Verzweiflung sorgt für Tote an Grenzen im "Europa ohne Grenzen"

Abgesperrte Fußgängerbrücke mit Bewachung. Foto: Ralf Streck

Seit 2018 hat Frankreich eine scheinbar unsichtbare Grenze zu Spanien hochgezogen, die mit dem Vorwand "Corona" wieder zu einer Grenze mit dauernden Grenzkontrollen wurde

Der Traum eines Europas ohne Grenzen hat in den letzten Jahren einen herben Rückschlag erlitten. Zwischen Frankreich und Spanien wurde, wie auch im von beiden Staaten geteilten Baskenland, wieder eine Grenze mit dauernden Grenzkontrollen errichtet.

War sie zunächst scheinbar unsichtbar, hat sie sich unter dem Vorwand der Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus und eines angeblichen Vorgehens gegen den Terrorismus wieder in eine handfeste Grenze verwandelt. Das Schengen-Abkommen ist ausgesetzt und Absperrungen und massive Grenzkontrollen, die sich vor allem gegen Flüchtlinge und Einwanderer wenden, sind inbegriffen.

Diese Abschottung mitten in Europa hat in den letzten drei Monaten an dieser Grenze zu drei Todesfällen geführt. Zwei junge Menschen sind beim Versuch ertrunken, den Bidasoa-Fluss von Irun nach Hendaye schwimmend zu durchqueren; ein Flüchtling aus Eritrea beging vermutlich Selbstmord am Ufer in Irun.

Telepolis sprach mit dem Fotojournalisten Gari Garaialde, einem Sprecher der Nichtregierungsorganisation Irungo Harrera Sarea (Aufnahmenetzwerk Irun), über die Situation.

Wann und warum hat Irungo Harrera Sarea (Aufnahmenetzwerk Irun) mit seiner Arbeit hier am Bidasoa-Fluss begonnen, der in Irun das spanische Baskenland vom französischen Baskenland trennt?
Gari Garaialde: Schon vor vielen Jahren ist es mir passiert, dass ich hier von Leuten, vor allem von Schwarzafrikanern, angesprochen wurde, die den Weg zur Grenze gesucht haben. Hier sind immer wieder Leute über die Grenze gegangen. Ab Mitte 2018 wurden dann in einigen Städten oder Aufnahmezentren des Roten Kreuz im spanischen Staat Leute verstärkt mit dem Bus in andere Regionen geschickt.
Es erschien dann in einer Zeitung ein Bericht, dass mit einem Bus etwa 20 sogenannte "Illegale" aus Madrid in San Sebastian eingetroffen seien, die später in Irun landeten, um über die Grenze zu gehen. Wir waren hier mit einer Situation konfrontiert, dass plötzlich etwa zwei Dutzend Menschen auf den Straßen waren, da sie nicht auf die andere Seite gelassen haben oder die zurückgebracht wurden.
Einige Leute hier wollten das nicht hinnehmen, haben zunächst ein tägliches Frühstück organisiert, um mit den Leuten zu sprechen. Wir haben dann solidarisch einfache Sachen organisiert, wie eine Dusche, Schlafplätze und sie auch ans Rote Kreuz vermittelt. Das markierte den Beginn für uns, uns zu organisieren, auch um Druck auf die Institutionen auszuüben, damit Schlafplätze und Hilfe bereitgestellt werden.
Grenzkontrollen zwischen Hendaye und Irun; kontrolliert werden vor allem Kleinbusse. Foto: Ralf Streck
Es scheint, dass sich unter den Flüchtlingen und Einwandern diese Route über den Atlantik herumgesprochen hat, also immer mehr Menschen den Weg über Irun in den Norden gesucht haben. Wie hat sich die Lage für das Netzwerk entwickelt?
Gari Garaialde: Die Situation wurde schwieriger, weil es stets viel zu wenig Schlafplätze gab und die Institutionen die Leute und auch uns ständig verwirrten, da ankommende Menschen an einem Tag hier und am nächsten woanders übernachten sollten. Wir haben dann mit dem selbstverwalteten Jugendhaus "LaKaxita" (Häuschen) gesprochen. Das hat seine Türen geöffnet. Es wurde ein Raum zum Übernachten, Platz für den Aufenthalt und eine Kochmöglichkeit und ein Anlaufpunkt geschaffen.
Anfänglich haben wir für die Leute gekocht. Wir haben aber schnell angefangen, sie in die Arbeiten einzubinden, denn wir sind kein Servicebetrieb, sondern freiwillige Helfer. Wir haben dann gemeinsame Gruppen gebildet, für das Einkaufen, Kochen usw., um sie auch in Aktivitäten einzubinden. Es wurden auch Sprachkurse eingerichtet, für Leute die hierbleiben wollten, es wurden Informationen und Kontakte vermittelt. Das war wirklich schön, ein toller Austausch.
Derweil hat dann auch das Rote Kreuz seine Kapazitäten erweitert. In einer angrenzenden Schule wurden Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Und zwischen all diesen Einrichtungen, denn das kleine Jugendhaus stieß schnell an seine Grenzen, haben wir hier die Aufnahme organisiert. Wir haben uns in dieser Zeit als Netzwerk organisiert, das es offiziell nicht gibt, das nirgends eingetragen oder registriert, aber für alle sichtbar ist.
Wie war das Verhalten der Institutionen? Mussten die erst vom Netzwerk auch mit großen Demonstrationen zur Unterstützung getrieben werden, als Tausende Menschen gemeinsam die Grenze überschritten haben?
Gari Garaialde: Die Institutionen verhalten sich, wie sie sich meist verhalten. Solange ein Problem nicht praktisch schon in ihren Händen explodiert, ist es so, als gäbe es diese Menschen gar nicht. Wenn das Problem dann mehr als offensichtlich ist, machen sie meist nur das, was unvermeidbar ist, also so wenig wie möglich.
Das war ein Grund, warum wir als Anlaufstelle längst nicht mehr das Jugendhaus nehmen, sondern nun täglich von 10 bis 12 Uhr auf dem Rathausplatz sind, um das Problem auch öffentlich zu zeigen, darauf hinzuweisen, dass wir eine Arbeit machen, die eigentlich die Institutionen machen sollten.
Anlaufstelle auf dem Rathausplatz in Irun. Foto: Ralf Streck
Die Stadt- und die Provinzverwaltung haben sich nach Protesten zwar eingeschaltet, aber wir haben es hier mit zwei Verwaltungen an der Grenze zu tun: mit der im spanischen und mit der im französischen Staat.
Deren Verhalten ist völlig unterschiedlich. Während man im spanischen Staat darauf ausgerichtet ist, dass die Leute möglichst schnell weiter in den Norden ziehen, wehrt Frankreich sie ab. Wer es über die Grenze schafft und aufgegriffen wird, wird schnell zurückgeschafft.
Die spanische Polizei schaut einfach über die Leute hinweg, als gebe es sie nicht, während die französischen Sicherheitskräfte nach ihnen suchen, sie festnehmen und einfach nach Irun zurückschaffen, ohne jede Prüfung, ohne sie über die Rechte zu informieren oder um eventuell Asylanträge aufzunehmen.

Mit Booten über die Kanaren

Diese Vorgänge, die auch heiße Abschiebungen genannt werden, haben auch Polizisten eingeräumt und zum Teil, wie Tom Dubois, den Dienst deshalb quittiert. Er bezeichnet die Vorgänge als "inhuman" und wirft Präsident Macron vor, die Politik der rechtsextremen Le Pen zu exekutieren. Verhalten sich alle Institutionen im französischen Staat so?
Gari Garaialde: Nein, so hat zum Beispiel Bayonne sehr gut reagiert, als die Leute von hier, die es bis Bayonne geschafft haben, dort ankamen. Es gab damals auch schon eine Hilfsorganisation dort und gemeinsam mit dem Bürgermeisteramt wurde eine Art Herberge für die Leute zum Ausruhen und Übernachten geschaffen. Es gab dort schnell viel Unterstützung, was wir von hier aus mit etwas Neid verfolgt haben.
Die Empathie ging so weit, dass sogar eine Bushaltestelle verlegt wurde, damit die Polizei die Leute nicht auf dem Weg zu diesem Anlaufpunkt abgreifen und wieder nach Irun verfrachten konnten. Interessant war auch, dass damit Linke wie Rechte einverstanden waren, jeder aus seiner Perspektive. Die einen, damit die Leute nicht auf der Straße herumhängen und einigermaßen kontrolliert an einem Ort sind, die anderen, um ihnen in der schwierigen Situation zu helfen.
Welche Leute kommen hier an der Grenze an? Woher kommen sie, wie sind sie nach Spanien gelangt? Zuletzt nahm die Zahl derer, die hier ankamen im Frühjahr wieder deutlich zu, da Hotels auf den Kanarischen Inseln, die zunächst wegen Covid leer standen und mit Einwandern und Flüchtlingen belegt waren, vor dem vermuteten Ostergeschäft auf die Straße gesetzt wurden.
Gari Garaialde: Das war tatsächlich so. Uns haben dies Organisationen von dort bestätigt, mit denen wir in Kontakt stehen. Die große Mehrzahl der Menschen, die hier landen, kommt über die Kanarischen Inseln, da der Weg über die Meerenge bei Gibraltar weitgehend von Marokko versperrt wird. Spanien bezahlt Marokko dafür, den Vorposten zu spielen und die Leute nicht durchzulassen, auch nicht in die Nähe der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla.
Deswegen führt die Route vieler über Mauretanien oder über die Westsahara mit Booten auf die Kanaren. Es ist ja offensichtlich, dass sie von dort ohne Erlaubnis nicht wegkommen. Oft werden sie sogar über Flugzeuge auf das Festland verteilt, was natürlich auch logisch ist. In Irun kommen dann praktisch nur noch die Leute an, die weiter über die Grenze wollen. Kaum jemand will tatsächlich bleiben.

Die Situation der Frauen

Es sind vor allem Männer, die hier ankommen. Wie stellt sich die Situation von Frauen dar?
Gari Garaialde: Um Zahlen zu nennen: 95 Prozent derer, die durch Irun kommen, sind Männer, nur etwa fünf Prozent Frauen. Leider ist Anaitz Agirre, sie ist Migrations-Expertin und arbeitet auch an der Universität und für SOS-Rassismus, gerade nicht hier. Sie könnte die Fragen zur speziellen Lage von Frauen besser beantworten. Es ist klar, dass Frauen den Weg oft anders machen, nicht selten wird über Schleuser bis zum Endpunkt bezahlt oder sie bezahlen auch mit ihrem Körper.
Klar ist auch, dass sie zum Teil extremer sexueller Gewalt auf ihrem Weg ausgesetzt sind und hier schwanger ankommen. Es ist für sie nicht einfach, davon zu berichten, schon gar nicht mir gegenüber als Mann. In Interviews haben mir zwei junge Frauen, die Vertrauen gefasst hatten, davon erzählt, dass sie in Marokko zum Beispiel von den Obdachlosen verfolgt und vergewaltigt wurden, da sie sich an der untersten Skala befanden und damit quasi Freiwild waren.
Es ist schwierig, denn viele wollen darüber nicht sprechen und oft sind sie nicht lange genug hier, um Vertrauen aufzubauen. Es ist deshalb bei der Ankunft immer gut, wenn auch Frauen von hier dabei sind. Das kann man an deren Verhalten sehr einfach feststellen. In eine gemeinsame Unterkunft mit Männern gehen sie zum Beispiel nicht. Sie bleiben dann lieber auch im Winter bei Regen auf der Straße, wenn es keinen Schlafraum nur für Frauen gibt.
Demo für Flüchtlingsrechte am 26. Januar 2019 von Irun nach Hendaye auf der Grenzbrücke. Foto: Ralf Streck
Wie hat sich die Lage an der Grenze entwickelt. War es anfänglich einfacher, den Fuß auf das französische Staatsgebiet zu setzen als heute, wo Frankreich zunächst mit einer angeblichen terroristischen Bedrohung und dann wegen Covid das Schengen-Abkommen zunächst bis Ende Oktober ausgesetzt hat?
Gari Garaialde: Sicher. Die Funktion der französischen Polizei ist, die Leute nicht auf die andere Seite zu lassen. Das ist hier, wo es nur ein paar Brücken gibt, relativ einfach zu kontrollieren, zumal Kameras angebracht wurden und die Gendarmerie in Hendaye praktisch direkt über der Grenze wacht.
Dadurch wird eine konstante Überwachung ermöglicht, aber die Leute kamen trotzdem rüber. Mit dem Vorwand Covid wurden dann wieder ständige Kontrollen an einer Grenze in Europa eingeführt, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.
Dann, und das ist meine persönliche Meinung, haben sie sich auch noch eine terroristische Bedrohung in Frankreich ausgedacht und darüber das Schengen-Abkommen ausgesetzt. Auch die Fußgängerbrücke ist wieder komplett abgeriegelt und wird bewacht.
Seit Langem wird die Grenze wieder 24 Stunden am Tag kontrolliert. Es sagt zwar keiner, aber es ist offensichtlich, dass sich die Kontrollen gegen die Einwanderung richten, vor allem gegen Schwarzafrikaner. Deshalb wurde es vor allem für die immer schwieriger, auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Doch nur weil es schwieriger wird, ist es nicht unmöglich.

"Irgendwann kommen sie durch"

Wie sind die Erfahrungen nun hier? Kommen die Leute rüber oder wird das effektiv über die Kontrollen verhindert?
Gari Garaialde: Menschen, die aus Mali, Guinea oder Kamerun eine Wüste durchquert haben, die über den Atlantik oder das Mittelmeer gekommen sind, die oft zwei Jahre unterwegs waren und nicht selten 3.000 Euro an Schleuser bezahlt haben, lassen sich von einem Fluss und Polizeikontrollen nicht abhalten. Ich habe mit einem jungen Mann gesprochen, der 19 Tage in einem Boot ausgeharrt hat. Sie erzählen dir, dass von 23, mit denen sie gestartet sind, 14 auf dem Weg gestorben sind…
Klar, es ist schwieriger geworden, aber sie kommen trotzdem durch. Und sie werden stets einen Weg finden, hier oder an einer anderen Stelle. Wir haben hier Leute, die fünf-, sechsmal oder noch öfter zurückgeschafft wurden. Irgendwann kommen sie durch. 4.100 Personen wurden auf der Durchreise hier im vergangenen Jahr in Irun von uns und dem Roten Kreuz registriert.
Sie sind fast alle über die Grenze gekommen. Wir hätten sonst ein ganz anderes Bild in den Straßen hier, 4.000 Menschen würden in der Stadt hier deutlich auffallen. Früher oder später kommen fast alle rüber, die es wirklich wollen. Bisweilen versuchen sie auch, durch den Fluss zu schwimmen. Das führte letzte Woche wieder dazu, wie vor zwei Monaten schon einmal, dass sie sie dabei ertrinken.
Wie stellt sich die Lage gegenwärtig dar und wieso kommt es plötzlich zu drei Toten hier in den letzten drei Monaten? Ist das Verzweiflung, dass die Leute es nun versuchen, durch den Fluss zu kommen?
Gari Garaialde: Sicher. Viele glaubten, dass sie in Europa an den Grenzen keine Probleme mehr haben würden, was nach einer oft langen Reise mit vielen Problemen eine psychologisch sehr schwierige Situation ist und ihnen oft schwer zu schaffen macht. Sie sind oft auch müde und ausgelaugt, wenn sich dann vor ihnen das nächste Hindernis aufbaut.
Im Fall des 18-jährigen Abdulaye Kulibaly, der aus Guinea kam, stellte sich die Lage so dar. Er kam vier Tage vor diesem tragischen Sonntag in Irun an und wurde beim Roten Kreuz registriert. Er hatte es vier oder fünf Mal erfolglos versucht, über die Grenze zu kommen, um zu seinem Onkel in Nantes zu gelangen. Der junge Mann wurde immer wieder zurückgebracht.
Er hat auch Schleusern 100 oder 150 Euro bezahlt, wie wir von Leuten aus seinem Umfeld erfahren haben. Doch er wurde in Hendaye aufgegriffen und wieder nach Irun gebracht. Dazu kam, dass er in dieser Nacht nicht wieder in den Einrichtungen des Roten Kreuz übernachten konnte, eigentlich ist das nur für drei Tage möglich, er war aber sogar vier Tage dort. Der Druck und die Verzweiflung wurden immer größer, weshalb er es wohl dann durch den Fluss versucht hat.

Der gefährliche Fluss

Wie besprechen die freiwilligen Helfer des Netzwerks die Fluss-Problematik mit Neu-Ankömmlingen? Der Bidasoa sieht ja, vor allem bei Ebbe oder ein paar Kilometer weiter oben nicht gerade wie ein großes Hindernis aus.
Gari Garaialde: Bis vor etwa fünf Monaten haben wir das Thema gar nicht angesprochen, weil wir uns nicht vorgestellt hatten, dass jemand es schwimmend durch den Fluss versuchen könnte, da es doch immer wieder andere Möglichkeiten gibt. Erst als auf der anderen Seite in Hendaye gerade noch aus dem Fluss gerettet werden konnte, ist uns das Problem richtig klar geworden. Wir warnen nun alle davor, es über den Fluss zu versuchen.
Es sieht nicht so aus, als stelle der Bidasoa ein Hindernis dar, doch die Strömungen sind tückisch. Foto: Ralf Streck
Die Strömungen sind heimtückisch, auch wenn das nicht so aussieht, die Situation ändert sich bei Ebbe und Flut ständig. Dass es bisweilen gerade einmal 20 bis 25 Meter bis zur anderen Seite sind, ist aber verlockend, vor allem wenn die Verzweiflung steigt. Nachdem der 28-jährige Yaya Karamoko, der aus der Elfenbeinküste kam, Ende Mai im Bidasoa sein Leben verlor, warnen wir eindringlich vor dem Fluss. "Nicht durch den Fluss", sagen wir immer wieder.
Angesichts von zwei Toten sprechen wir nun nicht mehr mit den Leuten von einer abstrakten Gefahr, sondern von einer ganz konkreten. Aber wenn es keine andere Möglichkeit gibt, werden sie es auch weiter durch den Fluss versuchen. Sie werden alles tun, um auf die andere Seite zu kommen.
Gab es nicht noch einen dritten Toten?
Gari Garaialde: Das stimmt, aber über den jungen Mann aus Eritrea, der sich am Flussufer erhängt hat, wissen wir nur wenig. Ob es aus Verzweiflung war oder andere Gründe hatte, wissen wir nicht.
Welchen Zweck haben die Kontrollen, wenn es praktisch doch alle schaffen, sie zu überwinden?
Gari Garaialde: Sie verhindern tatsächlich nichts, sie schaffen nur Leid, Verletzte, Tote. Sie machen nur den Weg schwerer. Aus unserer Sicht machen sie keinen Sinn. Aber vor allem sind sie wohl dazu da, um zu zeigen, dass man etwas tut, vor allem gegenüber Rassisten und denen, die sich gegen Flüchtlinge und Einwanderer stellen.
Diese Klientel soll darüber beruhigt werden. Die Grenze wirklich zu öffnen, würde vermutlich zu großen Problemen mit diesen Leuten führen und das wäre wiederum Wasser auf die Mühlen der Ultrarechten.

Den Leuten die Realität vor Augen halten

Vielleicht eine etwas persönliche Frage. Ist das für Sie als professioneller Fotograf schwierig, wenn sie sich auf der einen Seite um Hilfe für die Leute bemühen und dann Bilder machen müssen, wie man sie als Leichen aus dem Fluss zieht?
Gari Garaialde: Das hat mich natürlich schon arg mitgenommen, aber mir ist natürlich auch klar, dass man diese Vorgänge dokumentieren und ans Licht der Öffentlichkeit zerren muss, sonst ändert sich nichts. Es ist eine Form, Druck zu machen, auch wenn sich dadurch vermutlich unmittelbar nichts ändert. Ich sehe das aber auch durch das professionelle Auge.
Screenshot Tweet von Gari Garaialde mit dem Bild des Toten. Bild: Ralf Streck
Ich bin auch Fotograf geworden, weil ich zu bestimmten Vorgängen eine kritische Haltung habe. Ich arbeite natürlich auch im Auftrag, aber ich versuche, so oft wie möglich, die Sachen zu fotografieren, die ich wichtig finde und man veröffentlichen sollte. Das können angenehme oder unangenehme Vorgänge sein.
Deshalb dokumentiere ich jetzt auch seit drei Jahren die Vorgänge hier an der Grenze. Viele Sachen können wir vielleicht heute noch nicht erzählen, aber um sie später erzählen zu können, muss man sie heute dokumentieren.
Es ist wichtig, den Leuten die Realität vor Augen zu halten, denn auch hier wird zum Teil ignoriert, welche Dramen sich vor der eigenen Haustür abspielen. Es ist verträglicher, davon zu lesen, dass ein Boot im Atlantik gekentert ist und Dutzende Menschen im Meer verschwunden sind. Aber es ist etwas anderes, wenn direkt vor der eigenen Nase Menschen sterben.
Wie geht die Gesellschaft hier im Umfeld in Irun, Hondarribia oder auch auf der anderen Seite der Grenze in Hendaye damit um? Stößt die Arbeit des Netzwerks oder stoßen die ankommenden Einwanderer und Flüchtlinge eher auf Ablehnung oder auf Solidarität?
Gari Garaialde: In Hendaye kenne ich mich nicht so gut aus, ich gehe aber davon aus, dass das in etwa gleich ist. Zu 90 Prozent herrscht vermutlich Gleichgültigkeit vor. Es ist klar, dass es auch Ablehnung gibt, Leute die Angst vor der Andersartigkeit anderer Menschen haben. Einige beschweren sich, aber am Anlaufpunkt kommen immer wieder Leute vorbei, die sich kümmern und informieren wollen.
In Irun haben zum Beispiel viele Geschäfte sehr gut reagiert, die uns die gesamte Kleidung und Schuhe nach den Schlussverkäufen zur Verfügung stellen, um sie weitergeben zu können. Insgesamt würde ich sagen, es gibt mehr Solidarität als Ablehnung.
Viele solidarische Hilfe gibt es auch auf der anderen Seite, denn letztlich heißt unser Netzwerk zwar Aufnahmenetzwerk Irun, aber es beteiligen sich auch Menschen und wir arbeiten mit Organisation aus Hendaye eng zusammen.