Vive la (R)evolution
Weder Art noch Anzahl unserer Gene sind möglicherweise primär verantwortlich für die evolutionäre Komplexität des Lebens, sondern vielmehr ein "Ein- und Ausknipsen" derselben nach dem Lichtschalter-Prinzip
Paris am Abend des 14. Juli 1789: Der Sturm auf den ungemütlichen, städtischen Kerker Bastille läutet die französische Revolution ein. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit trennen Ludwig XVI. von Thron und Hermelin, den Kopf vieler Bürger Frankreichs von dem ihm angestammten Platz auf dem Hals und Marie-Antoinette von Lustwandeln in den Jardins des Tuilleries und weiteren spaßigen Zerstreuungen. Gänzlich anderes hat die letzthin ausgerufene „Evo-Devo-Revolution“ im Sinn. Evo-Devo? Wer oder was mag sich dahinter verbergen?
Haeckel neu entdeckt
Der Name, setzt sich zusammen aus den einst als komplementär verstandenen Disziplinen Evolutions- und Entwicklungsbiologie (development), die sich vor einigen Jahren zu einem produktiven neuen Forschungszweig verquickten. Sean Carroll, Biologieprofessor an der Universität Wisconsin und ein führender Kopf auf dem Feld der Evo-Devo-Studien, sieht seine Ergebnisse und die seines Forschungszweigs als dritte revolutionäre Entwicklung in der Biologie. Er siedelt sie auf gleicher Stufe mit den fundamentalen Theorien von Darwin und Mendel an. Was aber steckt dahinter?
Die Hauptbotschaft ist simpel und klingt zunächst nach Ernst Haeckel-Revival. Haeckel, der ebenso streitbare wie umstrittene deutsche Naturforscher, den Manfred Laubichler in einer Nature-Veröffentlichung uncharmant „Darwins Schäferhund“ nennt, (Huxley nannte er „Darwins Bulldogge“), ersann Mitte des 19. Jahrhunderts die so genannte biogenetische Grundregel. Diesem Grundgesetz - „Ontogenese rekapituliert Phylogenese“ – zufolge, zeigen alle Organismen im Verlauf der Evolution zwei bedeutsame Veränderungen; zum einen in der Keimes-, zum anderen in der Stammesentwicklung. Soweit einleuchtend, da wir heute weder große Ähnlichkeit mit der embryonalen Kaulquappe zeigen, aus der wir einst sprossen, noch mit unseren stark geschuppten oder bepelzten Vorfahren, aus denen sich im Verlauf der letzten etwa 500 Mio. Jahre unsere Sippschaft letztlich entwickelt hat.
Vom Zeh zum Hox-Gen
Die neuen Schlussfolgerungen aus der Haeckelschen Grundannahme sind jedoch in dieser Deutlichkeit bislang noch nicht formuliert worden: Alle Lebewesen, unabhängig davon, ob mit Armen, Flügeln oder Flossen ausgestattet, verfügen demnach über eine relativ kleine Anzahl annähernd identischer „Kontroll-Gene“, die das Basis-Design eines jeden Tieres festlegen.
Um zu zeigen, dass es für die Erforschung von Regelmäßigkeiten, der Beschäftigung mit dem „Abnormen“ bedarf, gibt der Schweizer Entwicklungsbiologe Walter Gehring - hoch dekorierter Vorreiter auf dem Gebiet des Evo-Devo - gerne eine Anekdote von einer seiner Flugreisen zum besten. Im Flieger nach Seattle saß er zufällig neben einer Frau, die außergewöhnlich kurze Zeigefinger hatte. Eine genetische Veränderung des zweiten Zeigefingerknochens wie Gehring vermutete. Um seine Forscherneugier zu befriedigen, krabbelte er unter dem Vorwand, seiner Zeitung verlustig gegangen zu sein, auf dem Kabinenboden umher und nahm die Zehen der Dame in Augenschein. Und tatsächlich: Zeh Nr. 2 wies dieselbe Veränderung auf wie die verräterischen Zeigefinger.
Gehrings Wissensdurst wurde belohnt. In unzähligen Experimenten mit der Taufliege Drosophila melanogaster konnte er die Existenz und Funktionsweise der so genannten Homeobox- (kurz Hox-) Gene nachweisen. Diese legen den Bildungsort der unterschiedlichen Extremitäten auf einer Achse von Kopf zu Schwanz eines jeden Tieres fest. Gehrings nicht unumstrittene Experimente liefern dabei den Stoff, aus dem cineastische Gruselschocker gestrickt sind: mutierte Fliegen, aus deren Köpfen Beine statt Antennen sprießen.
Überraschend ist dabei die evolutionäre Kontinuität der Hox-Gene. Alle Tiere besitzen sie und bei nahezu allen Tieren ist ihre Funktionalität identisch. Auch müssen sie, da die Haupt-Tiergruppen bereits zu Beginn des Kambriums existierten, bereits ein Alter von etwa 500 Mio. Jahren aufweisen.
Menschen und Pinguine
Warum, so die Frage, die sich nun aber zwangsläufig aufdrängt, sehen verschiedene Kreaturen dann aber so unterschiedlich aus? Wie entwickeln sich Pinguine und Menschen aus denselben Genen? Die Antwort auf diese Frage leitet zu einer zweiten Erkenntnis der Evo-Devo-Forschung über. Unterschiedliches Tier-Design spiegelt zwar den Satz derselben „alten“ Gene wieder, die jedoch zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Stellen im jeweiligen Organismus aktiviert werden. Im Rahmen dieser selektiven Aktivierung spielt die sog. nicht-codierende DNA im amerikanischen bisweilen wenig freundlich Junk-DNA genannt eine wichtige Rolle.
DNA: Die Erbsubstanz die von Eltern an ihre Kinder weitergegeben wird und deren wichtigste Aufgabe darin besteht, den Zellen ein „Kochrezept“ für Proteine zu übermitteln. Ein DNA-Strang, der ein Protein codiert, wird Gen genannt. Ein bestimmtes Gen, d. h. eine bestimmte DNA-Sequenz, die eine Zelle „instruiert“ eine bestimmte Art von Protein zu bilden – codiert beispielsweise die Bildung von Insulin. Jeweils zwischen zwei Genen befindet sich der weitaus größte Teil der DNA (ca. 95%) die sog. nicht-codierende DNA, die, so glaubte man lange, scheinbar keinerlei Funktion aufweist.
Da nahezu alle unsere Zellen dieselbe DNA tragen, mag es ebenfalls Wunder nehmen, warum unsere Augen anders aussehen, als unsere Bauchspeicheldrüse. Der Hauptgrund dafür ist auch hier, dass Gene nicht notwendigerweise jede Zelle zum Proteinbau veranlassen. Stattdessen ist nur ein bestimmtes Gen in einer bestimmten Zelle auf „go“ und kann so die Produktion eines bestimmten Proteins in Gang zu setzen. Also sieht u. a. unsere Bauchspeicheldrüse anders aus als unsere Augen, weil das Insulin-Gen – gemeinsam mit anderen - nur in unserer Bauchspeicheldrüse aktiviert ist, nicht aber in unserem Auge. Wie bestimmte Gene wo aktiviert werden, spielt eine wichtige Rolle in der Evo-Devo Forschung.
Die meisten Gene weisen, ähnlich wie unser Nachttischlämpchen, ihnen zugehörige „Schalter“ in unmittelbarer Umgebung auf. Diese Schalter, die aus nicht-codierender DNA bestehen, bewirken dabei die Aktivierung eines bestimmten Gens zu einer bestimmten Zeit; wirken sich aber ansonsten in keiner Weise auf den Proteinbildungsprozess aus. Ein Schalter könnte so beispielsweise spezifizieren, wo ein Gen aktiviert wird (z. B. in der Bauchspeicheldrüse), ein anderer wann es aktiviert wird (z. B. im Erwachsenenalter).
„Schalterkombinationen“ treiben die Evolution an
Das Aufregendste an Evo-Devo hat jedoch mit einer dritten These zu tun. Sean Carroll und andere argumentieren nun weiter, dass Evolution sich hauptsächlich durch die Zusammenstellung bzw. Veränderung solcher Gen-Schalterkombinationen manifestiert.
In einer gut bekannten Studie identifizierte eine Gruppe von Wissenschaftlern eine DNA-Region, die einen auffälligen Unterschied zwischen zwei verschiedenen Stichlingsarten hervorruft. Eine marin lebende Art, die im Pazifik beheimatet ist, hat spitze Stacheln entlang der Wirbelsäule. Die andere Art lakustrin lebender Stichlinge, die sich am Ende der letzten Eiszeit entwickelt hat, weist diese Stacheln nicht auf; möglicherweise weil sie nicht länger als Schutz gegen ozeanische Fressfeinde benötigt wurden. Dieser Unterschied in der Anatomie ist genetischer Natur. Die ozeanische Art bildet Stacheln aus, unabhängig davon in welchem Wasser sie gehalten wird. Die Ausbildung der Stacheln scheint auf ein einzelnes Gen, Pitx1 zurückzugehen. Beachtlich, da Pitx1 sowohl in der ozeanischen als auch in der im See lebenden Art präzise dasselbe Enzym codiert. Also warum ist der Habitus beider Arten unterschiedlich? Weil durch alle Gewebe, in denen normalerweise Pitx1 aktiviert ist - Kopf, Hals, Rumpf und Schwanz- die Wirbelsäulenregion der lakustrinen Stichlinge die Aktivierung des Gens eingestellt hat. Vor etwa 10.000 Jahren trat also eine Mutation des DNA Schalters nahe Pitx1 auf und die Stacheln verschwanden von den Rücken der See-Stichlinge.
Aus der Sicht des Evo-Devo sind Tiere also zwar auch weiterhin durch natürliche Selektion an ihre Umwelt angepasst, aber die Anpassung bezieht eine andere Art von genetischem Mechanismus ein als bisher angenommen. Als ein Ergebnis ist es laut Carroll nötig, dass Evolutionsbiologen ihre Protein-zentrierte Perspektive verlassen und sich stattdessen der wenig verstandenen Welt der nicht-codierenden DNA zuwenden, die bislang ein wahres Mauerblümchen-Dasein fristete.
Kombinatorische Explosion
Weiterhin kann die Idee, dass die Organismen-Diversität vor allem durch Kaskaden von Genen unterschiedlicher Aktivierungszustände reflektiert wird, ebenso eine Erklärung dafür liefern, wie sich so viele verschiedene Tierarten aus einer relativ geringen Anzahl von Genen entwickeln konnten. Wirbeltiere, den Menschen eingeschlossen, tragen nur etwa 25.000 Gene; die meisten anderen Tiere sogar weniger. Wie kann die Natur so viele Lebensformen aus einer relativ geringen genetischen Ausstattung basteln? Bis dato rätselhaft. Die Antwort lautet nun: kombinatorische Explosion. Während diese genetische Ausstattung nicht dazu angetan scheint, die schier unvorstellbare Diversität erklären zu können, die die Natur uns zeigt, ist die Anzahl der Kombinationsmöglichkeiten bezüglich der verschiedenen „Anknipszustände“ nahezu endlos.
Was Carroll die Evo-Devo-Revolution nennt, wurde jedoch nicht allerorts mit grenzenlosem Enthusiasmus aufgenommen. Die Hauptsorge der Kritiker ist, dass empirische Studien, die die Thesen des Evo-Devo untermauern könnten, begrenzt bleiben dürften. Untersuchungen wie das Stichling-Projekt sind generell schwierig durchzuführen; zu wenig denkbare Projekte scheinen die Ausgangsbedingungen erfüllen zu können. Obwohl die bisherigen Experimente darauf hindeuten, dass evolutionäre Wechsel mittels „DNA-Schalter-Mechanismen“ recht häufig anzutreffen sind, ist es bis jetzt nicht klar, ob dies auch die Norm darstellt.
So argumentieren beispielsweise die Biologen Marc Kirschner und John Gerhardt, dass diese Art Wechsel im modularen Aufbau von aktivierten Genen, die Carroll und andere propagieren, alles andere als allgemeingültig sind. Obwohl Kirchner und Gerhardt der Evo-Devo-Forschung generell positiv gegenüber stehen, diskutieren sie einige Ausnahmefälle, in denen sich evolutionäre Entwicklungen beispielsweise durch Gen-Austausch vollzogen haben. Und Carroll selbst bestätigt, dass es wichtige Ausnahmen gibt.
Eine der größten Ausnahmen betrifft unsere eigene Stammeslinie, die der Wirbeltiere. Wir wissen nun, dass der Aufstieg der Vertebraten vor 20 Millionen bis 500.000 Jahren durch zwei einzelne Verdoppelungen des gesamten Genoms gekennzeichnet war. Vertebraten fanden sich also plötzlich mit der 4-fachen genetischen Ausstattung im Vergleich zu ihren Vorfahren wieder.
Darwins Sinfonie nicht länger unvollendet?
Wie steht es also mit der dritten (Evo-Devo) - Revolution vor dem Hintergrund von manch einschränkendem Argument? Stellt Evo-Devo die Thesen Mendels vom Kopf auf die Füße oder krempelt gar die Darwinsche Lehre von innen nach außen? Das nicht. Darwin bleibt Darwin und Mendel bleibt Mendel. Auch weiterhin.
Aber Evo-Devo vermag Interpretationslücken in der Evolutionstheorie zu schließen, die nicht zuletzt amerikanische Kreationismus-Freaks dazu bewegten, erneut gegen die Thesen Darwins zu wettern. Dem bislang unzureichend erklärbaren Phänomen der Komplexität des Lebens werden durch Evo-Devo ebenso erhellende wie überzeugende Aspekte hinzugefügt. Selbst wenn wir hier statt einer handfesten Revolution, eher ein Revolutiönchen erleben, hat das - unabhängig vom wissenschaftlichen Gehalt - auch Vorteile: Lustwandeln erlaubt und alle Beteiligten dürfen ihren Kopf behalten.
Literatur:
Carroll, Sean (2005): Endless forms most beautiful: The new science of Evo Devo and the making of the animal kingdom. 288 Seiten. Norton & Co. ISBN: 0393060160