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Von Rassentheorie zu Reformpädagogik: Montessoris umkämpfter Weg

Filmbild: © Neue Visionen Filmverleih

Rassedenken, eugenische Prämissen und liberales Optimierungsdenken – zum aktuellen Streit um Montessori und ihre revolutionäre Pädagogik. Mehr als eine Filmkritik.

"Lieber sterben als töten!"

Maria Montessori

Die Tatsache, daß bis in die Oberstufen auch unsere männlichen Jugendlichen von Frauen erzogen werden, muß erst noch geistig eingeordnet werden.

SZ, 1962

Die Sehnsucht nach einer inklusiven und Kind zentrierten Pädagogik ist heute größer denn je. Dazu passt es, dass es nun eine Debatte um eine Heldin der neuen Pädagogik und frühe Vorreiterin der Inklusion behinderter und eingeschränkt begabter Kinder gibt: Maria Montessori (1870 bis 1952).

Die meisten kennen die italienische Ärztin, Psychologin, Reform-Pädagogin und Frauenrechtlerin als Gründerin und Namenspatin der nach ihr benannten Schulen und Kindergärten mit freiheitlicher inklusiver Pädagogik. Sie entwickelte ihr eigenes Erziehungskonzept und wurde schon zu Lebzeiten zum Mythos.

Sie war eine willensstarke und engagierte Frau, die von einer neuen Art der Erziehung träumte wie von der Befreiung der Frau aus dem Korsett der bürgerlichen Gesellschaft:

Frauen müssen sich aus der Apathie befreien, sie müssen aus dem Schatten der Unwissenheit treten, sich der Wissenschaft stellen, um sich zu emanzipieren.

"Kinder als Bürger"

Mit dieser Idee steht sie aber zuerst ziemlich einsam da, ihr Drang nach Freiheit stößt immer wieder an Grenzen und auf Kritik. Maria Montessori sprengt die Ketten, die den Frauen angelegt wurden. Um 1900 war die Angst vor Rückfall sowohl in moralischer wie in intellektueller Hinsicht verbreitet.

Kindererziehung wurde als Mittel der Verbesserung und des Fortschritts der Menschheit angesehen. In ihrer 1907 gegründeten "Casa dei Bambini" sollten die Kinder zu Baumeistern ihrer selbst werden, einzig angeleitet vom Montessori Lernmaterial Maria Montessori war die Vorreiterin der Inklusion.

Ihr Motto war immer: "Hilf mir, es selbst zu tun". Sie hat dafür plädiert, "Kinder als Bürger" mit gleichen Rechten zu betrachten, die möglichst selbstbestimmt lernen sollen. Sie war eine frühe Vorreiterin der Inklusion behinderter und eingeschränkt begabter Kinder.

Montessori war eine Kinder liebende Reformpädagogen, die das Kind vom Frontalunterricht befreite und ein selbstbestimmtes Lernen förderte.

"Entromantisierung Montessoris"

Aber dieses positive Bild Montessoris kritisiert nun die Autorin Sabine Seichter in ihrem Buch "Der lange Schatten der Maria Montessori" und macht auf "andere Seiten" der Italienerin aufmerksam: Montessori war als Kind ihrer Zeit auch von Rassedenken, eugenischen Prämissen und liberalem Optimierungsdenken beeinflusst.

Im SWR [1] plädierte Seichter für "eine erweiterte Sicht" und Entromantisierung Montessoris.

Was heißt das?

Seichter behauptet, Eugenik und Rassentheorie beherrschten die Gedankenwelt Montessoris. Das ist in dieser Pauschalität sicher falsch.

Andererseits gehörte Evolutionsbiologie zum damaligen Studium. Darin ging es selbstverständlich auch darum, welche Anlagen der Menschen zu einem besseren Menschen machen. Und welche "Rassentypen" mehr "wert" sind als andere. Das würde man heute zum großen Teil nicht mehr fragen.

Aber ist es ein Vorwurf, wenn Seichter in der Kulturzeit [2] einwendet: "Ihre Grundvision war die, die viele zur damaligen Zeit hatten, nämlich eine bessere Gesellschaft zu formen"?

Es wäre gut, wenn die Frage nach Verbesserung und die Vision einer besseren Gesellschaft in der europäischen Gegenwart von heute wieder ein wenig üblicher würde.

Das Kind ist kein leeres Wesen

Es gibt bestimmte Standardeinwände gegen Montessori. Sie sei ja gar keine Pädagogin gewesen, sondern eigentlich "Biologin und Ärztin" (Seichter) – ein banausenhafter Einwand. Als ob Ärztin zu sein etwas Schlechteres wäre. Zudem war sie Kinderärztin.

Eher ist umgekehrt das, was Montessori schuf, undenkbar ohne das medizinisch-psychologische Rüstzeug, das sie sich im Studium angeeignet hatte. Tatsächlich hatte sie einen doppelten Doktortitel in Medizin und Chirurgie; von Biologin kann überhaupt keine Rede sein.

Filmbild: © Neue Visionen Filmverleih

Das wird nur behauptet, um sie mit dem Biologismus in Verbindung zu bringen und das Hauptanliegen von Sabine Seichter zu implementieren, Montessori dem Rassedenken und dann der Eugenik zuzuordnen.

Das, was Pädagogen alten Schlages bis heute misstrauisch macht, ist, dass Montessori dagegen ankämpfte, das Kind als ein leeres Wesen zu betrachten, das mit den Erziehungsinhalten zu füllen sei.

Dass sie dafür plädierte, das Förderung des Kindes bedeutet weniger aktives Vermitteln von Lehrstoff gegenüber der Befriedigung der jeweiligen eigenen Bedürfnisse des Kindes und dem Wecken des Interesses.

Montessori wollte Konzentration und Ausdauer für das Finden von Zusammenhängen. Sie wollte den Kindern Strategie der Problemlösung vermitteln. Es war die Abkehr vom Frontalunterricht vom gleichen Unterricht für alle zugunsten des individuellen Zugangs zum einzelnen Kind.

Alle betrachten das Kind als ein leeres Wesen, zu dem nur Spiel und Schlaf passen und dem man mit fantastischen Geschichten die Zeit vertreiben soll. Es scheint eine Art Sakrileg, den Kindern eine ernste Arbeit zuzutrauen.

Das Hauptziel von Montessoris Erziehung ist die Verteidigung des Kindes, die wissenschaftliche Erforschung seiner Natur und die Erklärung seiner sozialen Rechte, anstelle der Zerstückelung der Erziehung. Diese Ziele sind weniger überholt als mancher es gerne hätte; sie verdienen es erinnert zu werden.

Montessori Erziehung verstand sich auch nur ihren Anfängen als Pädagogik für das Kleinkind, sie wurde schon bald von ihrer Schöpferin als weit umfassender begriffen: als Hilfe für die menschliche Person, um ihre Unabhängigkeit zu erobern.

Zugleich war Montessoris Lehre weniger Manifest und Deklaration als konkrete Arbeit in den Einrichtungen. Montessori kämpfte gegen eine Fülle von Widerständen an und entfachte eine weltweite pädagogische Bewegung von Japan bis Chile.

In Indien, in Japan, in Großbritannien ist sie hoch geachtet, in den Niederlanden gehört Montessori-Pädagogik zum fest eingeführten Bestandteil des Schulsystems.

Behinderung ist tatsächlich eine Behinderung

Nächster Einwand: "Der Versuch, den Menschen einzuteilen in normale und sogenannte abnormale Menschen. Das legt sie zeit ihres Lebens nie ab."

Diese Einteilung ist grundsätzlich sehr wohl berechtigt und bis heute üblich. Es bringt nichts Behinderungen schönzufärben oder umzubenennen in "besondere Begabungen" und so zu tun, als sei das alles nicht weiter schlimm und nur eine Besonderheit, nicht aber eine Einschränkung.

Denn Behinderung ist sehr wohl eine Einschränkung, und selbst wenn wir die menschlichen Lebensbedingungen und die Gesellschaft so gestalten, dass Behinderte bestmöglich gefördert und integriert werden – sie bleiben behindert. Sie brauchen eben genau diese spezielle Förderung, die andere nicht brauchen.

Außerdem ist natürlich diese Einteilung in keiner Weise eine Erfindung von Montessori, sondern absolut im Zeitgeist entsprechend. Sie ist hier einfach ein Mensch ihrer Zeit.

Nächster Einwand: Sie sei von Rassedenken, eugenischen Prämissen und liberalem Optimierungsdenken beeinflusst. Was heißt das?

Wir alle praktizieren Eugenik

Genau genommen ist Eugenik an anerkannter Bestandteil unseres Lebens. Wir alle praktizieren Eugenik, wenn wir zumindest darüber nachdenken (egal, wie die Entscheidung lautet), ein Kind, das die Prognose hat, als behindert geboren zu werden, abzutreiben.

Auch das Inzest-Verbot wird eugenisch begründet. Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik, auch Geburtenkontrolle sind Formen der Eugenik.

Eugenik gilt nur dann als verwerflich, wenn es um eine Bevölkerungspolitik gegenüber der Gesamtbevölkerung eines Staates geht – hier verwendet man den aus dem Altgriechischen stammenden Begriff als gleichbedeutend mit der nationalsozialistischen "Rassenhygiene".

Der britische Anthropologe Francis Galton prägte den Begriff und plädierte bereits seit den 1880er-Jahren für eine Verbesserung der menschlichen Natur bzw. eine Wissenschaft, die sich mit allen Einflüssen befasst, die die angeborenen Eigenschaften der Menschen verbessern.

Auch muss man berücksichtigen, dass der Gebrauch des Wortes Rasse in den 19. Jahrhundert ein völlig anderer war, als der wie wir heute davon sprechen. Man kann es übersetzen mit "Art".

Natürlich war Maria Montessori und ihre Sicht auf Frauen wie auf Kinder der Blick einer Frau, die 1870 in Italien geboren ist, nicht 2000 in Berlin-Mitte.

Ihr daraus moralische Vorwürfe zu machen ist falsch und unhistorisch

Der Montessori-Film: "wertige" Bilder, bekannte Darsteller

Wie Montessori wurde, was sie war, zeigt nun auch der italienisch-französische Spielfilm "Maria Montessori" von der Französin Lea Todorov.

Der Film ist eine klassische Filmbiographie und in seinem Stil mainstreamig im guten Sinn: Er ist leicht zugänglich, eingängig erzählt, oft mit Musik untermalt; mit edler Lichtsetzung und sorgfältig gestalteten Einstellungen entstehen "wertige" Bilder.

Filmbild: © Neue Visionen Filmverleih

Es gibt viele in ihren Heimatländern bekannte Darsteller, allen voran die hierzulande immer noch unterschätzte Italienerin Jasmine Trinca ("La Storia") in der Titelrolle.

Neben der Konzentration auf das berufliche Leben Maria Montessoris gibt es auch nicht zu wenig Romantik in dem Sinn, dass es hier immer wieder auch um die Liebesbeziehungen von Maria Montessori geht.

Zudem dreht sich ein Erzählstrang um ihren unehelichen Sohn – das war zu dieser Zeit ein durchaus handfestes Problem.

Der Film verbindet die reale Geschichte Montessoris mit der fiktiven von Lili d’Alengy (Leïla Bekhti), einer Pariser Edel-Kurtisane. Beide Frauen haben viel gemeinsam. Sie sind progressiv und revolutionär in den Zeiten viktorianischer (und katholischer) Gesellschaftsmoral.

Lili hat eine geistig behinderte Tochter. Sie schämt sich für sie und bringt sie in Montessoris ein Heim für behinderte Kinder. So wird Lili stellvertretend für uns zur Zeugin für Montessoris Methoden.

Eine Feministin

Aber in allererster Linie dreht sich der Film um die allgemeinen wie subjektiven Aspekte im Leben einer Frau dieser Epoche, der Zeit um 1900. Es geht also um die Emanzipation der Frau.

Gerade dieser Aspekt, dass Montessori auch eine Vorreiterin in vieler Hinsicht war – die erste Frau, die es durchsetzte, in Italien Medizin studieren zu dürfen – ist heute ein bisschen unterbelichtet. Davon habe ich bislang jedenfalls nichts gelesen.

Und dann erzählt der Film von Montessoris besonderer Zuwendung zu Behinderten und lernbeschränkten Kindern.

Der Film spielt hauptsächlich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, bevor die Frau die berühmte Maria Montessori war, und ihre Pädagogik entwickelte; man darf dabei aber nicht vergessen, dass sie später auch vom Faschismus bereits sehr früh ins Exil getrieben wurde.

Dies ist vor allem wichtig, und sollte nicht vergessen werden, wenn jetzt manche – vor allem aus jenen erzkatholischen und stockkonservativen Kreisen, die schon immer gegen Reformpädagogik gewesen sind – darauf aufmerksam machen, dass Montessori auch vom Rassedenken und eugenischem Gedankengut ihrer Zeit beeinflusst war.

Denn dann ist festzuhalten, dass die Faschisten, die ja Rassisten waren, mit Montessori offenbar nicht viel anfangen konnten. Dies auch weil Montessori ja eben Behinderte und eingeschränkte oder lernbehinderte Menschen gleich behandelt hat, Menschen, die nach dem Rassedenken "lebensunwertes Leben" waren.

Kein Dokumentarfilm

Lea Todorovs Film ist kein Dokumentarfilm. Zugleich ist es so – soweit der Rezensent (mit abgeschlossenem Geschichtsstudium, aber klarerweise kein Montessori-Experte) dies in den wenigen Tagen, die zur Vorbereitung einer solchen Filmkritik bleiben, überprüfen konnte – dass hier alles auf belegbaren Tatsachen fußt.

Der Film ist erstaunlich nüchtern, insofern er die Fakten einordnet und in einen historischen Zusammenhang stellt. Todorov versucht, Maria Montessori aus ihrer Zeit zu verstehen, nicht aus unserer Gegenwart.

Die Regisseurin interessiert sich ganz offensichtlich in erster Linie für die historische Figur, und auch für Montessoris neuen Ansatz der Kinder-Pädagogik – es geht Todorov dabei gar nicht darum, nur eine strahlende Heldinengeschichte zu erzählen. Sie erzählt auch die Schattenseiten.

Aber dies ist schon ein Film, der einem breiten Publikum eine ungewöhnliche und auch etwas vergessene Frau nahe bringen will und dafür alle filmischen Register zieht.

Empathie für Behinderte

Zwei Aspekte ragen besonders heraus. Dieser Film gibt der Arbeit mit Behinderten sehr viel Raum. Das bedeutet auch Raum in der Darstellung von Behinderten.

Zum einen zeigt der Film, dass das, was wir Behinderung nennen, eben oft genug einfach eine andere Befähigung ist, eine Besonderheit, die man mit besonderen Mitteln, mit Empathie und Subjektivität fördern und freilegen kann.

Die Darstellerinnen und Darsteller dieser Kinder und Jugendlichen sind selbst offensichtlich teilweise schwerbehindert. Ich habe selten einen Film gesehen, wo es ähnlich natürlich und unverkrampft nebeneinander stattfindet, dass gesunde und eingeschränkte Menschen zusammen spielen. Das zu sehen ist außerordentlich spannend und ungewöhnlich.

Der zweite Aspekt ist die schon erwähnte Emanzipation; also die "Frauenfrage". Wir übersehen ja oft, wie die Verhältnisse noch vor Kurzem waren. Ich selbst bin noch zu einer Zeit geboren, als meine Mutter theoretisch zumindest den Ehemann um Erlaubnis fragen musste, wenn sie arbeiten wollte – das sollten wir nicht vergessen!

Dieser Film zeigt sehr gut, wie altbacken und traditionalistisch die Geschlechterverhältnisse selbst zu in anderer Hinsicht schon sehr modernen Zeiten waren. Gerade dagegen kämpfte Montessori an. Sie war damit auch unter ihresgleichen, also unter anderen gebildeten Frauen umstritten. Es gab Frauen, die diese Form von Emanzipation einfach nicht wollten und sich von Montessori provoziert fühlten.

Insofern zeigt dieser Film sehr deutlich, warum Montessori auch heute noch provoziert – weil sie gegen die Normen, gegen das sogenannte vermeintlich Normale und gegen einfache Wahrheiten ankämpfte.

Und man kann vielleicht in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass der Originaltitel dieses Films in Frankreich "La nouvelle femme" lautet – die neue Frau. Das sagt eigentlich schon alles.

Revolution der Erziehung

Auch gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um Montessoris Denken, hilft einem dieser Film, sich ein eigenes und breiter fundiertes Urteil zu bilden. Denn man erfährt hier viel und auf eingängige Weise. Der Film gibt mehreren unterbelichteten Themen Raum.

Denn in der Erinnerung an Maria Montessori geht es ja vor allem darum, dass sie gegen die alte "Rohrstockpädagogik" angekämpft hat – keiner will heute dahin zurück.

Natürlich sieht man im Rückblick manche ihrer Ansichten differenzierter, aber an Montessoris Bedeutung für die Revolution der Kindererziehung kann kein Zweifel bestehen. Sie hat den Umgang mit Kindern, nicht nur die Kindererziehung, extrem vorangebracht.


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[1] https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/ikone-der-reformpaedagogik-war-montessori-rassistin-100.html
[2] https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/wer-war-maria-montessori-sendung-vom-07-03-2024-100.html