Völkerrechtliche Perspektiven auf die Situation der Uiguren in China
Seite 2: Chinas umstrittene Antiterror-Maßnahmen: Ein kritischer Blick
- Völkerrechtliche Perspektiven auf die Situation der Uiguren in China
- Chinas umstrittene Antiterror-Maßnahmen: Ein kritischer Blick
- Die Realität der Umerziehungslager: Untersuchung der Vorwürfe
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Als Reaktion auf diese Serie wurde zunächst 2003 die Antiterrorismuskampagne "Hart zuschlagen" und nach weiteren Unruhen 2009 im Jahr 2015 von der Zentralregierung in Peking ein Antiterrorgesetz für Xinjiang beschlossen, welches das Autonome Gebiet 2016 mit eigenen Antiterrorregelungen ergänzt hat.
In der Folge wurden die kritisierten Umerziehungslager oder Deradikalisierungszentren eingerichtet, die allerdings 2019 wieder aufgelöst wurden. Dies wird auch von dem schärfsten Kritiker Adrian Zenz eingeräumt. Nicht unberücksichtigt bleiben darf dabei aber die Verbindung uigurischer Dschihadisten zum Ausland.
Aufdeckung der Umerziehungslager: Zwischen Propaganda und Realität
Sie beschränkt sich nicht nur auf die Ausbildung durch die Taliban, sondern besteht auch in gemeinsamen Kampfeinsätzen im Norden Afghanistans und an der Seite von IS und Al-Qaida-Kämpfern in Syrien, Südostasien und Libyen.
Derzeit sollen mehrere tausend Uiguren noch in Idlib/Syrien gemeinsam mit der Nusra-Front gegen die Regierung in Damaskus kämpfen (vgl. Sydow 2019). Erst im Jahr 2014 wurden die letzten drei von insgesamt 17 Uiguren, die die US-Armee in Afghanistan bei den Taliban als Terroristen gefangen genommen hatten, aus Guantánamo entlassen.
Sollten alle diese versprengten Söldner eines Tages zurück nach Xinjiang kommen, würde das die Sicherheitsprobleme zweifellos erhöhen.
Insgesamt zeigen bereits diese unvollständigen Daten, dass sich die chinesischen Behörden über die Jahre mit einem erheblichen Terrorproblem vorwiegend in Xinjiang auseinanderzusetzen hatten und dabei auch polizeiliche und militärische Gewalt anwenden mussten.
Die Rede von der "systematischen Internierung einer ganzen ethnoreligiösen Minderheit", die vom Ausmaß her "vermutlich die größte seit dem Holocaust" sei, wie Adrian Zenz zitiert wird, ist m. E. jedoch ohne reale Grundlage und im Vergleich vollkommen deplatziert.
Aus dem Antiterrorkampf der USA in Afghanistan und Irak wissen wir über die massiven Menschenrechtsverstöße, die sich durch die Misshandlung der Gefangenen in Lagern wie Guantánamo, Abu Ghraib und Bagram ergeben haben.
Es ist nicht auszuschließen, dass sich solche Probleme auch in den Deeskalierungszentren in Xinjiang zugetragen haben. Für die Gegenwart halte ich allerdings aufgrund unserer Gespräche in der Akademie der Sozialwissenschaften in Urumqi und mit der Parteiführung von Xinjiang die weitere Existenz solcher Zentren und Lager für sehr unwahrscheinlich.
Der seit Dezember 2021 neu amtierende Parteisekretär Ma Xingrui räumte Willkürmaßnahmen während des Antiterrorkampfes ein, betonte jedoch, dass es nun um eine rasche Rückkehr zur Normalität ginge. Das Rechtsbewusstsein und die Sicherheit rechtlicher Verfahren müsse gestärkt werden, um das allgemeine Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtmäßigkeit staatlichen Handeln wiederzugewinnen.
Die Minderheiten-Politik – ein zweischneidiges Schwert
Ein weiterer Aspekt, der für die Beurteilung der Vorwürfe wesentlich ist, ergibt sich aus der Politik Chinas gegenüber den zahlreichen ethnischen Minderheiten. China umfasst 56 Nationalitäten. Neben der ethnischen Mehrheit der Han-Chinesen gibt es 55 ethnische Minoritäten mit einem Bevölkerungsanteil von 8,5 Prozent mit elf geschriebenen Sprachen. Die "autonomen Gebiete" der ethnischen Minoritäten, zu denen auch Xinjiang gehört, bemessen fast zwei Drittel der gesamten chinesischen Oberfläche.
Es sind vorwiegend Grenzgebiete mit außerordentlich reichen Ressourcen aber erheblichem Entwicklungsrückstand gegenüber dem östlichen, an die Küste grenzenden Kerngebiet. Es ist jedoch nicht nur dieser Rückstand, der durch umfangreiche ökonomische und soziale Programme überwunden werden muss, sondern auch die historisch auf die imperiale Kaiserzeit zurückreichende vertikale Kluft zwischen den Han und den tributpflichtigen "unzivilisierten Barbaren".4
Von der Seidenstraße zur Industriemacht: Xinjiangs Wandel
Ein angebliches Regierungsdokument von 2017, welches 2019 mit der Bezeichnung "China Cables" in den Westen gelang, enthüllt, dass das Berufsbildungs- und Trainingsprogramm, das heißt, die Umerziehung der Uiguren und der anderen muslimischen Minderheiten in Xinjiang, eng verknüpft war mit der Aufgabe zu disziplinieren, zivilisieren und in städtische Gebiete umzusiedeln.
Es geht dabei um industrielle Disziplin, Selbstdisziplin und zivilisierten Umgang im täglichen Leben, die das Benehmen, die Gewohnheiten und die Hygiene der ethnischen Bevölkerung verändern sollen, wozu auch das Erlernen der chinesischen Sprache, des Mandarin, gehört. Das kann man als rigorose Assimilierungspolitik bezeichnen, hat aber vor allem das Ziel, die Armut zu bekämpfen und den Lebensstandard der überwiegend ländlichen Bevölkerung zu verbessern.
Rechtsstaatlichkeit und Völkermordvorwurf: die juristische Analyse
Ökonomische Vernachlässigung, Erwerbslosigkeit der Uiguren und die anhaltende Immigration der Han waren zweifellos wesentliche Faktoren für die ethnischen Spannungen in Xinjiang schon seit dem Ende der 90er-Jahre. Durch die anschließende Zeit der Unruhen wurden die Spannungen nur noch verschärft. Das musste die Partei in den Griff bekommen, um der dortigen Bevölkerung ein Umfeld zu schaffen, in dem sich das Individuum und die Gesellschaft entfalten kann.
Das Mittel dazu war, die große Masse der ländlichen Arbeitslosen in produktive Arbeitskräfte in der Industrie zu verwandeln. So wurden in Xinjiang seit 2016 1,4 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen. Von 2014 bis 2019 stieg die Zahl der Beschäftigten um 2 Mio. Die Gesundheitsversorgung wird staatlich subventioniert.
Der Kampf gegen den Analphabetismus wurde durch bildungspolitische Maßnahmen wie die Einführung von 15 Jahren kostenloser Kindergarten, Schul- und Berufsausbildung in Süd-Xinjiang, die auch in den Norden ausgeweitet werden soll, und die Einrichtung von Internaten zu einem weiteren Schwerpunkt der Entwicklungsanstrengungen (vgl. Heberer/ Schmidt Glintzer 2023).
Unterricht ist in den Pflichtschuljahren zweigleisig. In der Grundschule sind manche Fächer in Uigurisch. In der Unterstufe der Mittelschule ist Mandarin Hauptsprache. In der Oberstufe nur noch fakultativ.
Bildung und Entwicklung: Schlüssel zum Erfolg in Xinjiang
Laut Angaben des Ministeriums für Erziehung wuchs der Anteil der Schüler, die die Oberschule besuchten, in den uigurisch dominierten Teilen Xinjiangs in fünf Jahren von 38 Prozent auf 84 Prozent. 2019 waren es bereits 98,82 Prozent für die Provinz insgesamt. Mehr als 46 Prozent der 18- bis 22-Jährigen verfolgten ein Studium, eine Zahl, die sich seit 2010 verdoppelt hat (vgl. Bücklers 2021).
Bemerkenswert ist die Entwicklungshilfe durch andere, wohlhabendere chinesische Provinzen, die Investitionen in Industrie, Landwirtschaft, Dienstleistung und Ausbildung tätigen und damit Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Uigurinnen und Uiguren schaffen. Dazu gehören etwa die neuen Berufsausbildungszentren in jedem Landkreis in Xinjiang.
Wir besichtigten das Zentrum in Kashgar mit ca. 10.000 Auszubildenden, welches von der Provinz Guangdong großzügig unterstützt wurde. Hier werden insgesamt 22 Fächer angeboten, von Informationstechnik, Maschinenbau und Lebensmittelproduktion bis zu Mode und Tourismus. Die Ausbildung ist kostenfrei, und obendrein erhalten die Jugendlichen 200 Yuan (ca. 26,30 Euro) monatlich zur Unterstützung ihrer Eltern.
Das ist zweifellos ein starker Anreiz, die Kinder zur Ausbildung zu schicken. Zudem eröffnet dies Angehörigen anderer ethnischer Minderheiten und vor allem jungen Frauen die Möglichkeit, eine kostenlose Berufsausbildung zu erhalten.
Die Zukunft Xinjiangs: Herausforderungen und Chancen
Eine uigurische Managerin, die ein privates Modeunternehmen leitet, in dem Frauen aus der unmittelbaren Umgebung Kleidung herstellen, erklärte, dass die Miete für das staatliche Grundstück prozentual an den Gewinn ihres Unternehmens angepasst sei, sie durch die Mietkosten also nie ins Defizit getrieben werden könne.
Zu der Unterstützung der Entwicklung gehört auch ein Programm der Zentralregierung, welches seit 1997 regelmäßig Fachkräfte aus etwa 120 zentralen Departments und Organisationen in die Region entsendet. Sie sind spezialisiert in den Bereichen Erziehung, medizinische Versorgung, Wissenschaft, Recht und Technologie sowie Kultur und Tourismus.
Über 60 Prozent sind in den technischen Disziplinen und auf Unternehmensmanagement spezialisiert. Bisher sollen über 20.000 solcher Fachkräfte in ganz Xinjiang eingesetzt worden sein. Kurz nach unserer Reise, im Juni 2023 waren wieder 600 Fachkräfte für einen dreijährigen Einsatz in Xinjiang angekommen.
Zweifellos verfolgt dieses Programm auch die stärkere Integration der unruhigen Provinz in die nationale chinesische Einheit, doch sollte man den Wert der Unterstützung für die Entwicklung dieser Region nicht unterschätzen.
Abschlussbetrachtung: Die komplexe Realität Xinjiangs
Die erhobenen Vorwürfe konzentrieren sich auf die Straftatbestände der Artikel 6 und 7 Römisches Statut (RSt) vom 17. Juli 1998, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Art. 6 und 7 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) v. 26. Juni 2002 weitgehend inhaltsgleich in das deutsche Strafrecht übernommen worden sind. Hier geht es um Maßnahmen, die sich gegen einzelne individuelle Personen richten können, aber kollektiv auf eine Gruppe oder generell die Zivilbevölkerung zielen.
Art. 6 RSt zählt folgende Tathandlungen auf, die hier vorliegen könnten:
a) Im Sinne dieses Statuts bedeutet "Völkermord" jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören […];
b) Verursachung von schweren körpe lichen oder seelischen Schäden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf der Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind.
Die Uiguren sind zweifellos eine durch Art. 6 RSt geschützte Personengruppe (ca. 12,7 Mio. Uiguren von insgesamt ca. 21 Mio. Einwohnern). Unter "schweren körperlichen oder seelischen Schäden" gelten in der Rechtsprechung "Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Verfolgung sowie Handlungen sexueller Gewalt, Vergewaltigung, Verstümmelung und Vernehmungen, die mit Schlägen und/oder Todesdrohungen einhergehen" (Ambos 2008, II 137).
Die Schäden müssen folglich so schwer sein, dass sie die Gefahr der teilweisen oder völligen Zerstörung der Gruppe zur Folge haben. Allerdings muss die Zerstörung nicht eingetreten sein. Der Wortlaut des Artikels spricht nur von der "Verursachung" der Schäden und der "Absicht" der Zerstörung, die aber bisher nicht eingetreten sein muss.