Von Armut bedrohte Mieter: Ein trauriger Europarekord

Besetztes Haus. Symbolbild: Pixabay

Marktpreise, Sozialwohnungen, bezahlbare Mieten? In Deutschland ist jeder Fünfte armutsgefährdet. In zwei südeuropäischen Ländern zeigen sich dramatische Entwicklungen.

In Deutschland waren im vergangenen Jahr "gut 17,3 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht", hat das Statistische Bundesamt (Destatis) in Wiesbaden anhand von Erstergebnissen am Dienstag mitgeteilt.

Das sind 20,9 Prozent der Bevölkerung. Im Vorjahr waren es 21 Prozent. Somit blieben die Werte nahezu unverändert gegenüber 2021. Als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt.

Die Stagnation ist angesichts der starken Kaufkraftverluste erstaunlich. Die Kaufkraft sinkt mit der hohen Inflation, das musste auch Destatis schon mehrfach einräumen, wobei das Bundesamt mit besonders aufgehübschten Inflationswerten rechnet.

In Wiesbaden wird mit dem Verbraucherpreisindex (VPI) gerechnet, der stets deutlich niedriger als der international vergleichbarere harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) ist. Tatsächlich müssen Verbraucher auch in Deutschland Reallohnverluste "wie nie zuvor" hinnehmen.

Finnland: Kleinster Anteil der von Armut Bedrohten

Ein kompletter Vergleich über die Armutsentwicklung innerhalb der EU ist aufgrund der Datenlage derzeit nicht möglich. Etliche Länder haben noch keine Ergebnisse veröffentlicht. Angesichts vorliegender Daten sind in Finnland mit 16,3 Prozent am wenigsten Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, während Bulgarien mit 32,2 Prozent an der Spitze liegt.

Im Vorjahr lag Rumänien mit 34,4 Prozent an der Spitze, gefolgt von Bulgarien, Griechenland (28,3 Prozent) und Spanien (27,8 Prozent).

Auch wenn die spanischen Statistiker (INE) noch keine Daten veröffentlicht haben, zeichnet sich im viertgrößten Euroland eine weitere Verschlechterung ab. Darauf weist eine Studie der spanischen Zentralbank hin. Die Banco de España (BdE) hat aufgezeigt, dass Mieten in Spanien dramatisch zur Armutsfalle werden.

Spanien: Höchster Wert in der EU

Praktisch die Hälfte aller Menschen, die in Mietwohnungen nach Marktpreisen leben, sind schon von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht oder leben schon in Armut. Dabei hält Spanien nach Angaben der BdE den traurigen Europarekord, denn das ist "der höchste Wert in der EU", schreibt die Zentralbank.

Die vergleicht auch mit Ländern wie Deutschland oder Frankreich, wo die Lage wahrlich auch nicht gut aussieht. Beide Länder lägen demnach zwar unter dem Durchschnitt von knapp 33 Prozent, aber auch in diesen beiden Ländern sind 29 Prozent der Haushalte von Armut bedroht, wenn sie Marktpreise bei Mieten bezahlen müssen.

Sozialwohnungen im Vergleich

Die Einschränkung in Bezug auf "Marktpreise" hätte sich die Banco de España für Spanien eigentlich sparen können. Denn mit etwa zwei Prozent sind nur verschwindend wenige Wohnungen im Land Sozialwohnungen, die eben nicht zu Marktpreisen gehandelt werden. Auch da ist Spanien Europameister und liegt weit abgeschlagen hinter Ländern wie die Niederlande (30 Prozent), Österreich (24 Prozent) oder Dänemark (21 Prozent).

Deutschland liegt mit nur neun Prozent Sozialwohnungen auch weit unter dem Durchschnitt. Und auch hier gibt es schon Berichte wie im Stern darüber, "wie die Inflation Mieterinnen und Mieter in die Armut treibt.

Spanien steht auch weit oben auf der Rangliste der Euroländer, in denen die Haushalte schon mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für die Miete aufwenden müssen. Mit 41 Prozent sei die Zahl "fast doppelt so hoch" wie im Durchschnitt, schreibt die Zentralbank "fast doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt (21,2 Prozent), "wobei Haushalte mit niedrigem Einkommen besonders häufig betroffen sind".

In dieser Kategorie wird Spanien im Euroraum allerdings von Griechenland und von den Niederlanden übertroffen. In Griechenland sind es nach der schweren Krise ab 2008 nun sogar schon fast 75 Prozent, in den Niederlanden dagegen 48 Prozent.

Die Lage entwickelt sich in Spanien aber dramatisch und ist nur mit Griechenland vergleichbar, insgesamt nicht mit den Niederlanden. Denn beim deutschen Nachbarn müssen fast ein Drittel der Mieter keine Marktpreise zahlen.

Ohne die Finanzkrise zu nennen, weist die BdE auf massive Veränderungen hin, die sich seither zeigen. So verweist Ángel Gavilán auf den "starken Rückgang des Anteils der Haushalte mit Wohneigentum, der in Spanien seit 2014 zu beobachten ist".

Das habe in den letzten Jahren zu einer "Zunahme der Vermögensungleichheit" beigetragen, erklärt der Generaldirektor für Wirtschaft und Statistik der Zentralbank. Real hat der Trend aber schon früher begonnen.

Dahinter steht die enorme Zwangsräumungswelle im Rahmen der Finanzkrise, als hunderttausende Familien die Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlen konnten.

Arbeitslosigkeit spielte dabei eine Rolle, aber allen voran eine spanische "Perversität".

Zinsbindung, Bankenrettung und Wohnungsmarkt

Die Zinsen sind oft kurzfristig an den Euribor gebunden und werden halbjährlich oder jährlich angepasst. Der Euribor ist der Zinssatz für Interbankengeschäfte.

Als der in der Finanzkrise explodierte, wurden Zinsen für viele schnell unbezahlbar, obwohl die Europäische Zentralbank die Leitzinsen damals senkte. Der Interbankensatz war ab 2015 sogar negativ, steigt seit einem Jahr steil an und ist nun auf über drei Prozent gestiegen. Das hat fatale Folgen für viele Hypothekenkredite.

Wurden Banken mit Steuermilliarden gerettet, flogen einst zahllose gebeutelte Familien aus ihren Wohnungen. Auf das knappe Angebot auf dem Mietmarkt traf so plötzlich zudem eine große Nachfrage und trieb die Preise zusätzlich an.

Über die Finanzkrise wurde der Wohnungsmarkt in Spanien komplett umgekrempelt. Seit 2011 geht die Zahl derer stark zurück, die in eigenen Wohnungen leben. Damals waren es fast 83 Prozent, 2020 nur noch knapp 74 Prozent. Bei jungen Menschen unter 35 Jahren hat sich die Zahl von einst 69 Prozent sogar fast halbiert.

Besonders junge Menschen wurden seither in die Mietfalle gedrückt, die zudem unter besonders prekären Arbeitsbedingungen leiden. Explodierende Mieten und Kaufkraftverluste über die hohe Inflation haben Mieten für viele längst unbezahlbar gemacht.

Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) haben Beschäftigte hier allein 2022 im Durchschnitt 5,5 Prozent Kaufkraft verloren. Dabei sind zum Beispiel in der katalanischen Metropole Barcelona, wo schon in der 40 Prozent zur Miete wohnen, die Mieten zwischen 2010 und 2020 um gut 136 Prozent angestiegen.

Die Löhne dagegen nur um 43,5 Prozent, also nicht einmal ein Drittel davon. Die Durchschnittsmiete stieg 2022 auf 1.077 Euro und frisst damit praktisch den Mindestlohn auf, von dem viele Menschen leben müssen.

Die sozialdemokratische Regierung hat vier Jahre fast ungenutzt verstreichen lassen. Sie hat nicht einmal verhindert, dass viele Hypotheken weiter an den Euribor gebunden sind. Das wird wegen der steigenden Leitzinsen zu einer neuen Enteignungswelle und zu noch stärkerem Druck auf dem Mietmarkt führen, da Zinsen erneut für viele unbezahlbar werden.

Das neue Wohnungsgesetz, kurz vor anstehenden Kommunal- und Regionalwahlen am 28. Mai gerade beschlossen, bringt allerdings auch keine Mietsenkungen, deckelt sie nicht einmal, wie an dieser Stelle schon herausgestellt wurde.

Sie dürfen sogar weiter steigen, 2024 um drei Prozent, danach soll die Steigerung auf die Inflationsrate begrenzt werden. Da die Löhne damit aber nicht mithalten, geht die Schere weiter auf. Auch die Zahl der Miet-Zwangsräumungen wird deshalb steigen. Positiv erklärt die BdE zum neuen Gesetz, dass ein "größer Schwerpunkt auf die notwendige Erhöhung des Mietangebots" gelegt werde.

Es werden aber sicher viele Jahre vergehen, bis sich das spürbar verändern kann. Bisher hatten sich die Sozialdemokraten sogar den Forderungen des Juniorpartners Podemos wiedersetzt, Wohnungen endlich auf den Markt zu bringen, die die staatliche Bad Bank von Banken übernommen hat.

Auch das soll nun vor den Wahlen doch geschehen. Aber das sind bestenfalls 50.000, von denen viele erst fertiggestellt und 15.000 sogar erst gebaut werden müssen, gibt die Regierung zu.