Von Griechenland bis USA: Wie Züge zum Sicherheitsrisiko gemacht werden

Seite 2: Profitable "Bomb Trains" in den Vereinigten Staaten

So fand zum Beispiel am selben Tag des tödlichen Zusammenpralls in Griechenland viele tausend Kilometer entfernt ein anderes Zugunglück statt. Es erhielt keine Aufmerksamkeit in der Berichterstattung hierzulande. Sicherlich zu Recht. Denn im US-Bundesstaat Florida entgleiste lediglich ein Güterzug, ohne dass jemand zu Schaden kam. Auch die zwei mit 30.000 Gallonen (113.000 Liter) Propan gefüllten Tankwagen schlugen nicht Leck oder fingen Feuer.

Die Zugentgleisung in Florida ist aber nur auf den ersten Blick unbedeutend. Denn sie verweist tatsächlich auf eine andere, verheerende Tragödie, die sich in den Vereinigten Staaten ereignete.

Denn just als der Zug bei South Manatee aus den Schienen sprang und gottseidank nichts weiter passierte – aber hätte passieren können –, brachten im US-Kongress zwei progressive Abgeordnete ein Gesetz ein, das strengere Vorschriften für Gefahrgutzüge in den USA vorsieht.

Das hat seinen Grund: Drei Wochen zuvor, am 3. Februar, sprangen nahe dem Ort East Palestine im Bundesstaat Ohio 38 Waggons eines Güterzugs aus den Gleisen, voll beladen mit diversen gefährlichen Chemikalien wie Phosgen und Chlorwasserstoff. Jeder dieser Tankwagen kann bis zu 32.000 Gallonen (121.000 Liter) fassen. Zwei Waggons brannten zwei Tage lang ab.

Die staatlichen Bergungsteams entschieden aus Furcht vor einer Explosion, einige der Waggons kontrolliert in Brand zu setzen. Die Gegend wurde dafür in einem Radius von knapp zwei Kilometern evakuiert.

Hinaufschießende Flammen setzten große Mengen an toxischen Gasen frei. Die Stadt, die Umgebung und Gewässer in der Nähe wurden mit den aus den Tanks strömenden, krebserregenden Chemikalien verseucht. Tausende Fische und Frösche verendeten.

Die Bewohner leiden seitdem unter Beschwerden wie Atemnot, Halsschmerzen, brennenden Augen und Hautausschlägen, deren langfristige Folgen unbekannt sind. Viele sagen, sie trauen den Behörden nicht, die ihnen sagen, es sei sicher, in ihre Häuser zurückzukehren.

In den USA gäbe es jedes Jahr mehr als tausend vermeidbare Zugentgleisungen wie der Unfall in East Palestine, so der Journalist, Buchautor und Radiomoderator Jim Hightower. Der private Güterzug-Betreiber Norfolk Southern habe nur wenige Tage nach der in Ohio eine weitere Katastrophe nahe Detroit erzeugt. Es seien in Wahrheit Tragödien mit Ansage.

Während der Bahngigant und Monopolist Norfolk in den letzten Jahren Rekordgewinne eingestrichen habe, setzte das Unternehmen Heerscharen von Lobbyisten und millionenschwere politische Spenden ein, um Sicherheitsvorkehrungen zu verhindern, die eine solche katastrophale Bilanz verhindern würden.

Dem stimmt auch Matthew Cunningham-Cook zu, Rechercheur und Autor des US-Mediums The Lever, der Teil eines Teams ist, das über die Katastrophe von East Palestine berichtet. Laxe Vorschriften und die übergroße Lobbymacht von Unternehmen wie Norfolk Southern seien verantwortlich für die vielen Zugdesaster.

Um die Kosten zu senken und die Gewinne in die Höhe zu treiben, hätten die Chefs des US-Bahngiganten die Regeln so manipuliert, dass die Züge absurd lang sind, zu schnell fahren, immer schwerere Ladungen nicht bekannter Giftstoffe in dafür nicht geeigneten Tankwagen transportieren, keine Brandmelder haben, veraltete Bremssysteme verwenden – und dabei nur ein einziges Besatzungsmitglied an Bord hätten.

Der entgleiste Zug von Norfolk zog 141 befüllte und weitere leere Waggons, die sich rund dreieinhalb Kilometer die Strecke hinzogen, mit einem Gewicht von insgesamt 18.000 Tonnen. Das wären 18.000 Eintonnen-Autos mit nur einem Fahrer. Sie werden "Bomb Trains" genannt. Mehr als 12.000 solcher Züge mit gefährlicher Ladung fahren jeden Tag durch die USA.

Züge sind kein besonderes Sicherheitsrisiko, im Gegenteil, aber sie können zu einem gemacht werden. Hinter menschlichem Versagen und Fehlern, die Tragödien auslösen, steckt oft ein System fatalen Sparens, Deregulierens und Profitierens.

Die, die direkt oder indirekt Verantwortung tragen, dass Schutzstandards vernachlässigt oder ausgehöhlt werden, sind in den allermeisten Fällen aber nicht die, die zur Rechenschaft gezogen.