Vom Mahnruf zum Marketingtool: Die Verwässerung des "Nie wieder"
Inschrift "Nie wieder" (in den Sprachen Yiddish, Französisch, Englisch, Deutsch und Russisch) als Teil des Internationalen Mahnmals. Bild: Tafkas,
Schwur der KZ-Überlebenden hat Deutschland lange geprägt. Heute nutzen ihn Politiker nach Gutdünken. Wie ein Mahnruf zur Floskel wird. Ein Gastbeitrag. (Teil 1)
Wann immer es heute um die deutsche Vergangenheit und die Gräuel der NS-Diktatur sowie des Zweiten Weltkrieges geht, ist insbesondere in Verbindung mit heutigen politischen Ereignissen meist der moralische Imperativ des "Nie wieder" nicht weit.
Längst gehört der Ausdruck in Deutschland zum festen Bestandteil des politischen Vokabulars und erfreut sich sowohl unter Politikerinnen und Politikern, Journalistinnen und Journalisten als auch anderen Akteuren des öffentlichen politischen Diskurses konstanter Popularität.
Gerade in den vergangenen Jahren wurden jedoch aus verschiedenen Seiten des politischen Spektrums immer wieder auch Kritik und Zweifel gegenüber der politischen Verwendung des Begriffs laut.
Kritik und Zweifel
Und in der Tat gibt es einige Argumente dafür, den Begriff als mittlerweile übernutzte und instrumentalisierte Phrase anzusehen.
Sogar die Frage ist berechtigt, ob der Begriff nicht bereits von der Realität überholt ist und in Wahrheit nur mehr als Mantra zur Selbstvergewisserung dient.
Es stellt sich die Frage, ob man sich heute lediglich moralisch auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen möchte. Wie soll es damit also weitergehen?
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die Kontroversen über diesen Begriff beginnen bereits damit, dass bis heute nicht zweifelsfrei klar ist, wofür "Nie wieder" an sich genau steht: Nie wieder Holocaust? Nie wieder Völkermord in Europa? Nie wieder Genozid in der Welt zulassen? Nie wieder Faschismus? Nie wieder Diktatur? Nie wieder Krieg?
Abhängig davon, wer dieses Schlagwort heute verwendet, kommt dem Begriff eine andere Bedeutung und Interpretation zu.
Bedeutung und Interpretation
Manche sehen darin eine ausdrückliche Warnung und Aufforderung an Politik und Gesellschaft, einen zweiten Holocaust an Juden zu verhindern.
Andere sehen ihn eher als einen universalistischen Ausdruck, der dazu aufruft, alles Menschenmögliche zu tun, um jede Form von Völkermord und andere Arten von Massenverbrechen zu verhindern.
Es ist historisch gesichert, dass diese Parole von befreiten Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald verwendet wurde, um den Faschismus zu verurteilen.
Später wurde der Ausdruck auch für andere Zwecke übernommen und weiter popularisiert, vom Gedenken an den argentinischen Staatsstreich von 1976 über die Förderung von Waffenkontrolle oder Abtreibungsrechten.
Dies reicht bis hin zur Aufforderung zum "Krieg gegen den Terror" nach den Anschlägen vom 11. September.
Nimmt man "Nie wieder" jedoch wörtlich als Teil der Verpflichtung zum Schutz der universell gültigen Menschenrechte, müsste man tatsächlich überall auf der Welt präventiv eingreifen, wenn man glaubt, dass ein Völkermord geplant ist.
Die Realität der internationalen Politik
Dass das schon alleine aus praktischen Gründen nicht funktionieren kann, dürfte vermutlich klar sein.
Und gerade in unserer Gegenwart geschieht dies aus mehreren Gründen nicht (mehr):
Die sogenannte "westliche Staatengemeinschaft", die immer noch den Anspruch hat, die Einhaltung der Menschenrechte zu schützen, hat in der Vergangenheit bekanntlich schlechte Erfahrungen mit "humanitären" oder militärischen Interventionen gemacht und oft selbst noch mehr Schaden angerichtet.
Außerdem hat sie derzeit nicht (mehr) die moralische oder rechtliche Autorität oder den politischen Willen, solche Aktionen durchzuführen.
Auch die Vereinten Nationen sind nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen, da die politischen Ideologien und Weltanschauungen der "Ständigen Fünf (P5)" des UN-Sicherheitsrats in diesen Fragen schlicht zu unterschiedlich sind.
Globale Herausforderungen
Hinzu kommt, dass es dem Sicherheitsrat selbst inzwischen an weithin anerkannter Autorität mangelt, da seine Zusammensetzung auf überholten Machtkonstellationen aus dem Zweiten Weltkrieg beruht.
Das bedeutet, dass Länder wie Indien, Brasilien und Indonesien nach wie vor keinen dauerhaften Platz in ihm haben.
Das Ergebnis ist ein Gremium, das sich ständig selbst blockiert und den Eindruck erweckt, dass es nicht in der Lage ist, den Frieden in der Welt zu sichern.
Wie einst der Völkerbund droht nun auch die UNO an ihren unerfüllbaren Selbstansprüchen zu scheitern und läßt gar Zweifel an ihrer Existenzberechtigung aufkommen.
Gleichzeitig ist aber auch keine andere "bessere" Organisation oder ein "besseres" Gremium mit größerer Anerkennung, höherer moralischer und rechtlicher Autorität und besserer Handlungsfähigkeit in Sicht.
Der scheinbar ewige Widerspruch zwischen dem Schutz der universellen Menschenrechte und der staatlichen Souveränität, den man noch in den 2000er-Jahren für nicht mehr absolut gegensätzlich hielt, ist bis heute (immer noch) nicht zufriedenstellend gelöst worden und erscheint im Gegenteil unvereinbarer denn je.
Souveränität vs. Menschenrechte
Derzeit dominiert wieder die Vorstellung von absoluter staatlicher Souveränität, und dass eine externe Intervention aus humanitären Gründen niemals legitim sein könne.
Auch Länder wie Russland und China betonen dies immer wieder und kritisieren die westlichen Länder für ihr Vorgehen beispielsweise in Libyen 2011.
Doch ironischerweise benutzte Russland später fast die gleichen Argumente, um seinen Einmarsch in die Ukraine 2014 und 2022 zu rechtfertigen.
Damit zusammen hängt das allgemeine Problem des "Präventionsparadoxons", welches besagt, dass etwa ein Land, das in einem anderen Land interveniert, um einen Völkermord zu verhindern, am Ende selbst für seine Intervention an den Pranger gestellt werden kann.
Da stellt sich natürlich die Frage, warum und ob die Intervention überhaupt notwendig war, auch wenn sie womöglich Schlimmeres verhindern konnte.
Hinzu kommt eine handfeste "Demokratiekrise", welche sich darin manifestiert, dass die Zahl (liberaler) Demokratien weltweit in den vergangenen Jahren immer mehr abgenommen hat.
Zurück in die Zukunft
Während in vielen Ländern rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien erstarken, schien spätestens in den 1990er-Jahren klar, dass das "Ende der Geschichte" erreicht sei.
Demokratie und Marktwirtschaft schienen endgültig über den Faschismus und Kommunismus triumphiert zu haben.
Doch lässt sich seit einiger Zeit beobachten, dass das Pendel seit nunmehr etwa 15 bis 20 Jahren wieder deutlich in die andere Richtung schwingt.
Zum einen liegt dies an der globalen Machtverschiebung insbesondere in Richtung China und Russland sowie, in geringerem Maße, anderen autokratischen Staaten wie dem Iran, Saudi-Arabien, Nordkorea, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten begründet.
Zum anderen liegt der Grund dafür eben – wie bereits erwähnt – im weltweiten "Rückfall" der Demokratien in autoritärere Regierungsformen.
Und dies geschieht nicht nur in Regionen, in denen "Westler" dies als "erwartbar" oder "normal" empfinden könnten, wie in Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, sondern auch in "westlichen" Ländern selbst.
Demokratie auf dem Prüfstand
Man kann derzeit in den USA deutlich in Echtzeit beobachten, wie ein demokratisches (wenngleich auch bereits zuvor defizitäres) System selbst in Ländern, die eigentlich eine lange demokratische Tradition haben, schnell abgebaut werden kann.
Natürlich geht Autoritarismus alleine noch nicht mit Völkermord und anderen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und Massenverbrechen einher.
Langfristig und unter bestimmten Umständen und Bedingungen ist es jedoch wahrscheinlicher, dass es so weit kommen kann.
Lesen Sie in Teil 2, wie die aktuelle politische Situation in Deutschland, in der eine rechtsextreme Partei zweitstärkste Kraft geworden ist, die Frage aufwirft, wie das "Nie wieder" interpretiert und umgesetzt werden soll. Der Autor plädiert für einen globalen Perspektivwechsel, um das "Nie wieder" mit Substanz zu füllen und auf internationaler Ebene zu einem Konsens zu gelangen. Er fordert, das Leiden anderer stärker anzuerkennen und über die klassische Erinnerungskultur hinauszudenken, um das friedliche Zusammenleben der Völker zu fördern.