Von Brecht zu Biller: Wie das laute Denken aus der Linken verbannt wurde

Bis heute ungecancelt: Bertolt Brecht. Bild: Paulahjals, CC BY-SA 4.0

Warum lautes Denken Luxus ist. Weshalb öffentlicher Diskurs mehr als Gejammer sein sollte. Und wie Rechte zurückcanceln. Ein Appell in vier Teilen. (Teil 4 und Schluss)

Im dritten Teil dieser Serie hat Telepolis-Autor Marlon Grohn die mangelnde Reflexion über die Verbots- und Verfolgungstradition innerhalb des Liberalismus kritisiert. Er stellt fest, dass viele, die Meinungsfreiheit in einer Demokratie betonen, die bestehende Einschränkung von Meinungen ignorieren.

Unser Autor vergleicht dies mit dem Mittelalter, betont die Behinderung wirklich fortschrittlicher Ideen durch die Cancel Culture und argumentiert, dass sozialer Druck unabhängiges Denken behindert. Er weist darauf hin, dass öffentliches Sprechen mit sozialen Konsequenzen verbunden ist, die von der nicht besitzenden Klasse schwerer getragen werden. Grohn plädiert für eine kritische Betrachtung von Meinungsfreiheit und Cancel Culture als Symptome von Klassenherrschaft.


Es geht nicht darum, wieder in Idealismus zu verfallen und zu glauben, dass laut geäußerte Gedanken die Welt verändern. Aber selbst, wenn sie es, wie so oft, nicht tun, – und gerade dann – sollte es nicht nur erlaubt, sondern erwünscht sein, sie zu äußern – frei, d. h. ohne Druck, ohne wie auch immer geartete "strukturelle" Drohungen.

Denn bei dem Bedürfnis nach lauter Reflexion geht es nicht in erster Linie darum, andere für die eigenen Ansichten zu gewinnen, sie aufzuklären oder gar Propaganda für gesellschaftliche Veränderungen zu betreiben. Diese Sichtweise ist selbst ein Element jener identitären Label-Ideologie, die in jedem Wort, wo auch immer, nur den Fingerzeig auf ein politisches Programm sehen will.

Es geht beim lauten Nachdenken keineswegs um das, was die entsprechende Ideologie "geistige Brandstiftung" nennt und was heute mit der Behauptung ach so gefährlicher Internet-Kommentare ("Hass im Netz") wieder auflebt, wegen derer man die Bürger an mehr direkte Zensur von oben gewöhnen will.

Sondern es geht, ganz einfach, zunächst einmal darum, dem eigenen Bedürfnis nach Denken – das nur als lautes Denken ein wirkliches Denken ist – nachzukommen, das niemandem schadet.

Genau darin aber, in der Ranküne gegen das ungehinderte Ausleben der Bedürfnisse anderer, besteht heute eine bestimmende Tendenz des Zeitgeistes in der Konkurrenzgesellschaft, die auch eine der Bedürfniskonkurrenz ist: Niemand gönnt dem anderen noch die Erfüllung der elementarsten Bedürfnisse in einer Gesellschaft, die doch täglich neue Bedürfnisse produziert. Und eben – zum Beispiel mit den sozialen Medien – die Bedürfnisse, seine Meinung zu äußern. Damit aber auch Bedürfnisse nach Reflexion.

Wer bestimmte Ansichten äußert, und das ist wohl das falsche Argument, der sei nur "spalterisch" tätig, heißt es – als ob diese Gesellschaft nicht längst, und zwar grundlegend und antagonistisch gespalten wäre, als ob sie nicht als Klassengesellschaft auf dieser Spaltung aufbaute und in ihr ganzes Wesen hätte.

Mit solchen Äußerungen aber stellen sich die Verbotsbefürworter in die reaktionäre Tradition derer, denen die bourgeoise Moral, das reibungslose Funktionieren des Systems von arm machender Arbeit und noch reicher machendem Privateigentum wichtiger ist als Ansichten und Gedanken, die es gefährden, aber auch überwinden könnten.

Für die Schweigenden und Nichtdenkenden ist das kein Problem. Warum auch, ihnen fehlt nichts. Sie sorgen sich lieber noch einmal um all das, was ohnehin alle umtreibt (Klima, Corona, Hass, Internet, Russland).

Aber Denken durch Sorgen zu ersetzen, ist gängige Praxis der Gegenaufklärung – sie wird nicht besser, nur weil sie von Linken oder Wissenschaftsfreunden betrieben wird.

Aktivismus verdrängt politisches Denken und Praxis

Die Sorge als Politik ist dann der "Aktivismus", der heute die Sphäre der Vermittlung des politischen Denkens und der entsprechenden Praxis ist, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass unter dem Berg des Aktivismus das politische Denken und die Praxis selbst fast verschwunden sind.

Der eingangs zitierte französische Philosoph und Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty war 1947 noch in der Lage, die Kategorie des lauten Nachdenkens als eine zu nennen, die zumindest eine Option linker oder aufklärerischer Praxis, zumindest eine Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis sein könnte.

Im Zuge einer mehr oder weniger unbewussten linken Selbstsabotage wurde diese Kategorie allmählich den Liberalen und Rechten zugeschoben, so als müsse lautes Nachdenken zwangsläufig immer ein Nachdenken sein, von dem die Reaktionäre profitieren.

Aufklärung zur Veränderung der Welt

Dabei zeigt die Geschichte deutlich, dass die Aufklärung, wie das laute Nachdenken einst bezeichnet wurde, immer eine linke Veranstaltung war.

Bertolt Brecht, der davon überzeugt war, dass die Aufklärung vielleicht doch einmal – wie auch immer – zur Veränderung der Welt beitragen könnte, praktizierte das laute Denken auf der Theaterbühne – er nannte es "Denken in den Köpfen anderer" oder auch "eingreifendes Denken".

Es war ein Denken, das nicht nur alte Phrasen wiederholte, sondern auf neue gesellschaftliche Realitäten mit neuen Gedanken, auf notwendige neue Praxis mit neuer Theorie, auf gesellschaftliche Probleme mit der Problematisierung von Gesellschaft antwortete.

Kultur als Safe Space für Kritiker

So können wir heute die interessanten Anfänge einer Epoche erleben, in der auch kulturelle Institutionen wie das Theater, einst Orte der öffentlichen Reflexion, zu einer Art Safe Space werden, also zu einem Raum, der vor den Zumutungen der Welt schützt, statt sie künstlerisch zu offenbaren.

Ein solcher Wahnsinn kann nicht nur, aber auch deshalb als aufklärerisch und links durchgehen, weil er neben den Vernünftigen und Aufgeklärten auch die Rechten und Antiaufklärer auf den Plan ruft. Und er hat immerhin den Nebeneffekt historischer Ironie, dass liberale Bourgeois heute für die ungehinderte Aufführung von Brecht-Stücken plädieren, die ihre Vorgänger in den fünfziger und Sechzigerjahren noch boykottiert und verboten hatten.

Es ist schon bezeichnend, dass ausgerechnet die Rechten jetzt über Cancel Culture jammern und damit ausnahmsweise einmal mitbekommen, wie es Linken seit Jahrzehnten durch alle möglichen Repressalien von Parteiverboten bis zum Radikalenerlass, also Berufsverboten und existenzvernichtender gesellschaftlicher Verachtung, ergeht.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.