Vom Fremdschutz zum Selbstschutz
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Die Omikron-Variante verändert viel. Auch scheinbare Gewissheiten zur Impfeffektivität, die eine wesentliche Grundlage für die Forderung nach einer Impfpflicht bilden
"Impfen hilft. Auch allen, die du liebst." So lautet das nicht wirklich einfallsreiche Motto der neuen Werbekampagne der Bundesregierung vor drei Wochen, die 60 Millionen Euro gekostet hat und nicht einmal versucht auf die Gründe von Menschen einzugehen, die sich bisher nicht haben impfen lassen.
Während das Motto in gewisser Weise die Aussage offen lässt, ob die Impfung auch einen guten Fremdschutz bietet (denn man kann sie so verstehen, dass der Angesprochene auch alle Menschen, die er liebt, überzeugen sollte, sich impfen zu lassen), betont Bundeskanzler Olaf Scholz selber ausdrücklich, dass die Impfung nicht nur eine Frage des Selbstschutzes sei, sondern auch und besonders des Fremdschutzes.
Bei rasant ansteigenden Infektionszahlen in der Omikron-Welle hob Scholz auf Twitter entsprechend eine zentrale Aussage seines Interviews mit der Süddeutschen Zeitung hervor:
Wer sich entscheidet, sich nicht impfen zu lassen, trifft die Entscheidung nicht für sich allein. Er entscheidet mit über das Schicksal all derer, die sich deshalb infizieren.
Die Gretchenfrage
"Olaf Scholz sagt nicht die Wahrheit", titelt Die Welt und erklärt:
Öffentlich suggeriert Olaf Scholz, die Impfung könne wirkungsvoll Ansteckungen verhindern. Das ist längst durch Omikron widerlegt – wie nicht nur das Impf-Musterland Bremen zeigt. Verbreitet der Kanzler wissentlich Fehlinformationen, um die Impfpflicht voranzutreiben?
Bei der aktuellen Frage nach einer möglichen allgemeinen Impfpflicht – aber in der Konsequenz natürlich auch bei der branchenspezifischen Impfpflicht – ist die Klärung der Frage von entscheidender Bedeutung, inwiefern die Impfung nicht nur dem Selbstschutz dient, sondern auch dem Fremdschutz, das heißt nachweisbar die Wahrscheinlichkeit der Übertragung verringert.
So überzeugt der Bundeskanzler trotz der Omikron-Welle vom Fremdschutz der Impfung ist, so sehr verdient diese Frage einen genaueren Blick.
"Sicherlich eine Wirkung des Fremdschutzes"
Auf Anfrage von Telepolis hat Klaus Stöhr sich zu der Frage geäußert, inwiefern die Impfung einen Fremdschutz darstellt:
Die Impfung mit einem in Europa zugelassenen Sars-Cov-2 Impfstoff führt nicht nur zur Reduktion der Wahrscheinlichkeit einer apparenten Infektion mit potenziell schweren Verläufen. Geimpfte Personen haben besonders im Zeitraum nach der Impfung auch ein geringeres Risiko der Virusausscheidung, die dann auch noch geringer und kürzer als bei Ungeimpften sein dürfte.
Deshalb hat die Impfung mit einem der gegenwärtig verfügbaren Impfstoffe in Europa auch sicherlich eine Wirkung des Fremdschutzes; deren Größenordnung ist aber schwer abzuschätzen.
Allerdings hat die Frage bei Atemwegserkrankungen nur eine theoretische Bedeutung in der Infektionsprophylaxe: alle Personen, ob geimpft oder genesen, werden sich reinfizieren mit der hohen Wahrscheinlichkeit einer Virusausscheidung. Das ist der fundamentale Grund für die permanente, auch noch saisonal abhängige Zirkulation der respiratorischen Viren, auch bei der bald saisonal auftretenden Sars-Cov-2-Infektion.
Um die angesprochene Größenordnung des Fremdschutzes besser einschätzen zu können, lohnt ein Blick auf die aktuellen Zahlen.
Impfeffektivität
Das RKI berechnet in jedem Wochenbericht die Impfeffektivität. Allerdings beziehen sich die Ergebnisse einzig auf den Schutz vor einer Krankenhauseinweisung und erlauben daher keinen Aufschluss über den möglichen Fremdschutz.
Da keine Zahlen zur Anzahl der Infektionen von geimpften Menschen existieren, kann sich der Versuch einer Einschätzung der Impfeffektivität nur auf symptomatische Infektionen beziehen.
Die Zahlen des RKI (Stand: 1. Februar 2021; S. 27) sind im Hinblick auf die Impfeffektivität bei der Omikron-Variante bei den symptomatischen Fällen bemerkenswert (Leider wurde im aktuellen Wochenbericht nun auf die Tabelle mit den symptomatischen Erkrankungen verzichtet und nur eine Übersicht angeboten, die nicht zwischen Delta und Omikron differenziert):
Die sogenannten Grundimmunisierten in der Gruppe zwischen 18 und 59 Jahren stellen ein gutes Viertel der Bevölkerung dar, aber die Hälfte der symptomatisch Infizierten – also im Verhältnis doppelt so viele. Doppelt-Geimpfte bilden also einen sehr stark überproportionalen Anteil bei den Infizierten. Die Menschen ohne Impfung bilden 18 Prozent der Bevölkerung und sind mit 23 Prozent der symptomatisch Infizierten leicht überproportional vertreten.
Bei der Gruppe der über 60-Jährigen ein ähnliches Bild: Die doppelt geimpften Menschen bilden ein Achtel der Bevölkerung. Diese Gruppe stellt aber – wieder deutlich überproportional – ein Drittel der symptomatisch Infizierten. Die Menschen ohne Impfung in dieser Altersgruppe kommen auf knapp 12 Prozent. Bei den symptomatisch Infizierten sind es knapp 20 Prozent. In beiden Altersgruppen ist der Anteil der geboosterten Menschen bei den symptomatisch Infizierten hingegen deutlich unterproportional.
Geht man also einzig von den Zahlen aus, so ist die Wahrscheinlichkeit, sich symptomatisch mit der Omikron-Variante zu infizieren, bei Menschen mit zweifacher Impfung deutlich höher als bei Menschen, die nicht geimpft wurden.
Falscher Schluss...
Man kann aber selbstverständlich aus diesen Zahlen nicht den Schluss ziehen, dass eine doppelte Impfung die Wahrscheinlichkeit einer symptomatischen Infektion im Vergleich zu einer fehlenden Impfung objektiv erhöht, denn die Lebenswelt der Ungeimpften ist inzwischen derart eingeschränkt, dass in der sozialen Isolation auch zwangsläufig die Kontakte zu Infizierten und damit die Wahrscheinlichkeit einer Infektion deutlich geringer ist. Ein Vergleich beider Gruppen ist also nicht wirklich möglich.
... und ein deutlicher Hinweis
Die Zahlen des RKI geben auf der anderen Seite aber einen recht deutlichen Hinweis, dass die Impfung vor allem ein Selbstschutz ist, insbesondere was die schweren Krankheitsverläufe anbetrifft (denn schwere Krankheitsverläufe sind – im Gegensatz zur Infektion – bei Geimpften deutlich seltener als bei Menschen ohne Impfung).
Die Zahlen geben aber auch einen deutlichen Hinweis, dass man bei der Omikron-Variante nur von einem geringen Fremdschutz sprechen kann – auch wenn berücksichtigt werden muss, dass die Virusausscheidung bei Geimpften, wie es Klaus Stöhr formuliert: "geringer und kürzer als bei Ungeimpften sein dürfte".
Betrachtet man die aktuellen Zahlen aus Großbritannien (Tabelle 13, S. 47), so zeigt sich auch hier deutlich der geringe Fremdschutz der Impfung. Die Zahlen belegen, dass – bis auf die Altersgruppe der unter 18-Jährigen – die Anzahl der Infizierten auf 100.000 Menschen sogar bei den Geboosterten höher ist als bei Ungeimpften.
Schutzdauer
Die Zahlen aus Großbritannien bieten auch einen sehr guten Hinweis über die Dauer des Schutzes gegen eine Infektion und damit auf die Dauer des Fremdschutzes (S. 6). Eine doppelte Dosis von Biontech ergibt bei der Omikron-Variante einen Schutz gegen eine symptomatische Erkrankung nach 10-14 Wochen von etwa 25 Prozent.
Ab der 15. Woche von nur noch unter 20 Prozent. Nach einer Impfauffrischung beläuft sie sich nach 10 Wochen auf etwas über 40 Prozent. Es ist offensichtlich, dass diese Zahlen weit von den ursprünglichen 95 Prozent entfernt sind, die bei den klinischen Studien registriert wurden.
Wie aber sind die Zahlen objektiv zu bewerten? Interessant in diesem Zusammenhang ist, was Christian Drosten im Hinblick auf die Begründung der Reduzierung des Genesenstatus zu sagen hat:
Und da ist es nun mal so, schon nach 90 Tagen nach einer Vorinfektion liegt bei Omikron diese Effektivität der Vorinfektion, also das Pendant einer Vakzine-Effektivität, dann schon nur noch bei 44 Prozent. Und damit würde einfach jeder Impfstoff durch die Zulassung fallen. Punkt. Ganz einfach. Also das reicht einfach nicht und das ist glasklar. Und darum ist es auch glasklar, dass das RKI jetzt für Omikron das Ganze auf 90 Tage verkürzt hat.
Wie die Zahlen aus Großbritannien aber zeigen, liegt der Schutz vor einer Infektion bei einer doppelten Impfung bereits nach 90 Tagen nicht bei 44 Prozent (wie bei den Genesenen), sondern bei 25 Prozent. Beim Booster wird diese Grenze von 40 Prozent nach 10 Wochen erreicht.
Die Frage stellt sich daher im Hinblick auf den Fremdschutz: Inwiefern trifft also auch bei der Impfung Drostens Aussage "Damit würde einfach jeder Impfstoff durch die Zulassung fallen" zu?
Und inwiefern man tatsächlich angesichts dieser aktuellen Zahlen von einem Fremdschutz sprechen kann, wie es Bundeskanzler Scholz mit großer Gewissheit tut, bleibt daher mehr als fraglich.
Insbesondere Selbstschutz
Verschiedene Experten haben auch erklärt, dass man bei der Impfung im Hinblick auf die Omikron-Variante kaum von einem Fremdschutz sprechen kann.
Hendrik Streeck hat dies wiederholt betont. Bei Markus Lanz unterstrich er:
Ein Fehler in meinen Augen in der Kommunikation war von Anfang an zu sagen: Wir haben einen Schutz vor der Infektion. Es ist ein Fremdschutz, wir kriegen eine Herdenimmunität. Das haben wir ja nicht. Die einzelne Person schützt sich selber, macht was zur Gesundheitsvorsorge.
Daher lautet seine Konsequenz: "Wir können die Pandemie nicht wegimpfen." In einer Diskussionsrunde bei Die Welt wurde er noch eindeutiger:
Es ist eben ein reiner Eigenschutz und kein Fremdschutz. Wir erreichen keine Herdenimmunität damit.
Auch Alexander Kekulé betont, dass die Impfung ein guter Selbstschutz, aber kaum ein Fremdschutz ist:
Drei Monate nach dem Piecks könnte die Grundimmunisierung demnach noch zwei und die Auffrischimpfung bestenfalls vier von zehn Infektionen verhindern. Das überzeugende Argument für Impfung und Boosterung ist deshalb nicht der Schutz vor Ansteckung, sondern die Vermeidung schwerer Erkrankungen (Schutzwirkung 55 bzw. 75 Prozent) und Todesfälle (Schutzwirkung über 90 Prozent).
Thomas Voshaar, Chefarzt der Klinik für Lungen- und Bronchialheilkunde im Bethanien-Krankenhaus in Moers gibt zu bedenken:
Wenn wir über die Impfpflicht sprechen, müssen wir über Ziele sprechen. Vor allem müssen wir in dieser Diskussion unterscheiden, ob es uns um den Schutz vor schweren Verläufen und Senkung der Sterblichkeit geht, oder um Übertragbarkeit. Wenn Ersteres im Vordergrund steht, und das sollte es, dann reden wir über die Impfung in typischen vulnerablen Gruppen. (...)
Wenn wir aber bei der Impfung an die sterile Immunität denken, so müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass diese bei Atemwegsviren nur sehr kurz anhält. (...) Eine Impfpflicht ist darum auch kaum rational zu begründen.