Vom Lockdown zum Ausverkauf des Mittelstandes
Das Schüren von Angst und erzwungene Geschäftsschließungen sind ein Segen für Großkonzerne. Ein Gastkommentar
Am 21.12. lautete die Überschrift eines Wirtschaftsartikels: "Insolvenzen: In der Eurozone droht der große Ausverkauf – China wird profitieren". In dem Artikel (mit Zahlschranke) heißt es: "Während China seine Wirtschaft wiederbelebt, droht in der Eurozone eine Insolvenzwelle unbekannten Ausmaßes. China könnte schon bald auf eine 'große Einkaufstour' in der Eurozone gehen (…) Währenddessen wird in Chinas Clubs und Bars ausgelassen gefeiert – ohne Mundschutz und Abstandsregeln."
Nicht alle sind also unglücklich über eine mögliche Insolvenzwelle in Europa, im Gegenteil. Das gilt nicht nur für chinesische Konkurrenten, sondern für alle Konzerne und Fonds, die auf hohen Cash-Beständen sitzen. Und es gibt momentan einige, die über extrem hohe Liquiditätsbestände verfügen. Denn in allen Krisen gilt: Cash is king.
Durch die europäischen und weltweiten Lockdowns schrumpfte die Wirtschaft des Euroraums in den ersten drei Quartalen 2020 um 7,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dabei gilt für die einzelnen Länder: Je strenger die Lockdowns waren, desto schlimmer war der Wirtschaftsabsturz.
Für das vierte Quartal wurden die Prognosen für die Eurozone wegen der zweiten Lockdown-Welle von führenden Wirtschaftsforschungsinstituten vor Kurzem um 4,9 Prozentpunkte nach unten korrigiert. Statt eines Wachstums von 2,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal soll die Euro-Wirtschaft nun um 2,2 Prozent zurückgehen.
Man sieht daran gut die erneut dramatische Auswirkung von Lockdowns auf die Wirtschaftsleben. Für das erste Quartal 2021 wird wegen der Lockdowns jetzt nur noch ein sehr schwaches Wachstum von 0,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal erwartet.1 Daher ist es kein Wunder, dass viele Experten für den Euroraum 2021 mit einer Pleitewelle und Bankproblemen rechnen.
Die deutsche Wirtschaft sackte in den ersten neun Monaten 2020 gegenüber dem Vorjahr um 5,8 Prozent ab.2 Unsere Exporte sanken in den ersten zehn Monaten um über elf Prozent gegenüber dem Vorjahr (Stand 23.12.2020). Sie sollen im Gesamtjahr um 13 Prozent sinken. Der ifo-Index, häufig ein guter Konjunkturindikator, lag im Dezember 2020 mit 92,1 etwa 3,5 Prozent unter dem Vorjahreswert von 95,5 und zeigt damit selbst von dem momentan stark gedrückten Wirtschaftsniveau ausgehend nicht gerade einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung an.3
Durch den zweiten harten Lockdown seit November wird unsere Wirtschaft erneut stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Experten rechnen mit einer Insolvenzwelle, v.a. bei Selbständigen, kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, Marcel Fratzscher, warnte kürzlich vor einem "Pleite-Tsunami" in Deutschland 2021.
Lockdowns und Mittelstand
Kleine und mittelgroße Unternehmen stellen bei uns über 71 Prozent aller Arbeitsplätze. Ende Oktober, vor den jüngsten, staatlich verordneten Einschränkungen, hieß es bereits, die Corona-Lockdowns gefährdeten mehr als eine Million Arbeitsplätze bei mittelständischen Firmen. Vor allem das Gastgewerbe und Freiberufler kämpften ums Überleben.
"Bis zum Jahresende 2020 könnte es zu einem Verlust von etwa 1,1 Millionen Arbeitsplätzen kommen", sagte KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib Ende Oktober, noch vor der zweiten Lockdown-Welle. "Trotz der Erholung im dritten Quartal sind die Geschäftserwartungen für 2020 historisch schlecht."
Für 2020 rechnete laut einer KfW-Umfrage vom September mehr als jedes zweite Unternehmen mit einem Umsatzrückgang. Insgesamt könnten die Erlöse demnach um 545 Milliarden Euro einbrechen. Der Bundesverband der Freien Berufe sah bereits im Oktober viele Freiberufler in einer Notlage: Jeder zweite Freiberufler war demnach stark oder sehr stark von den Folgen der Corona-Lockdowns betroffen. Gerade junge und kleine Unternehmen seien sehr angeschlagen.
Seit der zweiten Lockdownwelle im Spätherbst hat sich die Lage weiter verschlechtert. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer sagte im Dezember für die Arbeitsgemeinschaft Mittelstand, Finanzpolster, die manche Unternehmen in vielen Jahren aufgebaut hätten, seien in kürzester Zeit zusammengeschmolzen. "Für viele Betriebe geht es um die Existenz"
Das Gastgewerbe wurde durch die Lockdowns in die größte Krise der Nachkriegszeit gestürzt. "Verluste und Insolvenzen werden im Januar so reichlich rieseln wie die trockenen Nadeln vom Weihnachtsbaum", hatte kürzlich der Berliner Spitzenkoch Tim Raue gesagt. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) warnte bei Beginn des zweiten Lockdowns, dass "Zehntausenden Unternehmen" ohne umfassende finanzielle Hilfen die Pleite drohe.
"Durch den zweiten Lockdown wird ein Drittel der 245.000 Betriebe den Winter nicht überstehen. Ohne umfassende Entschädigungshilfe droht ihnen die Pleite", warnt Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges. Laut der Wirtschaftsauskunftei Crif Bürgel waren bereits Ende Oktober 14,5 Prozent der untersuchten Restaurants, Gaststätten, Imbisse und Cafés in Deutschland insolvenzgefährdet.
Der Präsident des Handelsverbandes Textil, Steffen Jost meinte kurz vor der zweiten Lockdown-Welle: "Es wird ein Ladensterben in den Hauptlagen geben. Das Gesicht vieler Innenstädte wird sich massiv verändern. Manche wird es nicht mehr geben."
Und der Handelsverband Deutschland fürchtete, ebenfalls bereits vor dem zweiten Lockdown, "am Ende könne die Krise 50.000 mittelständischen (Handels-) Unternehmen die Existenz kosten".
Fehlende Proteste
Angesichts dieser schlimmen Lage und insbesondere der trostlosen Aussichten für Hunderttausende von Selbständigen, kleinen und mittleren Unternehmen stellt sich die Frage: Warum protestieren bislang die Wirtschaftsvertreter so wenig? Warum drängen die Unternehmer nicht einmal auf eine nennenswerte öffentliche Diskussion über die Verhältnismäßigkeit oder Angemessenheit der getroffenen Maßnahmen?
Das liegt zum einen an der ökonomischen Appeasement-Politik, der Beruhigungspolitik, die seit März in historisch nie dagewesenem Ausmaß betrieben wird. Stichworte sind KfW-Kredite, Umsatzentschädigung, Kurzarbeitergeld, Mehrwertsteuersenkung, Aussetzen der Insolvenzpflicht usw..
Die deutsche Regierung gibt 2020 und 2021 zusammen knapp 1.500 Milliarden Euro Beruhigungsgeld aus, das entspricht etwa 30 Prozent vom Bruttosozialprodukt. Das ist historisch einzigartig. Sehr viele Betroffene werden geradezu zugeschüttet mit Geld. So sichert man sich die Zustimmung vieler Betroffener und gleichzeitig auch politische und mediale Befürwortung: Man stopft den Betroffenen den Mund mit Geld.
Eine der ganz seltenen Ausnahmen aus den Reihen der schweigenden Lämmer war Mario Ohoven, seit 1988 Präsident des bedeutsamen Bundesverbandes mittelständischer Wirtschaft (BVMV). Zu Beginn des zweiten Lockdowns, der verharmlosend als "kurzer Lockdown light" eingeführt wurde, äußerte er ungewohnt starke Kritik. Er kündigte am 22.10.2020 rechtliche Schritte gegen den zweiten Lockdown an. Es handele sich um staatlich verordnete Berufsverbote, die "weite Teile der Wirtschaft und viele Unternehmen nicht überleben würden".
In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt sagte er am 29.10.2020, 80 Prozent der Wirtschaft seien Psychologie. Die Politik schüre Angst. Zig Prozent des Mittelstandes würden den zweiten Lockdown nicht überstehen, das sei wie ein zweiter Herzinfarkt, den man ebenfalls häufig nicht überlebt. Durch Verschieben der Insolvenzen würden Zombies finanziert.
Bei Verkündigung der zweiten Lockdown-Welle am 29.10. stellte Ohoven die Verhältnismäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen in Frage und kündigte an, im Interesse des Mittelstandes gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht anzurufen.
Wer profitiert vom Ausverkauf?
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum so wenig Proteste aus Wirtschaftskreisen kommen. Denn es gibt große Profiteure von einem Unternehmen-Massensterben. Nicht alle sind über Massenpleiten von Selbständigen, kleinen und mittleren Unternehmen unglücklich, beispielsweise die eingangs genannten chinesischen Einkäufer, die solide Mittelständler in Krisenzeiten sehr preiswert erwerben können
Jetzt kostet es ein paar Millionen, vielleicht auch ein paar Milliarden Umsatz, aber danach steht man viel stärker da als zuvor. Die Lockdowns arbeiten den Großunternehmen – Stichwort Amazon –, den Milliardären, den großen Kapitalien, Hedge-Fonds und denjenigen, die jetzt auf viel Liquidität sitzen, in die Hände. Dazu kommt: Die Großunternehmen wissen ganz genau, dass sie im Zweifelsfall von der Regierung gerettet werden, nach dem Motto „Too big to fail“ – zu groß, um pleitezugehen. Beispiel Lufthansa.
Die Fluggesellschaft wurde mit etwa zehn Milliarden Euro Staatsgeldern gerettet. Allein im dritten Quartal 2020 verbrannte sie davon zwei Milliarden Euro. Man kann davon ausgehen, dass Lufthansa, auch nachdem sie ihre Finanzreserven verbrannt hat, nicht pleitegehen wird. Für Großkonzerne gibt also kaum Grund, gegen Lockdowns zu protestieren.
Cash is king. Je schlimmer der Absturz, desto wichtiger ist Cash, Liquidität, um bei sinkenden Umsätzen zu überleben. Das wissen die wichtigen und großen Player. Ein paar Zahlen: Die 3.000 größten börsennotierten Nicht-Finanz-Unternehmen der Welt sitzen momentan auf 7.600 Milliarden US-Dollar Liquidität. Das ist ungefähr ein Drittel mehr als 2019 und entspricht in etwa dem doppelten deutschen Sozialprodukt.
Die US-Bank JP Morgan Chase sowie Private Equity Fonds verfügten im Frühjahr 2020 laut Wall Street Journal über jeweils etwa 2.000 Milliarden US-Dollar Cash. Dann gibt es noch Großinvestoren wie Blackrock, Vanguard und viele andere, sowie Hedge-Fonds, die ebenfalls auf sehr hohen Liquiditätsbeständen sitzen. Dazu kommen die bekannten Multimilliardäre wie Jeff Bezos, Bill Gates, Warren Buffet, Marc Zuckerberg usw., deren Vermögen in den letzten Monaten nicht etwa trotz, sondern gerade wegen der Lockdowns dramatisch gestiegen sind.
Für fast alle Großunternehmen und Großinvestoren, die jetzt auf hohen Liquiditätsbeständen sitzen, sind Lockdowns ein Segen, die einmalige Chance, Konkurrenten billig aus dem Weg zu räumen.
Der deutsche Mittelstand ist das "Bauernopfer", das von unseren Politikern offenbar gerne und willig für die Großkonzerne, genauer: für deren Eigentümer, gebracht wird. Ändert sich das nicht, wird es den Mittelstand in seiner bisherigen Form nicht mehr lange geben.
Zum Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage: www.menschengerechtewirtschaft.de
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