Vier Jahrhunderte Rechenschieber: Ein vergessenes Genie

Raúl Rojas
Rechenschieber

Abb. 1: Ein Rechenschieber. Bild: Saim Tokacoglu / Shutterstock.com

Trotz zentraler Rolle bei technischen Triumphen wie Apollo 11 kennt heute kaum noch jemand die Logik und Eleganz dieses Instruments. Eine Zeitreise durch die Geschichte der Mathematik.

Bis in die 1970er Jahre war der Rechenschieber das am weitesten verbreitete persönliche Recheninstrument. Diese Geräte wurden durch elektronische Taschenrechner ersetzt, und heute haben nur sehr wenige Studenten jemals einen Rechenschieber gesehen.

Doch was vielleicht am überraschendsten ist, ist die Tatsache, dass wir ausgerechnet in diesem Jahrzehnt das vierhundertjährige Bestehen jenes Instruments feiern, an das sich viele Mathematiker und Ingenieure eines gewissen Alters noch immer mit Nostalgie erinnern.

Erwähnenswert ist, dass die Astronauten der Apollo-11-Mission zum Mond im Jahr 1969 jeweils einen Rechenschieber bei sich hatten. Abb. 1 zeigt einen "modernen" Rechenschieber. Die Grundidee besteht darin, dass sich auf der Oberfläche parallele Linien mit numerischen Skalen befinden. Der Mittelsteg ist verschiebbar, so dass die numerischen Skalen unterschiedlich eingestellt werden können.

Die im Rechenschieber verwendete Zahlenskala ist eine Logarithmentafel. Logarithmen wurden 1619 von dem schottischen Mathematiker John Napier of Merchiston erfunden (oder entdeckt, wenn man so will).1 Die Idee dahinter ist, dass 102 gleich 100 und 103 gleich 1.000 ist. Daher können wir 2 als den Zehnerlogarithmus von 100 und 3 als den Zehnerlogarithmus von 1.000 bezeichnen.

Im Allgemeinen gilt: Wenn 10 hoch x gleich y ist, nennen wir x den Zehnerlogarithmus von y. Zum Beispiel können wir leicht mit einem Taschenrechner überprüfen, dass 10 hoch 0,5 gleich 3,16 ist. Dann ist 0,5 der Zehnerlogarithmus von 3,16.

Wichtig bei Logarithmen ist die Regel, die besagt, dass der Logarithmus des Produkts zweier Zahlen gleich der Summe ihrer jeweiligen Logarithmen ist.

Das heißt, wenn wir eine ausgedruckte Logarithmentafel zur Hand haben und zwei Zahlen a und b multiplizieren möchten, schauen wir in der Tabelle nach, wie ihre Logarithmen lauten, und addieren sie. Dann suchen wir erneut in der Tabelle nach der Zahl, deren Logarithmus dieser Summe entspricht, und erhalten so das Produkt ab.

Die Multiplikation wird somit in eine Addition umgewandelt, wobei Logarithmentafel herangezogen werden. Ich hatte meine Logarithmentafel noch in der Schule dabei. Sie wurden in Schreibwarenläden verkauft.

Die Logarithmenlinie

Der Rechenschieber kann zunächst als Logarithmentafel betrachtet werden. Die darin enthaltene numerische Skala ist von der Art, wie sie in Abb. 2 dargestellt ist. Der Logarithmus von 1 ist Null und steht daher an der Spitze der Linie. Der Logarithmus von 2 wird durch den Abstand zwischen 2 und 1 auf der Skala dargestellt. Der Logarithmus von drei wird durch den Abstand zwischen 3 und 1 dargestellt usw. Implizit haben wir eine Logarithmentafel zur Hand.

Wenn ich wissen möchte, was der Logarithmus von 2 ist, muss ich nur den Abstand zwischen 1 und 2 mit einem Lineal messen. Dies ist jedoch nicht notwendig, da die numerische Skala der Logarithmen für die Durchführung von Berechnungen "autark" ist.

Zahlenskala von eins bis zwölf
Abb. 2: Die Logarithmengerade, die sogenannte "Gunter-Linie". Grafik: TP

Angenommen, ich möchte 2 mit 2 multiplizieren. Ich öffne einen Zirkel, um den Abstand zwischen 1 und 2 zu erfassen (was "log 2" entspricht). Mit dieser Öffnung und dem linken Arm auf der 2 schaue ich, wie weit der andere Arm des Zirkels reicht. Ich lese auf der Skala ab, dass das Ergebnis 4 ist (also log 2 + log 2 = log 4) und erhalte so, dass das Produkt 2 x 2 gleich 4 ist. Auf die gleiche Weise können beliebige zwei andere Zahlen multipliziert werden, beispielsweise 2 mit 5, um das Ergebnis 10 zu erhalten (siehe Abb. 3).

Drei Zirkel auf einer Zahlenskala von eins bis zwölf
Abb. 3: Zwei Beispiele für die Multiplikation mit der logarithmischen Skala. Grafik: TP

So entstand der Rechenschieber, zunächst als Zahlenstrahl mit impliziter Logarithmentafel, der mit Hilfe eines Zirkels zur Addition von Strecken verwendet werden konnte.

Edmund Gunter, Professor am Gresham College in London, schlug 1620 in seinem Buch Canon Triangulorum die Logarithmenlinie vor.2 Aus diesem Grund erhielt sie den Namen "Gunter'sche Linie" und wurde (zusammen mit einem Zirkel) viele Jahre lang verwendet.

Auf diese Weise wird die Verwendung von Logarithmentafeln auf sehr intelligente Weise vermieden, obwohl die Genauigkeit natürlich durch die Sehschärfe des Benutzers und die Anzahl der Unterteilungen der Logarithmenskala begrenzt ist.

William Oughtreds Beitrag

Der berühmte Mathematiker William Oughtred leistete einen frühen Beitrag zur Entwicklung des Rechenschiebers, indem er den für die Bedienung der Gunter-Linie erforderlichen Zirkel auf einen Metallkreis montierte. Abb. 4 zeigt ein Beispiel. Oughtreds Idee bestand darin, zwei bewegliche Arme an dem Kreis zu befestigen. Die logarithmische Skala wird nun auf einem Kreis eingezeichnet (mit entsprechender numerischer Beschriftung).

Die bewegliche Arme werden dann so eingestellt, dass sie den gewünschten Logarithmus umfassen (z.B. log 2) und dann werden sie so gekoppelt bewegt, dass ihre Öffnung auf einen beliebigen Teil der logarithmischen Skala übergeht, wie wir oben für die Linie gesehen haben. Dies wird manchmal als "Rundrechenschieber" bezeichnet, obwohl solche Instrumente später über Gleitteile verfügten. Oughtreds Idee wurde 1632 von seinem Schüler William Forster in seinem Buch The Circles of Proportion and the Horizontal Instrument , London, 1632, veröffentlicht.3

Goldene runde Scheibe mit Zahlen und zwei Reglern
Abb. 4: "Circle of Proportions" von William Oughtred (Elias Allen, London, ca. 1633–1640). Bild: Putnam Gallery, Harvard University / public domain

Der logarithmische Rechenschieber

Auf Deutsch sagen wir "Rechenschieber", auf Englisch "slide rule". Die Idee dieser Lineale mit Schiebeteilen besteht darin, ganz auf Zirkel oder bewegliche Arme zu verzichten und Multiplikationen oder Divisionen einfach durch das Verschieben zweier gegenüberliegender Skalen durchzuführen. Abb. 5 zeigt die Idee.

Zwei gegeneinander verschobene Zahlenskalen von eins bis zwölf
Abb. 5: Zwei "gleitende" logarithmische Skalen. Grafik: TP

Wie in Abb. 5 dargestellt, werden nun zwei identische Skalen verschoben, um die 1 auf der oberen Skala mit der 3 auf der unteren Skala auszurichten. Das Produkt 3 mal 2 (bzw. 6) liegt unterhalb der 2er-Markierung auf der oberen Skala.

Alle Produkte einer Zahl mit 3 befinden sich unter den entsprechenden Ziffern. In dieser Abbildung haben wir auf feinere Unterteilungen der Skala verzichtet, aber wenn diese vorhanden wären, ist es möglich, 3 mit 2,5 oder 2,7 zu multiplizieren, indem man einfach das auf der unteren Skala ausgerichtete Ergebnis liest.

Und hier kommen wir zum Problem der Priorität der Erfindung des Rechenschiebers. Es ist unstrittig, dass Edmund Gunter seine logarithmische Linie im Jahr 1620 vorschlug. Es ist auch bekannt, dass Oughtred sein Instrument mindestens seit 1630 und möglicherweise seit 1627 anderen gezeigt hatte, obwohl es keine genauen Beweise dafür gibt.

Es gibt aber auch den Mathematiker Edmund Wingate, der ein Buch mit dem langen Titel The Rule of Proportion in Arithmetic and Geometrie schrieb, das erstmals 1624 in Paris veröffentlicht wurde.4 Einige Autoren behaupten, dass der Rechenschieber in diesem Buch, in der englischen Ausgabe von 1626, beschrieben wird.

Der Historiker Florian Cajori5 konnte die Beschreibung des Rechenschiebers jedoch erst in einem anderen Buch von Wingate mit dem Titel Of Natural and Artificial Arithmetic aus dem Jahr 1630 nachweisen.6 Diese Beschreibung wurde in späteren Ausgaben den Rule of Proportion hinzugefügt.

Cajori kommt daher zu dem Schluss, dass die Priorität der Veröffentlichung der Funktionsweise des Rechenschiebers bei Wingate, dem bekanntesten Popularisierer der Mathematik im England des 17. Jahrhunderts, liegt, obwohl die Erfindung fast zeitgleich zwischen 1626 und 1630 stattfand und Wingate und Oughtred parallel an sehr ähnlichen Konzepten arbeiteten. Daher kommt Cajori zu folgendem Schluss:

Edmund Gunter erfand die sogenannte Gunter-Linie, nicht jedoch den Rechenschieber. Der Rechenschieber wurde von Edmund Wingate erfunden und in mehreren Publikationen beschrieben; die erste erschien 1630. Ein ähnlicher Rechenschieber wurde der Welt 1632 von William Oughtred in einem von William Forster für den Druck vorbereiteten Werk vorgestellt. Oughtred war der erste, der einen kreisförmigen Rechenschieber konstruierte.

Galileos Proportionssektor

Um schließlich zu zeigen, dass Innovationen langsam voranschreiten und immer eine Vorgeschichte haben, dürfen wir nicht unerwähnt lassen, dass es sich bei dem "Galileo-Sektor" um ein Instrument handelt, das zwar nicht vom berühmten Galileo Galilei (1564-1642) erfunden wurde, dass er aber während seiner Zeit in Padua am Ende des sechzehnten Jahrhunderts verfeinert hat. Abb. 6 zeigt ein Bild eines Proportionsinstruments, das seine Funktionsweise gut veranschaulicht.

Obwohl der Sektor bereits in einfacheren Formen existierte, gab Galileo ihm eine präzisere, vielseitigere und nützlichere Form für mathematische und praktische Berechnungen und machte ihn so zu einem grundlegenden Werkzeug für Wissenschaftler, Artilleristen und Ingenieure gleichermaßen.

Goldener beweglicher Winkel und Zirkel
Abb. 6: Galileo-Sektor im Mathematisch-Physikalischen Salon im Zwinger in Dresden. Bild: public domain

Das Instrument verfügt über zwei konventionelle Zahlenskalen, die z.B. Zahlen von 0 (am Scharnier) bis 10 darstellen. Das Gerät lässt sich aufklappen und bildet ein Dreieck, dessen Basis durch die Öffnung eines Zirkels gegeben ist (was beispielsweise X Zentimeter darstellt).

Stellt man die beiden Arme des Zirkels so auf, dass sie die beiden Zahlen 7 auf beiden Skalen berühren, dann entspricht der Abstand zwischen den Markierungen, die den Zahlen 2 auf beiden Skalen entsprechen, der Öffnung des Zirkels X multipliziert mit 2/7, aufgrund der Ähnlichkeit der Dreiecke mit Basis 7 bzw. 2. Möchte man z.B. wissen, wie groß 3/7 von X ist, so misst man den Abstand zwischen den Markierungen der Zahl 3 auf den beiden Skalen.

Auf diese Weise stellt dieses Instrument dar, was wir heute als "Analogcomputer" bezeichnen würden, mit dem man Zahlen fast augenblicklich mit Brüchen multiplizieren kann.

Galileo verbesserte nicht nur die Genauigkeit des Entwurfs, sondern verfasste auch ein Handbuch, in dem er detailliert erläuterte, wie der Sektor zur Lösung einer Vielzahl von Problemen eingesetzt werden kann. Dieses Handbuch diente sowohl Mathematikern als auch Militärexperten als Leitfaden und demonstrierte die Nützlichkeit des Instruments in praktischen Situationen.

Schlussfolgerungen

Wer einen Rechenschieber betrachtet, der vielleicht aus dem Keller der Eltern oder Großeltern gerettet wurde, wird feststellen, dass er viele Zahlenskalen enthält, nicht nur die traditionelle logarithmische Skala. Im Laufe der Jahrhunderte wurden dem traditionellen Instrument numerische "Tabellen" hinzugefügt, beispielsweise Tafel für trigonometrische Funktionen oder Tafel für Quadrate und Kuben usw.

Das Ergebnis war ein sehr leistungsfähiges Instrument für Berechnungen, die keine übermäßige Genauigkeit erforderten, und außerdem ein Kompendium vieler durch Längen dargestellter Tabellen zur Lösung zahlloser numerischer Probleme, einschließlich trigonometrischer Aufgaben.

Vor nicht allzu langer Zeit war der Kauf des ersten Rechenschiebers eine Art Initiationsritus für Studenten der Ingenieur- und Naturwissenschaften. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Vater, ein Ingenieur, mich und meinen Zwillingsbruder Ende der 1960er Jahre stolz zum Kauf unserer Rechenschieber begleitete. So wurden wir beide zu Priesteramtskandidaten der Naturwissenschaften, obwohl wir erst die Mittelschule besuchten.

Raúl Rojas ist emeritierter Professor für Künstliche Intelligenz an der Freien Universität Berlin.