Von engen T-Shirts und echten Mädchen
Ein in Beirut arbeitender Journalist hat die Personen gefunden, die auf dem kontrovers diskutierten Siegerfoto des diesjährigen World Press Photo Contest zu sehen sind
Das diesjährige Siegerfoto des World Press Photo Contest wurde von der Jury ausgesucht, weil es "die Komplexität und Widersprüchlichkeit des wirklichen Lebens" zeige.. Aber offensichtlich fiel es manchem Betrachter schwer, in dem Bild etwas anderes zu sehen, als die Abbildung sensationsgeile Gaffer, die der christlichen libanesischen Oberschicht angehören.
Das Bild des Fotografen Spencer Platt hat ungewöhnlich kontroverse Reaktionen hervorgerufen (Wohliger Schauer vor ausgebombten Häusern). Eine Gruppe schick gekleideter junger Leute fährt in einem offenen, roten Cabriolet durch Beirut, vorbei an zerstörten Häusern. Es sind weder verzweifelte Opfer zu sehen, noch mordende Täter. Die Erwartungshaltung, die einem Siegerbild normalerweise entgegengebracht wird, wird von dem Bild nicht erfüllt. Man erwartet für gewöhnlich, dass in mehr oder weniger ästhetisierender Form ein Missstand oder ein Unrecht visualisiert wird. Zwar sind auch in der Vergangenheit Entscheidungen der Jury kritisiert worden, aber dabei ging es weitgehend um traditionelle Einwände wie beispielsweise die immer wieder aufkommende Frage, ob ein Sachverhalt nicht zu brutal sei für eine bildliche Darstellung. Spencer Platts Bild verstört auch deshalb, weil bei ihm sowohl solch lieb gewonnene, ritualisierte Reibungspunkte, als auch plakative, einfache Aussagen nicht existieren. Es zwingt den Betrachter zum mehrfachen Hinsehen und zum eigenen Interpretieren.
Die Interpretation, bei den Insassen des Cabrios handele es sich um kriegstouristische Gaffer, ist aus zwei Gründen die naheliegendste. Erstens erlaubt sie, die einem World Press Photo-Siegerfoto entgegenzubringende Erwartungshaltung nicht völlig über Bord zu werfen. Prämiert World Press Photo nicht immer Fotos von Missständen und Anzuklagendem? Wenn dem so ist, dann müssen die Abgebildeten Anzuklagende sein, denn sie entsprechen offensichtlich nicht dem gewohnten Opferklischee. Also müssen sie "Gaffer" sein. Zweitens erlaubt die nahe liegende Interpretation, sich den Fotografen als den bewussten Schöpfer des Bildes vorzustellen, der mit seinen Bildern gezielt persönliche Aussagen trifft. Er kann somit gedacht werden als jemand, der die sich bietende Gelegenheit genutzt hatte, die verwöhnten Schnösel als knipsende Gaffer zu entlarven. Dass Fotografie, insbesondere Reportagefotografie, oft und vor allem auch vom Zufall lebt, wird gerne übersehen zugunsten des Mythos des Fotografen als singulärem Bildschöpfer. Ein Foto kann jedoch Aussagen transportieren und Interpretationen zulassen, die vom Fotografen nie intendiert waren.
Der in Beirut arbeitende Reporter Gert Van Langendonck hat nun in einem bei Photo Direct News erschienenen Artikel die Entstehungsgeschichte des Bildes geschildert und den Insassen des Cabrios Namen und Stimme gegeben. Falls seine Recherchen zutreffen, handelt es sich bei den fünf jungen Leuten um Noor Nasser, 21, Liliane Nacouzi, 22, Bissan Maroun, 29, Jad Maroun, 22 und Tamara Maroun, 26. Auf dem Foto ist Jad Maroun der Fahrer, seine Schwester Bissan hantiert mit dem Handy. Noor Nasser ist nur halb verdeckt auf dem Rücksitz zu sehen, sie ist Muslimin, alle anderen sind Christen. Keiner entstammt der Oberschicht.
Das Foto entstand laut Langendonck in Dahiye, einem Stadtviertel Beiruts, in dem die Geschwister gewohnt hatten. Zu Beginn der Bombardierungen waren sie nach Hamra geflohen und waren nun mit einem geliehenen Auto zurück gefahren, um sich die Schäden anzusehen. Langendonck stellt in seinem Artikel auch die "offensichtliche Frage": Was hatten sich die fünf dabei gedacht, in engen T-Shirts an so einem Tag durch ein konservatives Stadtviertel zu fahren?
"Hey, wir sind Libanesen", sagt Noor. Wir haben uns nicht extra so angezogen, um Dahiye zu besuchen. Wir ziehen uns jeden Tag so an. An jedem anderen Tag würde uns niemand einen zweiten Blick geschenkt haben. Es war der Kontrast mit der Zerstörung im Hintergrund, der den Unterschied machte." Die Menschen müssen Libanon besser verstehen, fügt El Khalil hinzu. "Schicksein ist hier ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Das transzendiert die Klasse. Selbst wenn man arm ist, möchte man schick aussehen."
El Khalid ist die Besitzerin des Wagens und bezeichnet sich selbst als "Atheistin". Sie hatte ihre Wohnung in Hamra verlassen, um schiitische Flüchtlinge dort aufzunehmen. Während der Bombardierung von Dahiye half sie den Menschen bei der Evakuierung. Ihren Wagen hatte sie den anderen geliehen, damit sie ihre Häuser in Dahiye besuchen konnten. Spencer Platt hatte am Tag der Aufnahme nicht mit den fünf Fahrzeuginsassen gesprochen. Das Bild ist ein Schnappschuss. Auch die Fünf erinnerten sich hinterher nicht mehr, fotografiert worden zu sein.
Das Foto hinterfragt nicht nur die Art und Weise, wie die Realität von Menschen, die in Krisengebieten leben, normalerweise dargestellt wird. Auch die Bedingungen, unter denen Kriegsfotografen arbeiten, rücken ins Blickfeld. Wie viele Kriegsfotografen gehen unnötige Risiken ein, nur um dramatische Bilder zu schießen, die dem tradierten Geschmack entsprechen und Chancen haben, bei renommierten Wettbewerben zu gewinnen? Für inszenierende Dramatisierungen in der Kriegsfotografie lassen sich zahlreiche Beispiele finden, auch aus dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah. Die Prämierung des von Spencer Platt im Vorbeigehen gemachten Schnappschusses ist für solche Fotografen völlig unverständlich.
Die Jury hat Spencer Platts Foto ausgewählt, weil es die Vielschichtigkeit des wirklichen Lebens zeigt. Die Diskussionen, die diese Wahl ausgelöst hat, zeigen, wie richtig diese Einschätzung gewesen ist.