegangen? Welchen Seiten folgst du auf Instagram? Wie lautet das Passwort deines Handys? Mein Handy habe ich zum Glück zu Hause gelassen. Weil sie mir das nicht sofort geglaubt haben, hat mich einer wieder heftig geschlagen.

Es war ein Rollenspiel zwischen gutem Bullen und bösem Bullen. Der eine redet dir sanft zu und beteuert, dass er dir nur helfen will, der andere schlägt und beleidigt dich. Irgendwann wollte ich nur noch dem "Guten" alles beichten, damit der andere mich in Ruhe lässt.

Und danach sind Sie direkt ins Gefängnis gekommen?

Omar Rahimi: Es gab vorher noch mehrere Vernehmungsrunden, die haben über eine Woche gedauert. In dieser Zeit hat man mich in eine Einzelzelle ohne Fenster gesperrt, es gab nur ein grelles Licht, dass immer an war, sodass ich komplett das Zeitgefühl verloren habe.

Dort hatte ich nur mich selbst und meine Angst, ich dachte ständig daran, was in der Zwischenzeit draußen wohl passiert. Das war der härteste psychische Zustand, den ich je erlebt habe. Das normale Gefängnis war eine Erleichterung dagegen.

Sie sind gegen Kaution freigekommen. Wann müssen Sie wieder ins Gefängnis?

Omar Rahimi: Mein Hafturlaub dauert eine Woche, dann muss ich zurück. Mein Urteil ist inzwischen rechtskräftig, man hat mich unter anderem wegen "Verstößen gegen die nationale Sicherheit" zu mehr als zehn Jahren Haft und mehreren Peitschenhieben verurteilt.

Zuerst wollten sie mich wegen "Krieg gegen Gott" und als Anführer der Protesten verurteilen, damit hätte ich die Todesstrafe riskiert. Aber diese Anklage wurde aus Mangel an Beweisen fallengelassen.

Warum haben Sie überhaupt an den Protesten teilgenommen?

Omar Rahimi: Am Tag, an dem ich von Mahsa Amini erfahren habe, war ich am Boden zerstört. Stell dir vor, deine Regierung erniedrigt und misshandelt dich ständig, nur wegen deines Glaubens. Und dann hörst du, wie deine Leute wegen dieser absurden Gesetze, die es nur hier gibt, geschlagen und getötet werden.

Das hältst du irgendwann nicht mehr aus, du rebellierst. Ich konnte nur noch an Mahsa und an die Tausenden anderen Menschen denken, die wegen dieses Systems sinnlos gestorben sind. Deshalb bin ich auf die Straße gegangen.

Bereuen Sie es jetzt?

Omar Rahimi: Überhaupt nicht. Ich habe im Gefängnis wunderbare Menschen kennengelernt und habe viel von ihnen gelernt. Ich bin stolz auf mich und die anderen, die protestiert haben. Wenn manche einen Helden in mir sehen, freut mich und beschämt mich das zugleich, weil ich im Grunde nichts Besonderes getan habe, nur meine Pflicht. Ich wollte nicht mehr schweigen, ich wollte nicht, dass meine Kinder mich einmal fragen können: Papa, warum hast du damals nichts unternommen?

Wie ist die Stimmung bei anderen Häftlingen?

Omar Rahimi: Wer an diesen Protesten teilgenommen hat, steht ständig mit den anderen in Kontakt. Wenn einer freigelassen wird, erfahren es sofort die anderen. Das ist dann jedes Mal eine große Freude. Andere, so wie ich, müssen sehen, wie andere aus dem Gefängnis freikommen, während sie selbst bleiben müssen. Wir tun unser Bestes, um uns gegenseitig zu unterstützen und selbst positiv zu bleiben, aber es ist hart, im Gefängnis zu sein.

Glauben Sie, dass die Iranerinnen und Iraner etwas verändern werden?

Omar Rahimi: Wenn ich sehe, dass Leute mich für einen Held halten, bestärkt mich das, aber zugleich möchte ich, dass die, die mir Beifall klatschen, sich selbst ein Herz fassen und etwas unternehmen. Veränderung ist unter diesem System nur möglich, wenn alle sie wollen und dafür kämpfen. Nicht nur 40 oder 60 Prozent der Leute, sondern 100 Prozent.

Und wird es dazu kommen?

Omar Rahimi: Ja, das glaube ich. Bald sogar.

Warum sind Sie sich so sicher?

Omar Rahimi: Ich bekomme unglaublich viel Unterstützung, nicht nur von meinem Umfeld, sondern auch von Unbekannten. Sie halten mich für ein Vorbild. Mein eigenes Vorbild war Navid Afkari, der Wrestler, dem vorgeworfen wurde, bei den Protesten 2018 einen Sicherheitsmann getötet zu haben. Er hat bis zuletzt für Gerechtigkeit gekämpft und wurde trotzdem hingerichtet.

Jede neue Protestwelle bringt neue Vorbilder hervor und je mehr Vorbilder die Menschen haben, desto mehr Menschen werden sich trauen, beim nächsten Mal selbst auf die Straße zu gehen. Wenn die Leute nicht schon 2019 protestiert hätten, wären wir heute auch nicht auf die Straße gegangen. Es ist wie eine Kettenreaktion.

Und die Angst?

Omar Rahimi: Jede Revolution fordert Blutopfer. Wer etwas gewinnen will, muss auch bereit sein, etwas zu verlieren. Genau das ist wahre Freiheit: alles überwinden, auch sich selbst. Freiheit ist ein wenig wie der Tod, man lässt alles hinter sich und geht auf sie zu. Und wenn man einmal damit angefangen hat, gibt es kein Zurück.

Was sind Revolutionsgerichte?

Politische Gegner und Demonstranten wie Omar Rahimi werden im Iran nicht von normalen Gerichten, sondern von sogenannten "Islamischen Revolutionsgerichten" verurteilt. Diese Sondergerichte wurden während der Islamischen Revolution 1979 errichtet und dienen bis heute dazu, Oppositionelle ohne lästige rechtsstaatliche Rahmenbedingungen zu unverhältnismäßig hohen Strafen zu verurteilen.

Die Revolutionsrichter übernehmen zugleich die Funktion von Staatsanwälten und Angeklagte haben, falls ihnen die Gefährdung der nationalen Sicherheit vorgeworfen wird, keinen Anspruch auf einen selbstgewählten Anwalt.

Ihr erster Oberster Richter war Sadeq Chalchali, ein Fanatiker, der sich zu Lebzeiten damit rühmte, Hunderte Menschen zum Tod verurteilt zu haben. Auch heute sind viele Richter der Revolutionsgerichte als "Blutrichter" bekannt, darunter Abdolqasem Salavati, der im Dezember das Todesurteil des ersten hingerichteten Demonstranten, Mohsen Schekari, unterschrieb.

Obwohl die Revolutionsgerichte offiziell dem Justizministerium unterstehen, stammen die Anklagen in der Praxis aus dem Geheimdienstministerium oder aus dem hauseigenen Geheimdienst der Revolutionsgarden. Die Richter halten sich in den meisten Fällen an die Vorgaben der Geheimdienste, sodass die Anklage automatisch zum Urteil wird. Verhandlungen finden in der Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

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