Vom Tanzkurs zur Gewaltorgie: Faschisten nutzen Mord für ihre Agenda
Nach Mord an Kindern eskaliert die Situation in Großbritannien. Extremisten nutzen die Tat für Hetze. Was bedeutet das für die Zukunft?
Eines der wesentlichen Merkmale einer guten Gesellschaft sollte sein, Randexistenzen zu tolerieren.
Susan Sontag
Großbritannien wird seit einer Woche von einer Welle faschistischer Gewalt heimgesucht. Auslöser für die schwere Krawalle war die Messerattacke eines 17-Jährigen auf Kinder, die an einem Tanzkurs in Southport teilnehmen. Er tötete bei seinem Angriff drei Mädchen, die sechs, sieben und neun Jahre alt waren. Weitere Menschen wurden zum Teil erheblich verletzt.
Sie sollen zur Musik von Taylor Swift getanzt haben. Was der Auslöser für den Raptus des Täters war, wissen wir nicht. Er sitzt in Untersuchungshaft und kann sich zu seinen Motiven, wenn er will und kann, in der Gerichtsverhandlung selbst äußern. Der Umstand, dass die Eltern des Täters, der in Großbritannien geboren wurde, aus Ruanda stammen, nutzen die Rechtsradikalen, um generell Stimmung gegen Muslime und Zuwanderer zu machen.
Entgegen den in den sozialen Medien in Umlauf gesetzten Gerüchten weist der Täter keinen muslimischen religiösen Hintergrund auf. Die Familie soll christlich geprägt sein. Aber für solche Feinheiten und Differenzierungen lassen sich diejenigen, die nun seit einer Woche Städte mit ihrer Gewalt überziehen, keine Zeit. Sie biegen sich die Wirklichkeit nach ihrem Weltbild zurecht, was da nicht hineinpasst, wird weggelassen.
Seit Beginn der Krawalle am vergangenen Dienstag hat die Polizei weit über 100 Menschen festgenommen. Allein am Freitag gab es zehn Festnahmen in der englischen Stadt Sunderland.
Die Bürgermeisterin der Region sagte, die Beamten in Sunderland seien schwerer, andauernder Gewalt ausgesetzt gewesen. Es ist, als hätte die grausame Tötung der Kinder etwas zur Explosion gebracht, was sich lange angesammelt hatte. Ein Korken ist aus der Flasche gesprungen und hat ein explosives, giftiges Gemisch freigesetzt.
Das Differenzierungsvermögen bildet sich im Sog der Ereignisse dramatisch zurück, es zählen nur noch übersichtliche Freund-Feind-Verhältnisse und stromlinienförmige Vereinfachungen: Wir weißen Briten gegen die dunkelhäutigen muslimischen Zuwanderer, die in ihren Booten auf England zusteuern, um dort an Land zu gehen und das Land zu überfluten.
Es sind stets dieselben Metaphern, die die Erzählungen der Faschisten bebildern sollen: Ströme von Asylsuchenden branden an den Grenzen des Landes an und drohen es zu überfluten. Dagegen müssen Dämme errichtet werden, um das Eigene vor dem Fremden zu schützen und die eigene "Rasse" reinzuhalten.
Es ist abermals an der Zeit, euch die Lektüre von Klaus Theweleits zweibändigem Werk "Männerfantasien" ans Herz und den Verstand zu legen. Obwohl bereits vor vierzig Jahren geschrieben und erschienen, liefert Theweleits Buch immer noch den Schlüssel zum Verständnis auch aktueller faschistischer Tendenzen und Bewegungen. Es handelt sich wahrlich um ein Jahrhundertbuch.
Gewaltexzesse, wie sie gerade in England zu beobachten sind, wären auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern jederzeit möglich. Erinnern wir uns: Vor sechs Jahren rotteten sich zum Beispiel in Chemnitz tagelang Rechtsextreme zusammen und es kam zu massiver Gewaltanwendung und Hetzjagden auf Menschen, die ausländisch aussahen und fremd anmuteten.
Der damalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen konnte am Verhalten der Rechtsradikalen nicht Problematisches finden. Wie auch, wo er doch selbst einer war und ist.
Solche Unruhen und Krawalle sind in England nichts Neues. Schon 2011 habe ich mich einmal ausführlich mit einem Phänomen beschäftigt, das ich damals "Konsumkrawalle" nannte, später mit dem Begriff "Riots" belegte.
Der amerikanische Soziologe Joshua Clover hat den Begriff "Riots" ins Spiel gebracht, um die Protestformen zu beschreiben, die nach dem Ende der fordistischen Produktionsweise an die Stelle der Streiks getreten sind. Sie bildeten sich in den Ghettorevolten in den USA seit den 1960er-Jahren aus.
Ich stieß auf diesen Begriff zum ersten Mal im Kontext der Unruhen von Los Angeles im Jahr 1992. Nachdem vier weiße Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King wegen einer Geschwindigkeitsübertretung brutal zusammengeschlagen hatten, von einem Gericht freigesprochen worden waren, entlud sich die gestaute Wut der überwiegend schwarzen Unterschichten.
Fünf Tage lang wurden Brände gelegt, Geschäfte geplündert – und Menschen getötet, vor allem von Seiten der Staatsmacht, die mit großer Härte gegen die Aufständischen vorging. Am Ende wurden fast 60 Tote und über 2.000 Verletzte gemeldet.
Artikel zum Thema von Götz Eisenberg:
Getötetes Mädchen in Freudenberg: Gewalt, die aus der Kälte kommt
Racheakt oder Amok?
Hier bildete sich ein Muster für den Ausbruch von "Riots" aus: Auslöser – nicht Ursache – ist meist die Wahrnehmung von Polizeibrutalität. Polizisten misshandeln oder töten Menschen aus sozial benachteiligten Schichten oder Angehörige von Minderheiten. So war es in Los Angeles, so war es 2005 in Paris, und so war es 2011 vor den Riots in englischen Großstädten wie Birmingham, Liverpool und Manchester.
Die Aufstände sind Ausdruck einer explodierenden Wut. Die Kämpfe haben mitunter etwas "Vandalisches". Oskar Negt und Alexander Kluge haben in "Geschichte und Eigensinn" geschrieben:
Vandalische Kämpfe und Klassenkämpfe sind grundlegend verschieden. Da Kriege zwischen Arbeitsvermögen, die miteinander nichts Gemeinsames produzieren, am Produktionsinteresse keine Grenze finden, sind sie in der Anwendung des Vernichtungsprinzips totalitär. Klassenkämpfe dagegen zwischen ökonomischen Klassen sind insofern immer relative Kämpfe, als das spezifische Klasseninteresse nicht darin bestehen kann, die Arbeitsvermögen des Klassengegners vollständig zu vernichten.
Vandalischen Kämpfen wohnt also eine wertabstrakte Militanz und etwas blind Gewalttätiges inne, weil den an ihnen Beteiligten der Weg zur Produktion versperrt ist und sie sich ein anderes Terrain der Auseinandersetzung suchen müssen.
Wege zur Wiederaneignung der Bedingungen des eigenen Lebens müssen erst gefunden werden. Ansätze dazu schienen sich in verschiedenen Ländern zu entwickeln. Soziale Bewegungen sind immer auch Lernprozesse und kennen Um- und Abwege.
Der Unterschied zwischen diesen "Riots" und den heutigen Ereignissen scheint darin zu bestehen, dass sich die Wut der Leute inzwischen stabil "verbräunt" hat, das heißt von Rechtsradikalen angeeignet und kodiert wurde. Dafür war sie wohl immer schon zugänglich, aber zeitweise schien alles noch in der Schwebe, und es wären auch andere Aneignungsformen dieses emotionalen und energetischen Rohstoffs denkbar und möglich gewesen.