Volksimpfstoff statt Pharmaprofite

Die Staaten des Nordens vereinnahmen die Produktionskapazitäten für Impfstoffe – und sabotieren Initiativen zur Aufhebung von Patenten während der Pandemie

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Der gähnende Abgrund zwischen Nord und Süd, zwischen den Zentren des Weltsystems und der ökonomisch abgehängten Peripherie, – er tritt gerade im Verlauf der Pandemie krass zutage. Mit den ersten Erfolgen bei der Herstellung von Corona-Impfstoffen wird nämlich klar, dass die künftige Immunisierung der Menschheit sich entlang der sozioökonomischen Spaltung des spätkapitalistischen Weltsystems vollziehen wird.

Der wirksame Schutz vor Covid-19 wird für Milliarden Menschen im globalen Süden erst 2023 oder 2024 in Reichweite rücken, da jüngst publizierten Studien zufolge Industrienationen und Schwellenländer einen Großteil der globalen Produktionskapazitäten für Impfstoffe durch exklusive Verträge in Beschlag genommen haben.

Etliche Schwellenländer, die USA und die Staaten der Europäischen Union befinden sich praktisch in einem Wettlauf, um möglichst viele Impfstoffkandidaten zu sichern und sich alle Optionen für die Massenimpfung offenzuhalten. Die Folgen dieses staatlichen Rattenrennens um potenzielle Impfstoffe beklagte die Nichtregierungsorganisation Oxfam schon Mitte September: Länder, die 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, haben rund 51 Prozent der Produktionskapazität potenzieller Impfstoffe aufgekauft, mit der rund fünf Milliarden Dosen hergestellt werden können.

Globaler Impfstoffwettlauf

Anfang Dezember aktualisierte Zahlen sehen hierbei die Vereinigten Staaten an der Spitze, die sich Optionen auf bis zu 2,6 Milliarden Dosen verschiedener Impfstoffhersteller offenhalten. Die Europäische Union liegt mit aufgekauften Produktionskapazitäten für knapp zwei Milliarden Impfstoffdosen an Platz zwei, gefolgt von Indien (1,6 Milliarden), der Impfallianz Covax, die sich die gerechte Verteilung von Impfstoffen auf die Fahnen geschrieben hat, dem Vereinigten Königreich, Kanada, Indonesien und Japan.

Weniger als 800 Millionen Dosen sind derzeit für die ärmsten Länder vorgesehen. Das regelrechte "Horten" von potenziellen Impfstoffen, bei dem die entsprechenden Produktionskapazitäten ausgebucht werden, resultiert gerade aus dem Umstand, dass die Effektivität der verschiedenen Impfstoffe nicht klar ist, und die Staaten sich mehrere Optionen offenhalten wollen.

Etliche Länder im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems, wie die USA, Kanada und Großbritannien, haben somit genug Produktionskapazitäten in Beschlag genommen, um die gesamte Bevölkerung mehrfach zu impfen, während in der Peripherie sich enorme logistische Probleme und finanzielle Hürden bei etwaigen Impfkampagnen auftun.

Gerade an der Motivation der von der WHO mitgegründeten Impfallianz Covax, an deren Finanzierung auch die EU, Kanada und Großbritannien beteiligt sind, äußern Nichtregierungsorganisationen deutliche Kritik. Demnach seien von den angepeilten zwei Milliarden Impfstoffdosen derzeit im Rahmen des Programms nur 740 Millionen gesichert.

Überdies sei nicht klar, wie die finanziellen und logistischen Hürden der Massenimpfung in der Peripherie bewältigt würden. Covax - das durch die Zentren finanziert wird - könnte laut Sprechern der NGO Center for Global Development Impfstoffe aufkaufen, die "zu teuer oder ungeeignet" seien für die Peripherie - etwa durch die Verwendung aufwendiger Kühlsysteme, die im globalen Süden kaum aufrechterhalten werden können.

Subventionen, Profite und "Volksimpfstoff"

Covax könnte somit Impfstoffe von der Pharmabranche aufkaufen, die "nicht allzu brauchbar sind in den Ländern, die sie brauchen", hieß es weiter. Dass die Impfkampagne so richtig ins Geld gehen wird, steht indes außer Frage. Die staatlichen Subventionen, die zur Entwicklung eines Impfstoffes größtenteils an die Pharmaindustrie flossen, belaufen sich auf rund 6,5 Milliarden Euro. Doch zugleich haben es die Regierungen weitestgehend versäumt, Einfluss auf die künftige Preispolitik der Impfstoffhersteller zu nehmen.

Die NGO Oxfam führte in diesem Zusammenhang das Beispiel des amerikanischen Biotechnologieunternehmens Moderna an, das rund 2,5 Milliarden Dollar an Subvention vom US-Steuerzahler erhielt, um hiernach weiterhin auf einen profitträchtigen Absatz der steuerfinanzierten Impfstoffe zu setzen. Diese sollen für 12 bis 16 US-Dollar in den USA und für rund 35 Dollar im Ausland verkauft werden. Selbst bei einer enormen Ausweitung der eigenen Produktionskapazität stößt das Pharmaunternehmen hierbei schnell an Produktionsgrenzen: nur 475 Millionen Menschen könnten mit dessen Impfstoffen versorgt werden.

Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam fordern hingegen die globale Herstellung eines "Volksimpfstoffs", der "für jeden verfügbar" sein müsse, indem er kostenfrei und basierend auf tatsächlichen Bedarf verteilt würde. Dies könne laut der NGO nur dann der Fall sein, wenn die Pharmakonzerne genötigt würden, die Impfstoffe allgemein, frei von Patenten, produzieren zu lassen - und sie ihr diesbezügliches Wissen allgemein teilten, anstatt "ihre Monopole zu schützen und an den Höchstbietenden zu verkaufen".

Patentpoker

Der Kampf um die Aufhebung von Patenten, den die WHO mit dem COVID-19 Technology Access Pools (C-TAP) initiierte, zeigt indes, dass die Aufrechterhaltung des Status quo für viele Staaten des Nordens selbst in einer globalen Pandemie Priorität hat. In dem WHO-Patentpool sollen alle Corona-Patente und sonstiges pandemierelevantes Knowhow eingehen, um einen schnellen Transfer von Informationen und Technologie in der Pandemie zu ermöglichen.

Laut der Wochenzeitung Kontext sind dem Vorhaben 40 Länder beigetreten, hauptsächlich aus dem Süden. Aus Europa seinen nur "Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Portugal und Norwegen" an Bord. Staaten, in denen führende Pharmakonzerne ansässig sind, seien nicht daran beteiligt, was die Sinnhaftigkeit des gesamten Unterfangens infrage stellt. Die Profite der heimischen Pharmaindustrie scheinen hierbei wichtiger zu sein als eine rasche globale Bekämpfung der Pandemie.

Ein ähnliches Schicksal scheint einer im Rahmen der WHO gestarteten Initiative Indiens und Südafrikas zu drohen, die zumindest eine temporäre Aussetzung des kapitalistischen Patentregimes während der Pandemiebekämpfung forderten. NGOs wie Ärzte ohne Grenzen oder Medico International unterstützen diese Initiativen - und sie kritisieren die Haltung der Bundesregierung scharf.

Medico International spricht etwa von einer "Schaufensterpolitik" der Bundesregierung, die "vor allem die Interessen der Pharmaindustrie" im Auge habe und faktisch eben den "Impfstoff-Nationalismus" praktiziere, der bei Sonntagsreden gerne kritisiert würde. Berlin blockiere Vorhaben, die den Covid-19-Impfstoff zu einem "globalen öffentlichen Gut" machten, indem etwa der C-TAP-Initiative die Unterstützung verweigert würde.

Zudem setze die Bundesregierung auf die "enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Pharmaunternehmen und philanthropischen Stiftungen wie der Gates-Stiftung". Notwendig wären hingegen Maßnahmen, die "den Einfluss und die Gewinninteressen der Pharmaindustrie" begrenzten.

Innovationsfaule Pharmawirtschaft

Fazit: Der Steuerzahler finanziert faktisch die Impfstoffentwicklung der Pharmakonzerne, die hiernach diese mit öffentlichen Geldern entwickelten Produkte möglichst profitabel veräußern. Geradezu skandalös ist diese Entwicklung vor allem vor dem Hintergrund des massiven Versagens der Pharmabranche bei der Impfstoffforschung, die jahrzehntelang vernachlässigt wurde, weil sie schlicht nicht profitabel genug ist.

Das Problem der Pharmaforschung besteht schlicht darin, dass erfolgreiche Medikamente ihre Märkte zerstören, indem sie die Marktnachfrage gegen null abfallen lassen. Innovation in der kapitalistischen Pharmabranche konzentriert sich folglich auf Krebs oder chronische Erkrankungen, während Infektionskrankheiten vernachlässigt werden. Die Erforschung von Impfstoffen lohnt sich einfach nicht - und sie wurde deswegen systematisch vernachlässigt.

Kapitalistische Innovationsfaulheit herrschte bis zum Ausbruch der Pandemie nicht nur bei der Erforschung neuer Impfstoffe vor, sondern auch bei Antibiotika - was zur Ausbildung immer neuer Resistenzen führte und vielen Menschen buchstäblich das Leben kostete.

Mit Antibiotika kann ein Pharmakonzern keinen beständigen Pool von Patienten aufbauen, denen immer wieder Medikamente verkauft werden können. Impfstoffe sind schlicht ein unkalkulierbares unternehmerisches Risiko, da nie klar ist, ob sich die Investitionen rentieren werden.

So ließen die 20 größten Pharmakonzerne laut Schätzungen rund 50 Prozent ihrer Forschungsmittel in die Krebsforschung fließen - während in die Erforschung von Corona-Viren bis kurz vor dem Ausbruch der Pandemie keinerlei Mittel aufgewendet wurden, obwohl die WHO schon nach Ausbruch der Sars-Empidemie deren Erforschung empfahl. Das neoliberale Laissez-faire der globalen Märkte ließ somit jahrzehntelang den munter mutierenden Viren und Bakterien weitgehend freie Hand.