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Virtuelle Welten

Zur Ästhetik des Cyberspace

"Willkommen in einer virtuellen Welt! Schlüpfen Sie in Ihren Avatar! Haben Sie keine Erfahrung oder nicht die Zeit, sich einen eigenen zu gestalten? Kein Problem. Wir haben eine ganze Bibliothek an vorgefertigten Masken; eine wird Ihnen perfekt passen."

Solche Werbungen werden Sie immer öfter sehen. Instant VR-Welten werden Ihnen angeboten. Aber welcher Art sind diese Welten. Lev Manovich analysiert deren Konstruktionsprinzipien und Versprechungen.

"Willkommen in einer virtuellen Welt!

Schlüpfen Sie in Ihren Avatar! Haben Sie keine Erfahrung oder nicht die Zeit, sich einen eigenen zu gestalten? Kein Problem. Wir haben eine ganze Bibliothek an vorgefertigten Masken; eine wird Ihnen perfekt passen. Schließen Sie sich der Gemeinschaft ähnlich denkender Benutzer an, die darin übereinstimmen, daß der dreidimensionale Raum mehr Sex besitzt!

Ja, es gibt nichts Befreienderes, als durch eine 3D-Szene zu fliegen, gefährliche Manöver auszuführen und auf die Jagd zu gehen. Berge und Täler können Files eines Netzwerkes, Finanzinvestitionen, die feindlichen Truppen, den Körper eines virtuellen Sexpartners darstellen - all das ist kein wirklicher Unterschied. Nehmen Sie es ins Visier! Fahren Sie los! Schlagen Sie zu!

Ist der visuelle Realismus nicht ausreichend? Für nur 9,95 Dollar pro Monat können Sie Ihre Rendering-Geschwindigkeit auf glühend heiße 490000 Polygone pro Sekunde updaten, die die Erfahrungsqualität um schwindelerregende 24% verbessert! Und für weitere 4,95 Dollar werden Sie die Möglichkeit haben, jeden Monat eine neue virtuelle Welt zu testen, beispielsweise eine Mall, ein Bordell, die Sixtinische Kapelle, Paris während der Revolution von 1989 und sogar ein vollständig durchfahrbares menschliches Gehirn. Eine vernetzte virtuelle 3D-Welt steht für Sie bereit. Von Ihnen brauchen wir lediglich Ihre Kreditkartennummer."

Eine solche Werbung wird vermutlich bald auf Ihrem Computerbildschirm erscheinen, sofern dies noch nicht geschehen ist. Zehn Jahre nach William Gibsons fiktionaler Beschreibung des Cyberspace und fünf Jahre nach den ersten theoretischen Konferenzen über dieses Thema wird der Cyberspace schließlich Wirklichkeit. Er verspricht überdies zu einem neuen Standard zu werden, wie wir mit Computern interagieren - zu einer neuen Weise des Arbeitens, des Kommunizierens und Spielens.

Ästhetik der Virtuellen Welten

Die Computerisierung der Kultur führt zur Verräumlichung jeder Information, jeder Erzählung und sogar der Zeit. Wenn dieser überall vorherrschende Trend sich nicht plötzlich umkehren sollte, steht als nächstes die Verräumlichung des Cyberspace an.

"Wir glauben", so die Wissenschaftler von Sonys The Virtual Society Project [1], "daß künftige Online-Systeme durch einen hohen Grad an Interaktion, durch Unterstützung von Multimedia und vor allem durch die Möglichkeit charakterisiert sind, gemeinsame 3D-Räume zu bieten. In unserer Vision werden Benutzer nicht nur zu textbasierten Chat-Foren Zugang haben, sondern auch 3D-Welten betreten, in denen sie mit der Welt und mit anderen in der Welt interagieren können." Welche visuelle Ästhetik wird der verräumlichte Cyberspace besitzen? Wir werden diese 3D-Welten aussehen?

Zur Beantwortung dieser Frage werde ich versuchen, die den verschiedenen, bereits existierenden virtuellen Welten gemeinsamen ästhetischen Merkmale zusammenzufassen: von Computerspielen, CD-ROM-Produktionen, virtuellen Szenen in Hollywoodfilmen, VR-Simulationen und natürlich von virtuellen Welten auf dem Internet wie VRML-Szenen, WorldChat und Quicktime VR-Filmen. Dabei werde ich auch die grundlegenden Technologien und Techniken einbeziehen, die man zur Konstruktion von virtuellen Räumen einsetzt: 3D-Computergrafiken, digitales Video, Komposition, Point-and-Click-Metapher.

1.Realismus als Ware

Digital bedeutet Zahl. Digitale Medien reduzieren alles auf Zahlen.

- Diese grundlegende Eigenschaft der digitalen Medien besitzt eine tiefreichende Auswirkung auf das Wesen des visuellen Realismus. In einer digitalen Repräsentation sind alle Dimensionen, die den Realitätseffekt betreffen - Detail, Farbe, Größe, Bewegung - quantifiziert. Als Folge kann der von der Repräsentation bewirkte Realitätseffekt selbst auf eine Reihe von Zahlen bezogen werden.

- Bei einem 2D-Bild stellen die wesentlichen Zahlen dessen Raum- und Farbauflösung dar: die Zahl der Pixel und die Zahl der Farben pro Pixel. Beispielsweise enthält ein Bild von 640 x 480 mehr Details als ein Bild von 120 x 160 desselben Objekts und erzeugt daher einen stärkeren Realitätseffekt. Bei einem 3D-Modell wird der Detailgrad und daher der Realitätseffekt durch die 3D-Auflösung charakterisiert: durch die Anzahl der Punkte, aus denen das Modell zusammengesetzt ist.

- Raum, Farbe und 3D-Auflösung beschreiben den Realismus statischer Repräsentationen: eingescannte Fotografien, ausgemalte Hintergründe, Darstellungen von 3D-Objekten usw. Wenn der Benutzer mit einer virtuellen Welt zu interagieren beginnt und durch einen 3D-Raum navigiert oder die Objekte in ihm betrachtet, werden andere Dimensionen grundlegend. Eine ist die zeitliche Auflösung. Je mehr Frames ein Computer in einer Sekunde erzeugen kann, desto eleganter ist die entstehende Bewegung. Eine andere ist die Geschwindigkeit der Beantwortung durch das System. Wenn der Benutzer auf das Bild einer Tür klickt, um sie zu öffnen, oder wenn er eine virtuelle Person etwas fragt, dann zerstört eine Verzögerung die Illusion. Aber man kann noch eine weitere Dimension als Konsistenz bezeichnen. Wenn sich bewegende Objekte keine Schatten werfen (weil sie der Computer nicht in Echtzeit darstellen kann), während der statische Hintergrund Schatten aufweist, dann stört diese Inkonsistenz den Realitätseffekt.

- Alle diese Dimensionen sind quantifizierbar. Die Zahl der Farben in einem Bild, die dem System mögliche zeitliche Auflösung usw. können in exakten Zahlen angegeben werden.

- Es ist nicht überraschend, wenn die Werbung für grafische Software und Hardware diese Zahlen in den Vordergrund stellen. Noch wichtiger ist, daß jene, die im grafischen Gewerbe arbeiten - die Erzeuger von Spezialeffekten, die militärischen Ausbilder, die digitalen Fotografen, die Designer beim Fernsehen -, jetzt bestimmte Maße dafür haben, was sie kaufen und verkaufen. Beispielsweise gibt die Federal Aviation Administration, die die Standards für Simulatoren setzt, die im Flugtraining zum Einsatz kommen, den gewünschten Realismus in Form der 3D-Auflösung an. 1991 forderte sie, daß ein Simulator bei Tageslicht mindestens 1000 Oberflächen oder 4000 Punkte erzeugen können muß. Eine Beschreibung des Compu-Scene IV Simulators der GE Aerospace stellt fest, daß ein Pilot über ein geographisch genaues 3D-Gebiet fliegen kann, das 6000 Merkmale pro Quadratmeile enthält.

- Die Zahlen, die den digitalen Realismus charakterisieren, spiegeln gleichzeitig etwas anderes wider: die anfallenden Kosten. Eine größere Bandbreite, höhere Auflösung und schnellere Verarbeitung führen zu einem stärkeren Realitätseffekt - und kosten mehr.

- Unter dem Strich: der Realitätseffekt einer digitalen Darstellung kann jetzt in Dollars gemessen werden. Realismus ist zu einer Ware geworden, die wie jede andere gekauft und verkauft werden kann.

- Diese Bedingung wird vermutlich von den Gestaltern der virtuellen Welten ausgekundschaftet werden. Wenn Benutzer heute Gebühren für die Verbindungszeit zahlen müssen, so können in Zukunft Gebühren für die visuelle Ästhetik und für die Qualität der Erfahrung erhoben werden: für die räumliche Auflösung, die Anzahl der Farben, die geometrische und psychologische Komplexität der Darsteller usw. Da alle diese Dimensionen durch die Software bestimmt werden, ist es möglich, das Aussehen einer virtuellen Welt beim Durchwandern automatisch anzupassen und dieses zu verbessern, wenn ein Kunde bereit ist, mehr zu zahlen.

- Auf diese Weise wird die Logik der Pornographie auf die gesamte Kultur ausgedehnt. Peep Shows und Anbieter von Telefonsex erheben von ihren Kunden Gebühren pro Minute, wobei sie jedem Moment des Vergnügens einen genauen Preis zuordnen. In virtuellen Welten werden alle Realitätsdimensionen quantifiziert und gesondert mit einem Preis versehen.

- Neal Stephensons Snow Crash [2] (1992) gibt uns ein mögliches Szenario einer solchen Zukunft. Wenn man das Metaversum, das verräumlichte Netz der Zukunft, betritt, sieht der Held "immer wieder Leute in Schwarzweiß - Personen, die über billige öffentliche Terminals ins Metaversum gekommen sind und grobkörnig monochrom dargestellt werden." Er begegnet auch Paaren, die sich keine maßgeschneiderten Avatars leisten können und Modelle von der Stange kaufen müssen, die einfach gebaut sind und nur über einige standardisierte Gesichtsausdrücke verfügen - Äquivalente in der virtuellen Welt für Barbie-Puppen.

- Dieses Szenario wird schrittweise wirklich. Einige Online-Fotodienste bieten ihren Kunden Fotografien mit geringer Auflösung für wenig Geld und verlangen für Kopien mit höherer Auflösung mehr. Eine Firma mit dem Namen Viewpoint Datalabs International [3] verkauft Tausende von gebrauchsfertigen geometrischen 3D-Modellen, die viel von Computerdesignern benutzt werden. Bei den gängigsten Modellen kann man zwischen verschiedenen Versionen wählen, wobei Versionen mit mehr Details teurerer sind als solche mit einer geringeren Zahl von Details.

2. Romantizismus, Adorno und Photoshop-Filter: von der Kreation zur Selektion.

Die Modelle von Viewpoint Datalabs geben ein Beispiel für ein anderes Merkmal virtueller Welten: sie werden nicht ganz neu geschaffen, sondern aus fertigen Teilen zusammengesetzt. In der digitalen Kultur wurde, anders ausgedrückt, die Kreation durch Selektion ersetzt.

- Der Begriff eines repräsentationalen Schemas von Ernst Gombrich und Roland Barthes' "Tod des Autors" helfen uns, vom romantischen Ideal des Künstlers abzurücken, der alles von Grund auf neu erschafft, indem er Bilder direkt aus seiner Einbildungskraft hervorholt. "Der Text", so formuliert es Barthes, "ist ein Zitatgeflecht, das aus unzähligen Kulturzentren stammt." Aber auch wenn ein moderner Künstler nur bereits bestehende Texte oder Idiome reproduziert oder bestenfalls auf neue Weisen kombiniert, so unterstützt der materielle Prozeß des Kunstmachens doch das romantische Ideal. Ein Künstler handelt wie Gott, der das Universum erschafft - er beginnt mit einer leeren Leinwand oder einem weißen Blatt. Indem er nach und nach die Details einträgt, läßt er eine neue Welt entstehen.

- Solch ein handwerklicher und mühselig langsamer Prozeß des Kunstmachens war für das Zeitalter der vorindustriellen künstlerischen Kultur angemessen. Als im 20. Jahrhundert der Rest der Kultur zur Massenproduktion und Automatisierung überging und buchstäblich zur "Kulturindustrie" wurde, beharrte Kunst auf ihrem Modell des Kunsthandwerks. Nur zwischen 1910 und 1920, als einige Künstler damit anfingen, Collagen und Montagen aus bereits existierenden kulturellen "Teilen" zusammenzusetzen, wurde in die industrielle Produktionsmethode Kunst eingeführt.

- Im Gegensatz dazu war die Grundlage der elektronischen Kunst ein neues Prinzip: die Veränderung eines bereits existierenden Signals. Das erste, 1920 vom legendär gewordenen russischen Wissenschaftler und Künstler Leon Theremin gebaute elektronische Instrument enthielt einen Generator, der eine Sinuswelle erzeugte. Der Aufführende modifizierte einfach ihre Frequenz und Amplitude. In den sechziger Jahren begannen Videokünstler Videosynthesizer zu bauen, die auf demselben Prinzip basierten. Der Künstler war kein romantisches Genie mehr, der nur aus seiner Einbildungskraft heraus eine neue Welt erzeugte, er wurde zu einem Techniker, der hier einen Knopf drückte und dort einen Schalter umlegte - ein Anhängsel der Maschine.

- Wenn man eine einfache Sinuswelle durch ein komplexeres Signal ersetzt (Töne, Rhythmen, Melodien), wenn man ein ganzes Arsenal von Signalgeneratoren hinzufügt, dann ist man beim modernen Synthesizer angekommen, dem ersten Instrument, das die Logik aller neuen Medien verkörpert: keine Kreation, nur Selektion.

- Die ersten Syntheziser kamen in der Musik in den fünfziger Jahren auf. Darauf folgten in den sechziger Jahren die Videosyntheziser und in den späten siebziger Jahren die Digital Video Effects (DVE) - die Effektdatenbanken, die von Videoproduzenten benutzt werden. Danach kam die Software, beispielsweise 1984 MacDraw, die ein Repertoire von elementaren Formen enthielten. Der Prozeß des Kunstmachens hat schließlich das moderne Zeitalter eingeholt. Es wurde mit dem Rest der modernen Gesellschaft synchronisiert, in der alles aus vorfabrizierten Teilen zusammengebaut wird - von Gegenständen bis hin zu den Identitäten der Menschen.

Das moderne Subjekt schreitet durch das Leben, indem es aus zahlreichen Menüs und Themenkatalogen auswählt, gleich ob es sein Aussehen zusammenstellt, seine Wohnung einrichtet, aus der Speisekarte eines Restaurants sein Menü auswählt oder entscheidet, welcher Interessensgruppe es sich anschließt. Ähnlich wie bei den elektronischen und digitalen Medien besteht Kunstmachen in der Auswahl aus vorgefertigten Elementen: aus Texturen und Ikonen, die ein Malprogramm zur Verfügung stellt, aus 3D-Modellen, die mit einem 3D-Modellierungsprogramm geliefert werden, aus Melodien und Rhythmen, die in ein Musikprogramm eingebaut sind.

- Während der große Text der Kultur, aus dem der Künstler sein eigenes einzigartiges "Zitatgeflecht" erzeugte, bislang irgendwo unterhalb des Bewußtseins blubberte und schimmerte, wurde er jetzt externalisiert (und in diesem Prozeß weitgehend reduziert): 2D-Gegenstände, 3D-Modelle, Texturen, Übergänge, Effekte sind verfügbar, sobald der Künstler seinen Computer anschaltet. Das WorldWideWeb hebt diesen Prozeß auf die nächste Stufe, denn es unterstützt die Erzeugung von Texten, die vollständig aus Verweisen auf anderen, bereits auf dem Web existierenden Texten bestehen. Man muß keinerlei neuen Inhalt hinzufügen, es genügt, aus dem auszuwählen, was es bereits gibt.

- Der Übergang von der Kreation zur Selektion wird besonders in der 3D-Computergrafik deutlich, der wichtigsten Technik zur Schaffung von virtuellen Welten. Die Arbeit, die man zur Konstruktion einer von Grund auf neuen dreidimensionalen Realität leisten muß, macht es schwer, der Versuchung zu widerstehen, bereits zusammengesetzte, standardisierte Gegenstände, Charaktere und Verhaltensweisen zu gebrauchen, die von den Softwareherstellern angeboten werden: fraktale Landschaften, Böden aus Schachbrettmustern, vollständige Charaktere usw. Jedes Programm bietet Datenbanken von gebrauchsfertigen Modellen, Effekten oder sogar ganzen Animationen. Ein Benutzer des Programms Dynamation [4] (ein Bestandteil der bekannten Wavefront 3D-Software) gibt beispielsweise mit einem Mausklick Zugriff auf vorfabrizierte Animationen von Haaren, Regen, Rauch und dem Schweif eines Kometen in Bewegung.

- Wenn selbst professionelle Designer vorfabrizierte Gegenstände und Animationen gebrauchen, dann hat der Endverbraucher von virtuellen Welten, der normalerweise keine Kenntnisse in der Grafik oder der Programmierung besitzt, keine andere Wahl. Daher ist es nicht überraschend, wenn Anbieter von Web chat lines oder virtuellen Welten die Benutzer darin bestärken, aus den von ihnen angebotenen Datenbanken an Bildern, 3D-Gegenständen und Avatars auszuwählen. Ubique's Site weist auf Ubique Furniture Gallery [5] hin, in der man sich Bilder unter solchen Kategorien wie "Büroeinrichtung", "Computer und Elektronik" und "menschliche Ikons" auswählen kann. VR-SIG [6] aus England bietet einen Supermarkt für VRML-Gegenständen an, während Aereal [7] eine Virtual World Factory zur Verfügung stellt. Letztere will die Schaffung einer maßgeschneiderten virtuellen Welt besonders einfach machen: "Schaffen Sie sich Ihre persönliche Welt, ohne selbst programmieren zu müssen! Sie müssen lediglich die leeren Stellen ausfüllen und dann entspringt Ihre Welt!" Schon bald werden wir einen richtigen Markt für detaillierte virtuelle Szenarien, Charaktere mit programmierbaren Verhaltensweisen und sogar ganzen Welten haben (eine Bar mit Gästen, eine Straße in der Stadt, eine berühmte historische Episode etc.), woraus ein Benutzer seine eigene "einzigartige" virtuelle Welt zusammenstellen kann.

- Wenn vor hundert Jahren der Benutzer einer Kodakkamera aufgefordert wurde, nur einen Knopf zu drücken, so hatte er noch immer die Freiheit, die Kamera auf irgend etwas zu richten. Jetzt aber wurde der Slogan "You push the button, we do the rest" zu "You push the button, we create your world".

3. Brecht als Hardware

Ein weiteres Merkmal von virtuellen Welten besteht aus ihrer spezifischen Zeitdynamik: aus ihren konstanten, sich wiederholenden Übergängen zwischen einer Illusion und ihrer Suspension. Virtuelle Welten lassen uns ihre Künstlichkeit, Unvollständigkeit und Konstruiertheit nicht vergessen. Sie bieten uns eine perfekte Illusion nur an, um die darunter sich befindende Maschinerie zu enthüllen.

- Das Surfen im Web ist dafür ein vollendetes Beispiel. Ein normaler Benutzer kann dieselbe Zeit aufwenden, um sich eine Seite anzusehen und auf das Herunterladen der nächsten Seite zu warten. Während der Wartezeiten wird der Kommunikationsakt selbst - die Bits, die durch ein Netzwerk reisen - zur Botschaft. Der Benutzer ist mit dem Prüfen beschäftigt, ob die Verbindung hergestellt wurde, indem er zwischen dem angeklickten Ikon und der Statusleiste hin und her schaut. Wenn man Roman Jakobsons Modell der Kommunikationsfunktionen verwendet, dann kann man sagen, daß die Kommunikation vom Kontakt oder von der phatischen Funktion beherrscht wird. Sie zentriert sich um den materiellen Kanal und den eigentlichen Akt der Verbindung zwischen dem Sprecher und dem Angesprochenen.

- Jakobson schreibt über die verbale Kommunikation zwischen zwei Menschen, die sich ansprechen, um zu überprüfen, ob der Kanal funktioniert: "Hören Sie mich?", "Verstehen Sie mich?" Doch in der Web-Kommunikation gibt es keinen menschlichen Sprecher, sondern nur eine Maschine. Während der Benutzer also prüft, ob die Information kommt, richtet er sich an die Maschine selbst oder, besser, die Maschine richtet sich an den Benutzer. Die Maschine offenbart sich selbst, sie erinnert den Benutzer an ihre Existenz - nicht nur, weil der Benutzer warten muß, sondern auch, weil er beobachten muß, wie die Botschaft über die Zeit hinweg zustandekommt. Eine Seite füllt sich Stück für Stück auf, von oben nach unten, der Text kommt vor den Bildern, Bilder kommen in geringer Auflösung und werden stufenweise verfeinert. Schließlich kommt alles in einem Bild zusammen, das mit dem nächsten Klick zerstört wird.

- Wird diese Zeitdynamik jemals verschwinden? Wird das verräumlichte Netz zu einer perfekten utopischen Stadt, anstatt ein gigantischer Bauplatz zu bleiben?

- Eine Untersuchung von bereits existierenden virtuellen 3D-Welten weist in die Richtung einer negative Beantwortung dieser Frage. Nehmen wir die Technik, die man "distancing" oder "level of detail" nennt. Sie wurde seit Jahren bei VR-Simulationen eingesetzt und jetzt auf 3D-Spiele und VRML-Szenen übertragen. Die Idee ist, die Modelle weniger ausgefeilt darzustellen, wenn sich der Benutzer durch den virtuellen Raum bewegt, und stufenweise Details aufzubauen, wenn er anhält. Eine andere Variation derselben Technik erzeugt eine Reihe von Modellen desselben Objekts mit zunehmend geringerer Detailschärfe. Wenn die virtuelle Kamera nahe an einem Objekt ist, wird ein hochaufgelöstes Modell gebraucht; wenn das Objekt weit entfernt ist, dann wird es durch eine weniger detailreiche Version ersetzt, um unnötige Rechenzeit zu vermeiden.

- Eine auf solchen Techniken basierende virtuelle Welt besitzt eine flüchtige Ontologie, die durch die Handlungen des Benutzers bestimmt wird. Wenn der Benutzer durch den Raum navigiert, schwingen die Objekte zwischen blassen Umrissen und ganz verkörperten Illusionen hin und her. Die Unbeweglichkeit des Subjekts garantiert eine vollständige Illusion, während die leichteste Bewegung diese zerstört.

- Wenn man durch einen Quicktime VR-Film steuert, findet man sich in einer ähnlichen Dynamik. Im Gegensatz zum Panorama des 19. Jahrhunderts, das von diesem weitgehend emuliert wird, dekonstruiert die Quicktime VR ihre eigene Illusion. Sobald man sich durch die Szene bewegt, wird das Bild wackelig. Und wenn man versucht, in das Bild hineinzuzoomen, erhält man nur übergroße Pixels. Die Darstellungsmaschine schwankt immer zwischen dem Zustand, sich zu verbergen und sich zu offenbaren.

- Man vergleiche diese Dynamik mit dem herkömmlichen Kino oder dem realistischen Theater, die mit allen Mitteln die Kontinuität der Illusion für die Dauer der Vorführung aufrechterhalten wollen. Im Gegensatz zu einem derartigen totalisierenden Realismus hat die digitale Ästhetik eine überraschende Affinität zur Ästhetik der linken Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brechts Strategie, die Bedingungen der Produktion einer Illusion aufzudecken, fand ihr Echo bei zahllosen anderen linken Künstlern und wurde jetzt in die Hardware und Software selbst eingebettet. Auf ähnliche Weise fand auch Walter Benjamins Konzept einer "Wahrnehmung im Zustand der Zerstreuung" eine perfekte Realisierung. Das periodische Wiederauftauchen der Maschinerie, die kontinuierliche Präsenz des Kommunikationskanals in der Botschaft halten das Subjekt davon ab, für lange Zeit in der Traumwelt der Illusion zu versinken, indem er zwischen Konzentration und Entspannung hin- und herschwankt.

- Während die virtuelle Maschinerie selbst bereits als ein Avantgarde-Regisseur handelt, versuchen die Gestalter der interaktiven Medien (Spiele, CD-ROM-Produkte, interaktiver Film und interaktive Fernsehprogramme) oft bewußt, die zeitliche Erfahrung des Subjekts als eine Serie von periodischen Übergängen zu strukturieren. Das Subjekt wird gezwungen, zwischen den Rollen des Zuschauers und des Benutzers zu oszillieren und zwischen Wahrnehmen und Handeln, zwischen dem Verfolgen der Geschichte und dem aktiven Partizipieren an dieser überzugehen. Während eines Abschnittes zeigt der Computerbildschirm dem Zuschauer eine mitreißende filmische Handlung. Plötzlich friert das Bild ein, erscheinen Menüs und Icons und muß der Zuschauer handeln: er muß Entscheidungen treffen, klicken, Knöpfe drücken. (Der russische Medientheoretiker Anataly Prokhorov beschreibt diesen Prozeß als Übergang vom transparenten zum opaken Bildschirm, von einem Fenster in ein fiktionales 3D-Universum zu einer festen Oberfläche, angefüllt mit Menüs, Kontrollangaben, Text und Icons. Der dreidimensionale Raum wird zu einer Oberfläche, eine Fotografie zu einem Diagramm, ein Charakter zu einem Icon.)

- Können Brecht und Hollywood eine Verbindung eingehen? Ist es möglich, eine neue zeitliche Ästhetik zu schaffen, die auf solchen zyklischen Übergängen beruht? Bislang kann ich dafür nur ein erfolgreiches Beispiel anführen: einen militärischen Simulator, die einzig ausgereifte Form interaktiver Medien. Er verschmilzt auf perfekte Weise Wahrnehmung und Handlung, filmischen Realismus und Computermenüs. Der Bildschirm zeigt dem Subjekt eine illusionistische virtuelle Welt und fordert periodisch schnelle Handlungen: auf einen Feind zu schießen, die Richtung eines Fahrzeugs zu verändern usw. In dieser Kunstform verschmelzen die Rollen eines Zuschauers und eines Handelnden auf perfekte Weise. Doch dafür muß man einen Preis zahlen. Die Erzählung ist auf ein einziges und klar definiertes Ziel hin organisiert: am Leben zu bleiben.

4. Riegl, Panofsky und Computergrafiken: Regression in virtuellen Welten

Das letzte ästhetische Prinzip virtueller Welten, dem ich mich zuwenden will, kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: virtuelle Welten sind keine wirklichen Räume, sondern Zusammenstellungen von unterschiedlichen Objekten. Es gibt, anders ausgedrückt, im Cyberspace keinen Raum.

- Um diese These zu erläutern, lassen sich die von Kunsthistorikern zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelten Kategorien heranziehen. Die Begründer der modernen Kunstgeschichte (Alois Riegl, Heinrich Wölfflin und Erwin Panofsky) definierten ihr Forschungsgebiet als die Geschichte der Raumdarstellung. Da sie sich innerhalb der Paradigmen einer zyklischen Kulturentwicklung und einer Rassentopologie bewegten, bezogen sie die Raumdarstellung in der Kunst auf den Geist ganzer Epochen, Zivilisationen und Rassen. In seinem 1901 erschienenen Buch "Die spätrömische Kunstindustrie" charakterisierte Riegl die Kulturentwicklung der Menschheit als Oszillation zwischen zwei extremen Polen, zwischen zwei Weisen, den Raum zu verstehen, die er als "haptisch" und als "optisch" bezeichnete. Haptische Wahrnehmung isoliert den Gegenstand im Raum als eine diskrete Entität, während die optische Wahrnehmung die Gegenstände in einem räumlichen Kontinuum vereint. Ähnlich behauptete Riegls Zeitgenosse, Heinrich Wölfflin, daß das Temperament einer geschichtlichen Periode oder einer Nation sich selbst in einer bestimmten Weise zum Ausdruck bringt, den Raum zu sehen und darzustellen. Wölfflins "Prinzipien der Kunstgeschichte" (1913) zeichnete die Unterschiede zwischen Renaissance und Barock in fünf Dimensionen ein: zeichnerisch - malerisch; flach - tief; geschlossene Form - offene Form; Vielheit - Einheit; Klarheit - Unklarkeit. Schließlich setzte Erwin Panofsky, ein weiterer Begründer der modernen Kunstgeschichte, den "zusammengesetzten" Raum der Griechen dem "systemischen" Raum der italienischen Renaissance in seinem berühmten Aufsatz "Die Perspektive als symbolische Form"(1924-25) gegenüber. Panofsky zog eine Parallele zwischen der Geschichte der Raumdarstellung und der Evolution des abstrakten Denkens. Die Raumdarstellung bewegt sich vom Raum individueller Gegenstände in der Antike zu einer kontinuierlichen und systematischen Raumdarstellung in der Moderne, vom "zusammengesetzten" Raum zum "systematischen" in Panofskys Neologismen. Damit korrespondierend schreitet die Entwicklung des abstrakten Denkens vom Verständnis des Raums der antiken Philosophie als einem diskontinuierlichen zu dem der Post-Renaissance als einem unendlichen, ontologisch im Verhältnis zu den Körpern primären, gleichförmigen und isotropen, kurz: zum "systematischen" Raum fort.

- Wir müssen großen evolutionären Schemata keinen Glauben schenken, aber wir können die Kategorien selbst zurückbehalten. Welche Art von Raum ist der virtuelle Raum? Auf den ersten Blick stellen 3D-Computergrafiken, die grundlegende Technologie für die Erschaffung von virtuellen Räumen, ein Beispiel für das Verständnis Panofskys vom "systematischen" Raum der Renaissance dar, der logisch vor den Gegenständen existiert. Das cartesianische Koordinatensystem ist tatsächlich fest in die Software für Computergrafiken und oft in die Hardware selbst eingebaut. Wenn ein Designer ein Modellierungsprogramm startet, ist er normalerweise mit einem leeren Raum konfrontiert, der von einem perspektivischen Raster definiert wird, mit einem Raum, der schrittweise mit den Gegenständen angefüllt wird, die er erzeugt. Wenn die eingebaute Botschaft eines Synthesizers eine Sinuswelle ist, dann ist die eingebaute Welt der Computergrafiken ein leerer Raum der Renaissance, das Koordinatensystem selbst.

- Aber computergenerierte Welten sind in der Wirklichkeit eher "haptisch" und "zusammengesetzt" als "optisch" und "systematisch". Die gebräuchlichste Technik der 3D-Computergrafik zur Erzeugung von 3D-Welten ist das Modellieren von Polygonen. Die mit dieser Technik geschaffene virtuelle Welt ist ein Vakuum, das mit unterschiedlichen, durch starre Grenzen definierten Gegenständen gefüllt wird. Eine perspektivische Projektion erzeugt die Illusion, als ob diese Gegenstände zusammengehören würden, aber sie haben in Wirklichkeit keinerlei Verbindung untereinander. Es fehlt der Raum im Sinne einer räumlichen Umwelt oder eines räumlichen Mediums: die Umwelt zwischen den Gegenständen, eine Atmosphäre, die alles miteinander verbindet, die Wechselwirkungen zwischen jedem einzelnen Gegenstand.

- Auch eine weitere grundlegende Technik, die bei der Erzeugung von virtuellen Welten zum Einsatz kommt - das Compositing (superimposing, keying) -, führt zu einem "zusammengesetzten" Raum. Sie besteht in der Überlagerung von animierten Charakteren, Einzelbildern, Quicktime-Filmen und anderen grafischen Elementen über einen davon unabhängigen Hintergrund. Ein dafür typisches Szenario ist ein Avatar, der in Echtzeit in Reaktion auf die Befehle des Benutzers animiert wird. Der Avatar ist über ein Bild des Raums gelegt. Ein Avatar wird vom Benutzer gesteuert, während ein Bild des Raums von einem virtuellen Weltkonstrukteur beigesteuert wird. Weil diese Elemente aus unterschiedlichen Quellen stammen und in Echtzeit zusammengeführt werden, ist das Ergebnis eher ein Folge von 2D-Bildern als eine wirkliche 3D-Umwelt.

- Obgleich computergenerierte virtuelle Welten normalerweise in linearer Perspektive dargestellt werden, sind sie in Wirklichkeit nur Anhäufungen von unterschiedlichen Gegenständen, die miteinander nicht verbunden sind. Aus diesem Grund erweisen sich weitverbreitete Argumente, die behaupten, daß 3D-Computergrafiken uns wieder an die perspektivische Sicht der Renaissance binden und die deshalb regressiv seien, als unbegründet. Wenn wir das evolutionäre Paradigma von Panofsky auf die Geschichte des virtuellen Computerraums anwenden würden, dann hat dieser noch nicht einmal die Renaissance erreicht. Er befindet sich noch immer auf dem Stand der griechischen Antike, die den Raum nicht als Ganzheit verstehen konnte.

- Und wenn das WorldWideWeb und VRML 1.0 überhaupt Indizien sein sollen, dann nähern wir uns nicht dem systematischen Raum, sondern dann wird der "zusammengesetzte" Raum metaphorisch und buchstäblich zu einer neuen Norm. Prinzipiell kann der "Raum" des Web nicht als kohärente Ganzheit verstanden werden: er ist eine Ansammlung von zahlreichen, miteinander stark durch Links verbundenen Files, aber ohne übergreifende "Perspektive", die sie vereint. Dasselbe gilt für 3D-Räume im Internet. Ein VRML-File, das eine 3D-Szene beschreibt, ist eine Liste von unterschiedlichen Objekten, die irgendwo auf dem Internet sein können und jeweils von einer anderen Person oder einem anderen Programm erzeugt wurden. Die Objekte haben keine Verbindung untereinander. Und vielleicht kennt sogar niemand die ganze Struktur der Szene, da jeder Benutzer Objekte hinzufügen oder löschen kann.

- Das Web wurde bereits mit dem amerikanischen Wilden Westen verglichen. Das verräumlichte Web, wie es durch VRML (selbst ein kalifornisches Produkt) anvisiert wird, spiegelt den Umgang mit dem Raum in der amerikanischen Kultur noch stärker wider: den Mangel an Aufmerksamkeit gegenüber dem Raum, der nicht funktional benutzt wird. Das Gelände zwischen Häusern in Privatbesitz und Geschäftsniederlassungen ist dem Verfall preisgegeben. Das VRML-Universum enthält nicht einmal einen Raum als solchen, sondern lediglich Objekte, die verschiedenen Individuen gehören.

- Und was ist ein Objekt in der virtuellen Welt? Etwas, mit dem man etwas machen kann, das angeklickt, bewegt, geöffnet, kurz: gebraucht werden kann. Man ist versucht, das als eine Regression auf die Weltsicht eines Kindes zu deuten. Ein Kind stellt sich das Universum nicht als unabhängig von ihm existierend vor, es erscheint als eine Ansammlung von unverbundenen Objekten, mit denen es in Kontakt treten, die es berühren, belutschen, ergreifen kann. Auf ähnliche Weise versucht der Benutzer einer virtuellen Welt, auf alles zu klicken, was sich vor ihm befindet. Wenn die Objekte nicht reagieren, ist er enttäuscht. Im virtuellen Universum läßt sich die Maxime von Descartes folgendermaßen umschreiben: "Ich kann angeklickt werden, also bin ich."

5. Das ganze Bild

Ich habe verschiedene ästhetische Merkmale der virtuellen 3D-Welten diskutiert. Doch wie würde eine künftige, völlig ausgebaute Welt aussehen? Welche durchgängige Gestalt würde sie haben?

- Ein Beispiel für eine virtuelle Welt mit vielen Details, ausgestattet mit Landschaften und Menschen, ist Disneys Toy Story [8] (1995), der erste vollständig computeranimierte Film in Spielfilmlänge. Das ist eine erschreckend sterile Welt, in der sich die Spielzeuge und die Menschen völlig gleichen, wobei letztere als makabre Automaten erscheinen.

- Wenn Sie den Cyberspace der Zukunft schon heute sehen wollen, dann besuchen den Ort, an dem "Toy Story" gemacht worden ist - Los Angeles. Die Stadt stellt ein genaues Modell für die virtuelle Welt dar. Es gibt kein Zentrum, keinen Hinweis auf irgendeine zentralisierte Organisation, keine Spuren einer Hierarchie, wie dies für herkömmliche Städte wesentlich war. Man fährt zu bestimmten Orten, die nicht durch räumliche Gegebenheiten, sondern einzig durch ihre Adresse definiert sind. Ein modisches Restaurant oder ein Club können sich irgendwo befinden, inmitten von Meilen völlig unauffälliger Gebäude. Die ganz Stadt sieht wie eine Reihe bestimmter Punkte aus, die in einem Vakuum schweben und dem Bookmark File von Webseiten ähneln. Bei Ankunft an jedem Ort muß man, wieder wie im Web, zahlen. Hier begegnet man den modischen Einwohnern (Schauspielern, Sängern, Models, Produzenten), die wie eine neue Rasse, wie das Ergebnis einer erfolgreichen Mutation aussehen: mit unglaublich schöner Haut und schönen Gesichtern, mit einem geronnenen Lächeln und mit Körpern, deren perfekte Formen bestimmt kein Resultat der menschlichen Evolution sein können. Sie kommen wahrscheinlich aus dem Viewpoint-Katalog für 3D-Models. Das sind keine Menschen, sondern Avatars: wunderschön gerendert, ohne ein Polygon auszulassen, gestaltet nach der letzten Mode und nur dazu imstande, eine begrenzte Menge an Gesichtsausdrücken hervorzubringen. Geht man von der potentiellen Bedeutung jeden kommunikativen Kontaktes aus, dann wird Subtilität nicht toleriert. Avatars sind so gestaltet, daß sie in dem Augenblick einen Stimulus aussenden, in dem man ihn bemerkt und bevor man noch Zeit hat, die nächste Szene anzuklicken.

- Der geeignetste Ort, die ganze Gestalt wahrzunehmen, ist eines der Straßencafes auf der Sunset Plaza in West Hollywood. Die Avatars nippen inmitten der Illusion eines 3D-Raumes an ihrem Cappucino. Der Raum ist ganz offensichtlich das Ergebnis einer schnellen kompositorischen Arbeit: im Vordergrund Tische und die mit Airbrush gemachte Innenausstattung eines Cafés und im Hintergrund ein detailliert gemaltes Bild von Los Angeles mit einer durch übersteigerten Perspektive. Die Avatars erstarren in Posen, während sie auf ihre Agenten warten (ja, genau wie im Cyberspace), die wertvolle Informationen bringen. Ältere Kunden schauen sogar noch in höherem Maße computergeneriert aus, da ihre Gesichter die Spuren von umfangreichen Face-Liftings zeigen. Man kann sich an der Szenerie erfreuen und alle zwanzig Minuten die Parkuhr füttern.

- Eine virtuelle Welt wartet auf Sie. Wir brauchen nur Ihre Kreditkartennummer.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.csl.sony.co.jp/project/VS/index.html
[2] http://raven.ubalt.edu/Moulthrop/pi/snow_crash.html
[3] http://www.viewpoint.com/avalon/objects.html
[4] http://80/Product/index-Product.html
[5] http://www.ubique.com/places/gallery.html
[6] http://www.dcs.ed.ac.uk/home/mxr/objects.html
[7] http://www.clark.net/pub/theme/
[8] http://www2.disney.com/ToyStory/?GL=H