Von Wahlversprechen und Gummistiefeln

Neues von der Sternstunde der Demokratie

Die geneigten Leserinnen und Leser können gerne den Versuch machen, die folgenden aktuellen Wahlslogans den sieben Bundestagsparteien zuzuordnen, die sich von der Plakatierung ihrer entschlossenen 'Zukunftsfähigkeit' Stimmengewinne versprechen: "Warten wir nicht auf morgen. Gehen wir hin." - "Es braucht einen Sprung in die Zukunft, kein Zurück in die Steinzeit." - "Respekt - Zukunft " - "Jetzt! Gemeinsam machen wir das Land gerecht." - "Zukunft passiert nicht, wir machen sie." - "Wir sind keine Träumer. Wir sind Macher." - "Heute lernen, was morgen zählt." - "Zukunft soll wieder nach Freiheit schmecken." - "Kommt, wir bauen das neue Europa." usw. usf.

Wahrheiten des Wählens

Gewisse Unterscheidungsschwierigkeiten liegen bei Parolen dieser Art auf der Hand und für Quizfragen bei Jauch wären sie wohl nicht trennscharf genug. Aber darum geht es nicht. Immerhin empfehlen sich Parteien mit solchen Sprüchen als Anwärter auf die nächsten vier Jahre Macht im Staat, die sie dann ihren Vorstellungen gemäß gebrauchen wollen.

Wenn sie dieses Vorhaben abstrakt so fassen, dass "es" in Zukunft laut Opposition besser werden muss bzw. laut Regierung noch besser werden kann, sind die mit diesem "Es" verbundenen Staatsgeschäfte zwar nicht weiter benannt, aber unterstellt. Offensichtlich hat deren vergangene und gegenwärtige Betreuung durch die gewählten Volksvertreter entweder eine reichliche Menge an bürgerlicher Unzufriedenheit hervorgerufen oder sie noch nicht beseitigt.

Mit ihren vergleichbaren Sentenzen und den parteispezifischen Zusätzen, diverse Mängel irgendwie "anzupacken" und ihnen "gerecht" zu werden, versuchen die Konkurrenten, sich gegeneinander abzusetzen und Stimmen auf sich zu ziehen. Eine solche Politisierung der misslichen Zustände und geschädigten Interessen ist ein Kernstück der demokratischen Wahl. Ihr Zweck liegt deshalb auch nicht darin, die Misslichkeiten abzustellen, sondern eben eine Regierungsmannschaft ins Amt oder eine Opposition in Position zu bringen.

Freilich gehören dazu Wähler, die sich auf diese Art vereinnahmen und instrumentalisieren lassen, die also daran gewöhnt sind, dass aus ihren Unzufriedenheiten nichts weiter folgt, als per Stimmzettel die vorhandenen oder neue Machthaber - oder eine Mischung, die dieselben sich selbst zusammenstellen - mit einer besseren Herrschaft über die bleibenden Verhältnisse zu beauftragen.

Dieser überschaubare Einfluss auf die Personalfrage der Macht befördert Untertanen zu demokratischen Staatsbürgern und bedient, benutzt und befestigt deren Willen zu einem Mitmachen, der gepflegt werden will, weil er beständig strapaziert wird. Dies ein weiteres Kernstück des Wählens.

Die demokratische Symbiose, mit dem Willen der Bürger Staat zu machen, kommt also durch die drei Wörter der einfachen Sprache in Großbuchstaben hinreichend zum Ausdruck, die sich CDU und CSU prototypisch zum Wahlmotto erkoren haben: "Deutschland gemeinsam machen." Der Generalsekretär hat es frühzeitig als eine Markenware vorgestellt, die für die "Mitbewerber" Maßstäbe setzt:

Wichtig neben dem Slogan ist auch das Design, das zentrale Element ist dabei der "Unions-Kreis", er soll ein "starkes Zeichen des Zusammenhalts" sein. In seiner Grundvariante wird er schwarz-rot-gold umrandet sein, doch kann er, je nach Thema, auch viel mehr und andere Farben enthalten. Der Kreis bedeute, dass die Union "keine Partei des Entweder-oder, sondern des Sowohl-als-auch‘ sei, eben eine Partei, die für alle Raum biete."

FAZ

In den regenbogenfarbenen Designer-Kreis mit Platz für alle können dann "sowohl" zehn Quadratmeter Laschet "als auch" "Themen wie Arbeitsplätze, Klimaschutz, Sicherheit, Familie und Bildung oder bezahlbares Wohnen" etc. eingefügt werden, also ungefähr das, was alle Parteien auflisten. Dabei wird das "Entweder-oder" ein wenig übersehen, das auch in dieser Liste steckt.

Denn Arbeitsplätze, Klimaschutz oder Wohnungen erweisen sich entweder als Beiträge zu den Interessen der Klasse, die für das Wirtschaftswachstum zuständig ist, von dem alles abhängt - oder sie kommen eben schlecht weg. Umso mehr eignen sie sich dann wieder als Material des Wahlkampfs.

"Das wiederverwendbare Wahlplakat"

Die Untertanenschaft der Demokratie und diejenigen, die deren Meinungsbildung bezüglich der Parteienkonkurrenz anleiten, nehmen die Wahrheiten des Wählens in einer verfremdeten Weise zur Kenntnis.

In einem Podcast der SZ wird ein Politologe zu dem Faktum befragt, "dass sich eine Partei grüner gibt als die andere". Als Antwort zunächst eine Hoffnung: "Ich bin optimistisch, dass sich Unterschiede noch abzeichnen werden und dass Journalisten sie herausarbeiten."

Das schaffen die, wie man sie kennt, sogar ohne größere Anhaltspunkte. Der Politologe verspricht sich jedenfalls eine Differenzierung anhand der "wahlentscheidenden Frage": "Wer vermittelt am besten die Anmutung, uns bei kommenden Krisen am besten zu schützen?" Damit hat er die gesuchten "Unterschiede" selbst schon in eine unbestimmte Wahrnehmung, eine "Anmutung" eben, zurückgenommen.

Eine Meldung der gleichen Zeitung macht dann deutlich, was die gefühlsmäßigen Urteile der Wähler zur Orientierung in der Parteienlandschaft hergeben:

Die Zeiten, in denen sich die Parteien auf einen stabilen Sockel an Stammwählern verlassen konnten, sind offenbar endgültig vorbei. Nach einer groß angelegten Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung besteht mit Ausnahme der AfD die Anhängerschaft aller anderen Parteien inzwischen aus Wechselwählern, die sich auch vorstellen können, für andere Parteien zu stimmen. (…) Für die Parteien bedeutet das, dass sie offener für unterschiedliche politische Bündnisse werden müssen, so wie ihre Wähler das auch sind.

SZ

Was die Studie begriffslos als Volatilität des Wählers konstatiert, der die Parteien angeblich hinterherlaufen müssen, geht auf seine Erziehung durch die gelebte Demokratie zurück. Die modernen Wahlbürger haben erstens gelernt, ihre Interessen lediglich als anerkannte Rechte aufzufassen, die der Staat als Herr über das Allgemeinwohl zulässt und begrenzt.

Zweitens haben sie sich sagen lassen, dass dieses allgemeine Wohl alternativlos vom marktwirtschaftlichen Erfolg abhängt. Worüber drittens die Alternativen, über diesen eingerichteten Sachzwang zu regieren, tatsächlich ziemlich austauschbar werden.

Die Schuljugend zum Beispiel wird von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und anderen Lernportalen periodisch zum Nachdenken angeregt. Eine dort abgebildete Karikatur, betitelt mit "Das wiederverwendbare Wahlplakat", von Manuel König recycelt ihrerseits einen Vorgänger mit Kohl-Kopf aus den 1990-er Jahren und ist einem weiteren Update zugänglich.

Sie soll von den Schülern aber nicht als Fortschreiten der Wiederverwertung, sondern als erlaubte bzw. sogar gebotene Kritik an der demokratischen Wahl verstanden werden. Freilich nicht in dem Sinn, dass man sich eine Stimmabgabe auch schenken kann, wenn deren Ergebnis Wahl für Wahl so absehbar ist, dass man es glatt dem Zufall überlassen könnte. Das legt das Bild zwar nahe, wäre aber eine Themaverfehlung. Der "Unterrichtsbaustein" wird didaktisch vielmehr so erläutert:

Der Wähler wird kurz vor der Wahl von den Parteien und ihren Kandidaten mit einer Menge von Wahlversprechen konfrontiert, deren Inhalte sich zunehmend gleichen. Die Wahlplakate könnten theoretisch jeder Partei zugeordnet werden. Diesem "Sammelsurium" an leeren Wahlversprechungen (…) soll im Unterricht die eigentliche Funktion des Wahlkampfes als Zeit der politischen Aufklärung gegenübergestellt werden. Die Problemfrage "Wahlkampf - Information oder Manipulation?‘ ergibt sich somit unmittelbar aus der Gegenüberstellung der in der Karikatur überspitzt gezeichneten Ist- mit der Soll-Situation.

Bundeszentrale für politische Bildung

Dass das spezifische Unisono der Parteien nicht "leer" ist, sollte ebenso klar geworden sein wie der Charakter der "Versprechen". Versprochen wird den mündigen Staatsbürgern nicht mehr und nicht weniger als eine gute Herrschaft, was sich vor aller Augen als "politische Aufklärung", also keineswegs "manipulativ" abspielt.

Ein "Sammelsurium" sind die Wahlaussagen nur nach der Seite hin, dass die Parteien einen gewissen Freiraum haben und suchen, "Themen zu besetzen" und ihnen ihr Etikett anzuhängen. Wobei die Streuung wie gesagt überschaubar bleibt.

Dabei fällt lediglich die AfD ein wenig aus dem Rahmen. Mit abnehmender Tendenz tauchen bei ihr so etwas wie soziale Interessen auf, die von Rentnern, Braunkohle-Beschäftigten, Dieselfahrern, Mittelständlern oder Malle-Urlaubern - und zwar in der unmittelbaren Fassung als nationale Anrechte, die es gegen kosmopolitisches, grünes Gutmenschentum zu behaupten gelte.

Wagenknecht nennt diese Klientel "die Selbstgerechten"; ansonsten formuliert die Linkspartei aber zunehmend so, als wolle sie mit dem farbenfrohen "Unions-Kreis" (s.o.) kompatibel werden.

Der "Gummistiefel-Wahlkampf"

Die Weise ihres Wahlkampfs stellt die konkurrierenden Parteien vor gewisse Herausforderungen. In Sachen Originalität lässt sich die Expertise der Werbebranche einkaufen. Billiger und manchmal sogar wirksamer fällt ein Verfahren aus, das unter dem Terminus "Schlammschlacht" bekannt ist. Eine solche tobt derzeit nicht sonderlich.

Aber fehlende Quellennachweise in einem grünen Erbauungsbuch sind nicht nur für drei Sendungen Lanz gut, sondern auch für eine charakterliche Abwertung einer Kandidatin durch die werten "Mitbewerber", die fast wie von selbst die Wahlaussichten dezimiert. Dass der Gegenkandidat bei einer Rede des Staatsoberhaupts gekichert hat, ist ebenfalls höchst bemerkenswert. Auch dies sind Indizien dafür, was es mit der "eigentlichen Funktion des Wahlkampfes als Zeit der politischen Aufklärung" so auf sich hat.

Eine Sache wird aber durchaus aufgeklärt: Wenn bürgerliche Wähler und ihre Öffentlichkeit sich mit der inhaltlichen Unterscheidung der Parteien erklärtermaßen schwertun, hilft ihnen offensichtlich eine Charakter-Beschau des Personals bei der Entscheidung. Dazu werden sie sogar eigens aufgefordert, wenn sich die entsprechenden Kandidaten lauthals als "kompetent", "führungsstark" und "glaubwürdig", also in einer Weise anpreisen, die im normalen Leben als Angeberei gilt.

Damit allerdings fällt das am Wahltag eventuell ausschlaggebende Charakter-Urteil ziemlich ins Auge des Betrachters und dessen Anleitung durch die medialen Profis. Denen kommt dazu ein Hochwasser gerade recht. Ein Mann der FAZ kommentiert:

Zur Hochwasserkatastrophe sagte Laschet in Hagen: "Das ist keine Frage, mit der man Bilder erzeugen will." Er ging damit auf eine Gratwanderung ein, die nicht jedem Politiker gegeben ist, sich nämlich so sichtbar zu machen, dass man Führung ausstrahlt, aber nicht so sichtbar, dass es aussieht, als wolle man nur gesehen werden.

FAZ

Pluspunkt also für einen Kandidaten, der seinen Kopf täglich nur so weit in die Kamera hielt, dass man die richtigen Strahlen sah. Wie man dagegen auch ohne Bilder glänzen kann, berichtet der Spiegel von der Gegenkandidatin:

Baerbock sei wie angekündigt vorzeitig aus ihrem Urlaub zurückgekehrt. "Sie wird sich in der Region in Gesprächen über die Lage informieren und sich ein Bild machen." (…) Wohin genau Baerbock außerdem unterwegs ist, gab die Partei nicht bekannt. "Diese Termine werden ausdrücklich ohne Pressebegleitung stattfinden." Man wollte vermeiden, dass der Eindruck entsteht, man wolle die Katastrophe für Wahlkampfzwecke instrumentalisieren. Co-Vorsitzender Habeck hatte auf seiner Wahlkampftour an der Nordsee mehrfach erklärt, jetzt sei die Zeit der Retter, nicht der Politiker zu Besuch. Zugleich war aus Baerbocks Umfeld die Einschätzung zu vernehmen, die Kandidatin müsse baldmöglichst ins Krisengebiet.

Spiegel

Punktgewinn also auch für das gemischte Doppel aus Hingehen und Wegbleiben, welches die Katastrophe so zu instrumentalisieren verstand, dass dies ohne nörgelnde Pressebegleitung gelang. Ein Fazit, erneut von der FAZ, macht noch einmal einen journalistischen Standpunkt deutlich, der den Wahlkampf rein am Maßstab des gelingenden Stimmenfangs bewertet.

Dass es genau darum geht, wird mit Kennerblick einer Wählerschaft enthüllt, die das längst selber weiß und goutiert:

Im Schlamm der Flut kann man als Kandidat leicht ausrutschen. Zu viele Fotos in Gummistiefeln lassen den Verdacht aufkommen, der gestiefelte Politiker trage sie vor allem der Publicity halber. Behält er zu lange die Urlaubssandalen an wie seinerzeit Stoiber, heißt es, das Unglück der Leute sei ihm gleichgültig. Laschet, Scholz und Baerbock kann man bisher weder den einen noch den anderen Vorwurf machen. (…)

Doch sollte man nicht glauben, das verheerende Hochwasser werde keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Wahlkampfs und möglicherweise den Ausgang der Wahl haben. Es war kein Grüner, sondern Horst Seehofer, der sagte, niemand könne ernsthaft bezweifeln, dass diese Katastrophe mit dem Klimawandel zusammenhänge. Die erste Klimapartei aber sind und bleiben die Grünen, selbst wenn fast alle anderen mit ihnen um diesen Titel wetteifern. Laschet als Ministerpräsident und in geringerem Maße Scholz als Finanzminister können sich jetzt auch noch als Krisenmanager profilieren. Baerbock dagegen muss darauf hoffen, dass auch ihre Plagiatsaffäre, die sie so viele Prozentpunkte kostete, vom Hochwasser überspült worden ist.

Berthold Kohler, FAZ

Hut ab also vor allen Kandidaten und ihrem Geschick bei der richtigen Fußbekleidung. Alle Achtung auch für einen Seehofer in Halbschuhen, der den Grünen mitten in der Flut einen Klimatitel vor der Nase wegschnappte.

Aber auch Laschet kann sich noch als Macher der Stunde stilisieren, denn Scholz tut erfolgreich dasselbe beim Bewilligen der Hilfsgelder. Sogar Baerbock darf darauf rechnen, dass die Hochwasser-Opfer für sie und ihre Partei nicht umsonst angefallen sind …

Man kann sich kurz fragen, inwieweit man hier in einem Narrenhaus unterwegs ist. Besser, man wahrt seine Distanz zu dem Zirkus - und beurteilt nüchtern dessen Weiß-Warum. Der komische Wahl-O-Mat von oben will bemängeln, dass sich die "Ist-Situation" der Wahl von ihrer eigentlichen "Soll-Situation" entfernt hat und der demokratischen Sternstunde nicht gerecht wird.

Ein solcher Gegensatz existiert allerdings nur im Idealismus dieser Kritik. Wahr ist dagegen: "What you see is what you get." Die Herrschaftsbestellung in der fertigen Demokratie funktioniert gar nicht anders, als dass Parteien Prozentpunkte für ihren Laden zu ergattern versuchen, Themen besetzen, taktieren, bei Bedarf schwindeln, auch von Notlagen profitieren, weltmeisterlich aufschneiden, sich wechselseitig schlecht machen usw..

Auf diese elaborierte Weise kommen die regierungsfähigen Mehrheiten zustande, die eine Staatsräson befolgen und ausschärfen, welche als Sachzwang der kapitalistischen Verhältnisse nicht zur Wahl steht. Und weil auch für die Erwerbs- und Staatsbürger feststeht, dass eine solche Herrschaft sein muss, geht die größere Hälfte von ihnen - trotz und mit Kritik, Gemäkel und Murren - zuverlässig zum Wählen.