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Veto-Heuchelei: Warum die UN unfÀhig sind, Gaza- und Ukraine-Krieg zu deeskalieren

David Goeßmann

UN-GeneralsekretĂ€r AntĂłnio Guterres geht am Wandteppich "Guernica" vor dem Eingang zum Sicherheitsrat vorbei. Der Teppich ist dem Bild Pablo Picassos zum Spanischen BĂŒrgerkrieg nachgebildet. Bild: Mark Garten, UN

USA blockieren fĂŒr Israel Feuerpause-Resolution im Sicherheitsrat. Der Westen schweigt, auch Selenskyj ist nicht empört wie bei russischem Ukraine-Veto. Was ist da los?

Letzte Woche brachte Brasilien eine Resolution in den UN-Sicherheitsrat ein. Darin wurde eine "humanitÀre Pause" in Bezug auf Israels Bombardierung des Gazastreifens gefordert.

Bisher sind ĂŒber 5.800 PalĂ€stinenser, meist Zivilisten (mehr als 3.200 Kinder und Frauen darunter) getötet worden [1]. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza [2] sind in 24 Stunden 704 Gaza-Bewohner in israelischen Luftangriffen umgekommen.

Die Totalblockade hat nach Beobachtern eine humanitĂ€re Katastrophe in dem abgeriegelten, extrem dicht besiedelten Landstrich (nicht einmal halb so groß wie die FlĂ€che Berlins) hervorgebracht. Über eine Million Gaza-Bewohner mussten zudem im Zuge der Evakuierungsforderung Israels in den SĂŒdteil flĂŒchten. Die medizinischen Einrichtungen arbeiten am Rand des Kollapses.

Die wenigen Trucks, die seit dem Wochenende ĂŒber den GrenzĂŒbergang Rafah zu Ägypten nach Gaza gelassen wurden, werden von Hilfsorganisationen als völlig unzureichend kritisiert. Sie stellten lediglich einen "Tropfen in einem Ozean" [3] dar, heißt es.

Seit den Angriffen Israels auf die Enklave wird von Menschenrechtsorganisationen, diversen Staaten, internationalen Behörden und Politikern weltweit immer eindringlicher ein Waffenstillstand gefordert, nicht zuletzt von UN-GeneralsekretĂ€r AntĂłnio Guterres [4]. Doch diese Aufrufe stoßen weiter auf taube Ohren bei denen, die einen Bombenstopp veranlassen bzw. erzwingen könnten.

Sicherlich, fĂŒr die UN-Resolution am letzten Mittwoch stimmten zwölf LĂ€nder, sogar Frankreich und die Vereinigten Arabischen Emirate. Der Stimme enthielten sich zudem Russland und Großbritannien.

Aber das ist irrelevant. Denn die USA stimmten dagegen. Ein Nein der Vereinigten Staaten bedeutet nach den Regeln des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, dass der Antrag abgelehnt wird. Aus historischer Perspektive heißt das auch, dass es einen solchen Aufruf an Israel von den UN nicht gegeben hat. Damit wird er sowie die Reaktion Israels darauf zugleich aus der Geschichtsschreibung gelöscht.

Das Veto der USA wurde von Menschenrechtsgruppen wie Human Rights Watch heftig kritisiert [5]. AuffĂ€llig ist, dass die westlichen Staaten sich nicht zu dem Veto und seinen Folgen Ă€ußerten. Im Übrigen auch nicht der ukrainische PrĂ€sident Wolodymyr Selenskyj, der zu Recht nach der russischen Invasion in die Ukraine das Vetorecht anprangerte.

An den Sicherheitsrat gerichtet sagte er [6] einige Wochen nach dem russischen Einmarsch:

Wir haben es mit einem Staat zu tun, der sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat in das Recht zu sterben umwandelt. Das untergrÀbt die gesamte Architektur der globalen Sicherheit. Es erlaubt ihnen, ungestraft zu bleiben, so dass sie alles zerstören, was sie können. Wenn das so weitergeht, werden sich die LÀnder nur noch auf die Macht ihrer eigenen Waffen verlassen, um ihre Sicherheit zu gewÀhrleisten, und nicht mehr auf das internationale Recht, nicht mehr auf die internationalen Institutionen. Die Vereinten Nationen können einfach geschlossen werden. ... Das System der Vereinten Nationen muss sofort reformiert werden, damit das Veto nicht das Recht ist, zu sterben, damit es eine gerechte Vertretung aller Regionen der Welt im Sicherheitsrat gibt.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (GrĂŒne) sagte vor der Generalversammlung [7] der Vereinten Nationen am 1. April 2022 in Ă€hnlicher Weise:

Und in Wahrheit missbrauchen Sie Ihre Macht als stĂ€ndiges Mitglied des Sicherheitsrats. Herr Lawrow [russischer Außenminister], Sie können sich selbst tĂ€uschen. Aber uns tĂ€uschen Sie nicht. Unsere Völker werden Sie nicht tĂ€uschen – und auch Ihr eigenes Volk werden Sie nicht tĂ€uschen.

Aber wie zuvor erwĂ€hnt: Von Baerbock und von Selenskyj ist auch nach ĂŒber zwei Wochen israelischen Bombenangriffen, Totalblockade, geplanter Invasion und humanitĂ€rer Krise (Amnesty International spricht in einer Untersuchung von "vernichtenden Beweisen fĂŒr Kriegsverbrechen" [8]) nichts zum Gaza-Veto der USA im Sicherheitsrat zu hören, um die Situation zu deeskalieren. Sie scheinen augenscheinlich kein Problem mit der Vetomacht an sich zu haben.

USA blockieren israelkritische Resolutionen

Auch Invasionen stören sie offenbar nicht grundsĂ€tzlich. Beide Ă€ußerten ihre uneingeschrĂ€nkte SolidaritĂ€t [9] und UnterstĂŒtzung mit der israelischen Regierung, sich "selbst zu verteidigen" – wĂ€hrend die israelische Regierung plant, in den Gazastreifen mit seiner Armee einzumarschieren.

Doch Selenskyjs Statement trifft einen wichtigen Punkt: Das System des UN-Sicherheitssystems ist extrem unfair, undemokratisch, unterminiert den Weltfrieden und gehört daher geÀndert.

15 LĂ€nder gehören dem Sicherheitsrat an. Zehn sind rotierende Mitglieder, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gewĂ€hlt werden und dem Rat fĂŒr einen Zeitraum von zwei Jahren angehören. Die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien sind die sogenannten stĂ€ndigen Mitglieder.

Wenn eines der stĂ€ndigen Mitglieder sein Veto gegen eine Resolution einlegt, wird sie nicht angenommen, egal, wie viele LĂ€nder dafĂŒr stimmen. Das bedeutet, dass die VetomĂ€chte sich selbst sowie ihre VerbĂŒndeten und "SchĂŒtzlinge" immunisieren können vor jeglichen Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats.

Diese Macht wurde in der Vergangenheit auch reichlich genutzt. Seit Anfang der 1970er-Jahre waren die USA fĂŒhrend mit ihren Vetos [10]. Ab 2011 blockte insbesondere Russland Resolutionen zu Syrien und der Ukraine.

Das erste Veto der USA [11] zum Schutz Israels erfolgte 1972. Seitdem haben die USA etwa vier Dutzend weitere israelkritische Resolutionen mit ihrem Veto blockiert [12].

Das war einmal anders. Im Oktober 1956 legten Großbritannien und Frankreich ihr Veto [13] gegen einen Resolutionsentwurf der Vereinigten Staaten ein, in dem Israel aufgefordert wurde, seinen Angriff auf Ägypten wĂ€hrend der Suez-Krise einzustellen. Seit dem Sechstagekrieg Israels 1967 haben sich die USA dann aber uneingeschrĂ€nkt hinter Israel gestellt und blockieren seitdem jede Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die meisten in der Generalversammlung [14], die Israel auffordern, internationalem Recht zu folgen.

Heute gibt es einige Initiativen, die Struktur des Sicherheitsrats zu Ă€ndern, gar zu demokratisieren. Frankreich und Marokko schlugen vor, dass die fĂŒnf VetomĂ€chte ihr Einspruchsrecht in FĂ€llen von Massen-GrĂ€ueltaten freiwillig aufgeben sollten.

Aber Reformen hĂ€ngen am Willen der VetomĂ€chte. Und die werden kaum dazu bereit sein, diese Macht abzugeben, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg als SiegermĂ€chte bei Verhandlungen in San Francisco 1945 fĂŒr sich beanspruchten.

Brasiliens UN-Vertreter sagte nach dem Veto der USA [15]: "Leider war der Rat wieder einmal nicht in der Lage, eine Resolution zum israelisch-palĂ€stinensischen Konflikt anzunehmen. Wieder einmal herrschte Schweigen und UntĂ€tigkeit. Das ist fĂŒr niemanden von wirklichem, langfristigem Interesse."


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9342937

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.aljazeera.com/news/longform/2023/10/17/mapping-the-israel-palestine-war-major-events-on-the-ground
[2] https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2023/10/23/israel-hamas-war-live-hundreds-killed-israeli-strikes-gaza
[3] https://www.telepolis.de/features/Zwei-Geiseln-frei-Kommt-jetzt-die-israelische-Invasion-in-den-Gazastreifen-9340472.html
[4] https://news.un.org/en/story/2023/10/1142492
[5] https://www.commondreams.org/news/us-vetoes-brazil-resolution
[6] https://transcripts.cnn.com/show/cnr/date/2022-04-05/segment/04
[7] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-vnga-ukraine/2514746
[8] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/10/damning-evidence-of-war-crimes-as-israeli-attacks-wipe-out-entire-families-in-gaza/
[9] https://www.timesofisrael.com/zelensky-israel-has-indisputable-right-to-defend-itself-from-terror/
[10] https://research.un.org/en/docs/sc/quick
[11] https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/NL7/200/32/PDF/NL720032.pdf?OpenElement
[12] https://research.un.org/en/docs/sc/quick
[13] https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N56/286/07/PDF/N5628607.pdf?OpenElement
[14] https://press.un.org/en/2022/ga12475.doc.htm
[15] https://www.gov.br/mre/en/contact-us/press-area/press-releases/statement-by-the-permanent-representative-of-brazil-to-the-united-nations-on-the-draft-resolution-s-2023-773