Von Ratten-, Krebs- und Eimermenschen: Provoziert die Politik sozialen Protest?
- Von Ratten-, Krebs- und Eimermenschen: Provoziert die Politik sozialen Protest?
- München: Modell "Monaco"
- Rapider Vertrauensschwund der populistischen Schichten
- "Die Knochen des Volkes sind zermürbt…"
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Krieg, Preiskrise und Politikversagen schüren soziale Unruhen. Ein Gastbeitrag
Bericht aus dem Bauch der Gesellschaft
"Die unterschätzen uns – die haben uns so lange ruhiggestellt. Jetzt schlagen wir bald los…", flucht ein Leiharbeiter über die Preisexplosion. Er boykottiert zum ersten Mal die offizielle 1-Mai-Jubelfeier von SPD und DGB in der Stadtmitte von München. Dagegen haben er und viele andere sich zu der ersten regierungs- und DGB-kritischen Protestkundgebung versammelt: "Gegen den Preiskrieg – Wir zahlen Eure Krisen nicht."
"Es gibt Wut und Böse – wir aber sind die Wut!", ruft der Arbeiter den Passanten zu. Was aber sind die Motive seiner Wut?
Der Mann war viele Jahre lang Leiharbeiter und damit prekär beschäftigt. Die deutschen Wirtschafts- und Politikeliten aber haben das ermöglicht und tragen deshalb Verantwortung für das Schicksal dieser Menschen und deren Folgen. Für die Begründung dieser These muss man kurz zurückblicken.
Gleich nach der Finanzkrise von 2009 konzipierten deutsche Konzerne das Modell der "atmenden Fabrik": Um sich künftig besser abzusichern und in der Not nicht auf Arbeitern sitzenzubleiben.
Ausgerechnet die rot-grüne Regierung unter Kanzler Schröder kopierte das, indem sie der "atmenden Volkswirtschaft" zum Durchbruch verhalf: Die Hartz-Gesetze machten den Weg frei für einen riesigen prekären Arbeitssektor zu Niedriglohnbedingungen.
Die EU zog nach und bald war europaweit circa ein Drittel der Beschäftigten prekär und nicht mehr ordentlich beschäftigt – vom Akademiker bis zum Arbeiter. Das hat die untere Mittelschicht seitdem massiv unter Druck gesetzt.
Von Eimer-, Ratten- und Krebsmenschen
Der deutsche Fleisch-Milliardär Clemens Tönnies wurde zu einem der Vorreiter dieser Entwicklung. Er wollte die neuen Möglichkeiten prekärer Beschäftigung massiv für seinen Konzern nutzen. Er bereicherte sich offensichtlich nicht nur am Elend von Tieren, sondern auch von Menschen: Die unterste Malocherklasse seiner Fleischfabriken erlangte bald traurige Berühmtheit als sogenannte "Eimermenschen". Denn sie mussten ihr Schneidewerkzeug selbst bezahlen und schleppten es in Eimern zur Arbeit und wieder zurück in ihre Baracken.
Immerhin ging es diesen Opfern des neuen Hyperkapitalismus immer noch besser als denjenigen, die als ihre "Artverwandten" in Südamerika bezeichnet wurden: die "Ratten-" und "Krebsmenschen" in Brasilien, die durch ihr Elend zusätzlich kleinwüchsig und chronisch krank geworden sind. Aber allein die deutschen prekären Arbeitsbedingungen – auch in anderen Branchen – sind dafür verantwortlich, dass die Wut im Bauch der Gesellschaft seitdem stetig anstiegt und anstieg.
Die Franzosen reagierten als erste und am heftigsten: Im Winter 2018 brachen die Gelbwesten-Aufstände aus, die das Land monatelang lahmlegten und dem Hass auf die abgehobenen Pariser Eliten Ausdruck verliehen. Kleine Teile der Gelbwesten wandten Gewalt an. Dafür wurden sie von französischen und auch den deutschen Medien pauschal diskreditiert. Andererseits war nicht von der Hand zu weisen, dass es triftige Gründe für diese flächendeckenden politischen Aufstände gab.
Und kaum hatte Präsident Macron seine Gelbwesten mit zum Teil noch viel brutaleren paramilitärischen Methoden unterdrückt, da kam es in vielen anderen Teilen Europas und der Welt zu sozialen Unruhen. Das Jahr 2019 wurde zum Höhepunkt sozialer und politischer Proteste und Aufstände weltweit.
Doch diese Wut wurde bald im Keim erstickt: Die Ausbreitung des Corona-Virus und die drakonischen Maßnahmen der Politik begruben die Empörung der Volksmassen in aller Welt unter sich. In Deutschland gingen die Protestbewegungen von Sahra Wagenknechts "Aufstehen" und die Fridays-for Future-Bewegung unter. Ihre Wut verwandelte sich wieder in Ohnmacht.
Wie aber reagierte die Politik auf diese Missstände? Die Leiharbeiter hofften wenigstens auf linke Parteien als ihre natürlichen Fürsprecher. Umso schockierter waren sie, als Medien Anfang 2020 enthüllten, dass der ehemalige Vorsitzende der Partei der kleinen Leute, Sigmar Gabriel, angeblich auf der Payroll des Fleisch-Milliardärs stand, um diesen nach eigener Aussage vor drohenden staatlichen Auflagen zu schützen.1
Aber politische Proteste dagegen waren zwecklos. Denn gleichzeitig ging die Rechnung sowohl der Konzern- wie der politischen Eliten auf: In Zeiten der Krise konnte die "atmende Volkswirtschaft" die überflüssigen Arbeitskräfte nunmehr schlagartig abstoßen: Die Konzerne und sonstigen Unternehmen entließen ohne viel Aufsehen circa 300.000 Leiharbeiter – und dies ohne Aufwand und Entschädigung.
Diese hatten weder Anspruch auf Kurzarbeitergeld noch auf großen Kündigungsschutz – dank vorausgegangener SPD-Gesetze. Kaum aber waren sie "entsorgt" und Corona war im Jahr 2022 vorerst überstanden, da suchten dieselben Konzerne frische prekär Beschäftigte. Jetzt aber konnten sich die inzwischen als altes Eisen entsorgten Leiharbeiter wieder die Augen reiben: Denn der Kriegsverlauf in der Ukraine vertrieb Hunderttausende und machte sie zu armen Flüchtlingen.
Kein anderer als der Fleischbaron Tönnies war es, der eine neu abstruse Idee gebar: Er schickte "Kopfjäger" bis an die ukrainische Grenze, um verzweifelte Mütter für "Arbeits-Prostitution" anzuwerben – allerdings durften sie ihre Kinder nicht mitbringen. Dafür aber wurde ihnen von Tönnies großzügig Transport und Unterkunft in Baracken garantiert.2
Diese und ähnliche Skandale lassen die Untersten in der Nahrungskette des Kapitalismus mit einiger Berechtigung von "Wut und Böse" sprechen. Sie fühlen sich, ähnlich wie viele ihrer Schicksalsgenossinnen und -genossen brutaler denn je von Krisen- und Kriegsgewinnlern ausgespielt: sprich "Eimermenschen" gegen "Arbeits-Prostituierte". Die politische Schlussfolgerung der Arbeiter ist einfach, aber wird trotzdem nicht gern beim Establishment gehört, nicht einmal bei den Eliten der linken Parteien.
Denn viele Arbeiter und sonstige prekär Beschäftigte fühlen sich vielfach und seit langem von den Oberen verraten – auch den oberen linken Eliten, die das Schicksal ihrer klassischen Klientel glatt ignorieren. Scheinbar schützen diese lieber das Kapital als das Subproletariat.
Soweit zu einigen Beweggründen für die aufgestaute Wut. Soweit auch zur Prognose für einen möglichen kommenden Wutausbruch auf breiter Front aus dem Bauch der Gesellschaft heraus. Erste Proteste auf den Straßen Berlins und Münchens bestätigen, dass diese Prognose nicht falsch sein muss.