Vom Fremdschutz zum Selbstschutz
Seite 2: Worum geht es eigentlich?
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Tatsächlich wird in den aktuellen Diskussionen die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht immer häufiger weniger durch den Fremdschutz, sondern durch den Selbstschutz begründet. Beispiel: Auf eine Frage von Sandra Maischberger, wie man eigentlich angesichts des begrenzten Fremdschutzes eine Impfpflicht begründen wolle, entgegnet Katrin Göring-Eckardt (bei 7 Minuten):
Darum geht es ja nicht bei der Frage Impfpflicht ja oder nein (…) Es geht ja darum, dass die Leute nicht so schwer erkranken, dass die Intensivstationen weiter voll sind.
Auch in einer Reihe von Reden im Bundestag zur Diskussion der allgemeinen Impfpflicht fand die Bedeutung des Fremdschutzes kaum Erwähnung, sondern wiederholt wurde gerade auf die besondere Bedeutung des Selbstschutzes der Impfung verwiesen.
Beispielsweise warnte Gesundheitsminister Karl Lauterbach vor einer Überlastung des Gesundheitssystems:
Die Modelle des Robert-Koch-Instituts zeigen, dass diejenigen, die nicht geimpft sind, von der Omikron-Variante bedroht sind und wir wahrscheinlich mit Belegungen der Intensivstationen mit bis zu 5.000 Menschen rechnen müssen.
Hier sei bemerkt: Das Modell des RKI, auf das sich Lauterbach in seiner Rede bezieht, geht jedoch keineswegs davon aus, dass eine Auslastung von 5.000 Intensivpatienten wahrscheinlich ist. Der Focus berichtet:
Ende Februar, wenn mit dem Maximum an Omikron-Intensivpatienten gerechnet wird, ergeben die Berechnungen im Mittel eine Spitzenlast von 3.100 Intensivpatienten. Aufgrund der Unsicherheit durch bisher unerforschte Eigenschaften der Omikron-Variante und der Impfstoffe, gibt es aber auch ein Szenario, das mit mehr als 6.000 Intensivpatienten rechnet, wenn gleich dieses mit keiner hohen Wahrscheinlichkeit eintreten wird.
An dieser Stelle darf man also erst einmal festhalten: Der Gesundheitsminister hätte betonen sollen, dass er sich hier auf ein drohendes Szenario bezieht, welches das Modell als eher unwahrscheinlich ansieht.
Zum anderen zeigt sich, dass in Deutschland wie in allen Ländern, die derzeit von der Omikron-Variante heimgesucht werden, sich aller Wahrscheinlichkeit nach kein Grund zur Besorgnis über die Situation in den Krankenhäusern in nächster Zeit ergibt. Aktuell gibt auch die Krankenhausgesellschaft Entwarnung, was eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems anbetrifft.
Welche Welt?
Das Argument, eine allgemeine Impfpflicht aus Gründen des Selbstschutzes und dem damit einhergehenden Schutzes des Gesundheitssystems einzuführen, ist auch in den Medien und in der Gesellschaft weit verbreitet.
In der Ad-hoc-Stellungnahme des Deutschen Ethikrates beispielsweise, der eine allgemeine Impfpflicht mehrheitlich unterstützt, wird gleich zehnmal die drohende Überlastung des Gesundheitssystems als Begründung angeführt.
Die Argumentation ist – vorsichtig formuliert – etwas erstaunlich. Als Streeck bei Markus Lanz gefragt wird, ob eine Impfpflicht nicht wünschenswert sei, gibt er zu bedenken (bei 18‘ 30‘‘):
Ich sehe das kritisch, weil wir das auch nicht bei anderen medizinischen Themen machen: Im Rauchen, schlechtes Essverhalten oder Ähnliches. (…) Die Gesundheitsvorsorge wurde in Deutschland immer als etwas sehr Persönliches angesehen und nicht als etwas, was von außen angeordnet wird.
Um es klar zu sagen: Die Impfung als Selbstschutz, um die Wahrscheinlichkeit eines schweren Krankheitsverlaufs zu reduzieren, ist gerade für Menschen, die Risikogruppen angehören richtig und wichtig. Die Impfung aber als Pflicht – basierend auf der Logik des Selbstschutzes – ist ein anderes Thema.
Denn die Logik, die hier hinter der Forderung nach einer allgemeinen Impfplicht steht, die sich hauptsächlich oder einzig auf den Selbstschutz und damit die Erhaltung des Gesundheitssystems beruft (also Verhalten wie eine Ablehnung der Impfung zu verbieten, dass das Risiko einer Krankenhauseinweisung mit sich bringt), ist in hohem Maße kritisch zu sehen.
- Mit derselben Logik müsste man Alkohl verbieten (Alkoholmissbrauch hat zu 292.601 Krankenhauseinweisung im Jahr 2019 geführt).
- Mit derselben Logik müsste man das Rauchen verbieten (im Jahr 2019 landeten rund 458.000 Menschen wegen Nikotin im Krankenhaus)
- Mit derselben Logik müsste man fettreiches Essen verbieten (McDonald, KFC, Burger King und ähnliche Fastfood-Restaurants schliessen)
- Mit derselben Logik müsste man gefährliche Sportarten wie Skifahren und Bergsteigen verbieten.
- Mit derselben Logik müsste man Berufe verbieten, die bekannterweise eine hohe Quote von Herzerkrankungen durch übermäßigen Stress mit sich bringen.
Die Liste der Konsequenzen eines Denkens, das den Selbstschutz zur Pflicht machen möchte, um das Gesundheitssystem zu schützen, ließe sich sehr lange fortsetzen.
Natürlich führen die genannten Gründe für Krankenhausaufenthalte jedes Jahr zu teilweise deutlich mehr Krankenhauseinweisungen als Erkrankungen an Sars-Cov-2. Will man also grundsätzlich das Gesundheitssystem vor allen Patienten schützen, deren Einlieferung bei einer anderen Lebensweise hätte verhindert werden können, stellt sich in der Konsequenz die Frage nach oben genannten Verboten zwangsläufig.
Deshalb: Wollen wir wirklich in einer solchen Welt leben, in der nicht die Frage gestellt wird, wie wir das Gesundheitssystem durch entsprechende Arbeitsbedingungen und Etats schützen können, sondern in dem aus einer möglichen Überlastung eines auf Effizienz getrimmten Gesundheitssystems der Selbstschutz verpflichtend und in alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens hineingetragen wird und zu Verboten auch im privaten Leben führt?
Wollen wir in dieser Welt leben?
Warum nimmt die Politik sich nicht vielmehr mit derselben Verve und Überparteilichkeit wie bei der allgemeinen Impfpflicht der lebenswichtigen Aufgabe an, ein Gesundheitssystem für alle zu erarbeiten? Ein Gesundheitssystem, das nicht nach neoliberalen Dogmen konzipiert ist und bei einem unerwarteten Ereignis in die Knie zu gehen droht?
Das wäre wirkliche Solidarität. Frei nach dem Slogan "Ein stabiles Gesundheitssystem hilft. Auch allen, die du liebst."