Von sozialen Synapsen zu sozialen Nervensträngen: Komplexe, adaptive Systeme im Jurassic-Zeitalter
Geschichte des globalen Gehirns V
Warum bilden Tiere große Gruppen? Howard Bloom sieht in ihnen kollektive Lernmaschinen, die aus fünf Komponenten bestehen: Konformitätsstärker, Diversitätsgeneratoren, Nutzensortierer, Ressourcenschalter und Kämpfe in der Gruppe. Das sind die wesentlichen Mechanismen eines kollektiven adaptiven Systems.
Den größten Teil der Geschichte ließ der Zwang, sich mühsam von der Erde zu ernähren, 90 Prozent der Menschheit auf dem Land leben. Aber als einmal eine kleinere Anzahl von Menschen die Nahrung für viele herstellen konnten, brach ein zuvor unterdrücktes Bedürfnis durch: unser Begehren, in Massen eng zusammenzuleben. Heute wohnen mehr als 75 Prozent der Europäer und Nordamerikaner, in Belgien sogar 95 Prozent der Menschen in Städten. Diese Sehnsucht nach Begleitung hat die sich entwickelnde Welt noch härter getroffen. In knapp zwei Generationen ist die Bevölkerung der urbanen Gebiete von Mexico von 25 auf 75 Prozent angestiegen. Mexico City ist jetzt mit 27 Millionen Einwohnern vollgestopft. Das sind ungefähr drei Mal so viel, wie selbst zur üppigsten Zeit des Paläolithikums weltweit Hominiden gelebt haben.
Viele Vogelarten sind von ihrem Äquivalent der großen Stadt ebenso wie wir angezogen, und sie werden sich, wenn die Möglichkeit besteht, in den größten Mengen zusammenfinden, die sie bilden können. Manche Vogelschwärme übertreffen die größten menschlichen Gemeinden durch den Faktor 2 - und bestehen aus 50 Millionen oder mehr Einwohnern. Eine solche gesellschaftliche Überbevölkerung scheint ein außerordentliches Risiko mit sich zu bringen. Je größer der Schwarm ist, desto mehr Land braucht er, um sich zu ernähren, und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, einer Hungersnot zu erleben. Warum also werden die Vögel vom Zwang hypnotisiert, sich einer Menge anzuschließen?
Megalopolis der Vögel
Die erste Vermutung, die Ornithologen anstellten, war die Suche nach Wärme. Im Winter, überlegten sie, könnten sich die Vögel zusammendrängen und sich so gegenseitig vor der klirrenden Kälte schützen. Als die Wissenschaftler die Energiekosten einer Gruppenbildung mit der Energie verglichen, die durch gemeinsame Wärme gespart wird, waren die Ergebnisse ziemlich überraschend. Wenn die Schlafstelle dicht bevölkert ist, wird die tägliche Entfernung vom Schlafplatz zum Futter wahrscheinlich zu einem mühsamen Pendeln. Die bei der Reise verbrannten Kalorien übersteigen bei weitem die wenigen beim heimeligen Kuscheln gesparten, indem sie 27 Prozent der gesamten Nahrungsaufnahme eines Stars verbrauchen. Alleine in einem geschützten Hohlraum zu übernachten, würde trotz der Notwendigkeit, zusätzliche Körperwärme zu erzeugen, diesem Preis in keiner Weise gleichkommen.
Warum kommen also dann Vögel in einer Megalopolis für Flugtiere zusammen? Es gibt etwas weitaus Wichtigeres als Energie, das gespart werden muß, nämlich Information. Vögel vertrauen bei ihrer Wahrnehmung der Welt auf diejenigen, die sich um sie herum befinden. Wenn man sich das Experiment über Nachahmungslernen bei den Octopi aus dem letzten Kapitel ins Gedächtnis ruft, wird einem das alles sehr vertraut sein. Experimentatoren stellten einen Käfig mit einer jungen, unerfahrenen Amsel neben einen Käfig mit einem älteren und weiseren Vogel. Der klugen älteren Amsel wurde eine Eule gezeigt, und sie griff den potentiellen Mörder wild an. Der junge Vogel konnte den Jäger nicht sehen, denn die gerissenen Forscher hatten in seiner Blickrichtung eine Sichtblende plaziert. Auf jeden Fall aber wurde er Zeuge der Reaktion auf die Bedrohung.
Für den jungen Vogel gab es nichts Überraschendes, denn auf seiner Seite der undurchsichtigen Sichtblende erschien ein ausgestopfter Honigesser, ein verwandtes Lebewesen, das sich nicht an der gleichen Nahrung gütlich tut wie die Amsel. Die Anordnung wurde so gestaltet, um den Eindruck zu erwecken, daß die Kampfeslust des älteren Vogels durch den harmlosen Schlecker von Süßigkeiten ausgelöst wurde. Später wurde der junge Vogel neben einen ebenso unerfahrenen Nestflüchtling wie er selbst gestellt. Beiden zeigte man den Honigesser. Der Neuankömmling blieb gleichgültig, aber der Vogel, der seinen älteren Kollegen wütend werden sah, flog zum Liebhaber des Bienensaftes und griff ihn mit aller Wucht an. Der Novize verstand bald die Botschaft und schloß sich an. Dann wurde dieser wiederum mit einem naiven Vogel zusammengebracht, der sich nicht weniger Sorgen hätte machen können. Wie sein Lehrer vor ihm demonstrierte der Vogel, der seine Lektion gelernt hatte, seinem Schüler, wie wichtig es ist, Honigesser zu mobben, und gab so die Tradition weiter. So irrtümlich die Reaktion auch war, so wurde sie doch über sechs Amselgenerationen wiederholt, bis die Wissenschaftler dem Einhalt geboten.
OK, Vögel lernen also durch Nachahmung. Was soll daran so erstaunlich sein? Wir haben bereits die Datenübermittlung durch Nachahmung bei so primitiven Lebewesen wie den stacheligen Hummern vor 260 Millionen gesehen. Und wir haben erklärt, daß eine nacheifernde Informationsaufnahme wie eine Synapse funktionierte, die es einer Information ermöglichte, die Kluft zwischen einem Lebewesen und einem anderen zu überspringen. Eine ganze neue Art der Informationsverarbeitung entsteht jedoch dann, wenn Neuronen oder unabhängige Lebewesen sich enger zusammenschließen als eine Kette, in der nur Eimer weitergereicht werden. Neuronen, die wie schlafende Vögel im sogenannten Ganglion, dem Vorläufer des Gehirns, zusammengedrängt sind, können Daten stapelweise austauschen und miteinander vergleichen, wodurch sie eine weit über eine bloß lineare Übermittlung hinausgehende Leistung realisieren. Da jedes etwas zum Mosaik beiträgt, können sie das ganze Bild sehen. Oder, um vom Bild eines Kirchenbodens zu dem einer Küchentheke umzuschalten, dann weiß man nie, zu welchen Ausgabeformen die Eingabe werden wird, wenn sie von einem sozialen Verband durchgeknetet, auseinandergezogen und ausgerollt wird.
Amot Zahavi, der bedeutende israelische Naturwissenschaftler, behauptete 1973, daß die Schlafstelle ein "Informationszentrum" sei. Zwischen 1988 und 1990 versuchten John und Colleen Marzluff vom Sustainable Ecosystems Institute in Meridian, Idaho, und Bernd Heinrich von der University of Vermont, diesen Vorschlag zu überprüfen. Sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf Raben (Corvus corax), die in den Pinienwäldern von Maine leben. Sie gingen so vor, daß sie wilde Raben fingen und diese Aasfresser solange einsperrten, bis ihr Wissen über Nahrungsorte vollständig veraltet war. Dann legten die Experimentatoren einen frischen Kadaver - die beliebteste, kalt angerichtete Mahlzeit der Raben - an einen zuvor ungewöhnlichen Ort, weihten die Vögel in dessen Koordinaten ein, indem sie ihnen den Fleischklumpen bei Sonnenuntergang zeigten, und ließen die neu aufgeklärten Raben dann frei. Am nächsten Tag erschien nur einer der 26 in das Geheimnis eingeweihten Vögel - und führte 30 Raben von einem über eine Meile entfernten Schlafplatz an. Während der nächsten zwei Tage kamen weitere zwei der experimentell isolierten Raben zum Schmaus am Kadaver. Beide hatten eine Horde von Schlafplatzkollegen im Schlepptau.
Daraus und aus vielen anderen Experimenten und Beobachtungen schlossen die drei Wissenschaftler, daß "die Schlafplätze von Raben mobile Informationszentren" sind, an denen die Vögel mit unbekannten Mitteln Daten darüber weitergeben, wo saftige Kadaver gefunden werden können, und dann dem am Besten Bescheid wissenden Vogel am nächsten Tag folgen, wenn der Schwarm los fliegt. Zusätzlich teilen Raben ihre Informationen weit entfernten anderen mit, indem sie ein "soziales Auffliegmuster" bilden, das hungrige Artgenossen, die über keinen Hinweis auf Nahrung verfügen, im Umkreis bis zu 30 Meilen anziehen kann.
Zahavi hatte also Recht gehabt. Schlafplätze, zumindest solche von Raben, sind kollektive Datenprozessoren. Überdies sind sie Bestandteil eines lokalen Netzwerks, in dem Daten von Fremden zum Nutzen aller verbunden werden.
Irgendwann in der Zeit zwischen 145 Millionen Jahren v. Chr., als der Archäopterix, das erste gefiederte Reptil, entstand, und 120 Millionen Jahren, als die ersten Vögel auftauchten, ging das Nachahmungslernen bei Wirbeltieren von einer seriellen zu einer parallelen Vernetzung über und ließ eine soziale Gruppe zu einer lernenden Maschine werden. Bei den grasenden und jagenden Dinosaurieren gab es offensichtlich bereits den Mechanismus für massenhaftes Lernen und kollektive Anpassung. Der Paläontologe Robert Bakker vermutet, daß die Herde es den pflanzenfressenden Dinosauriern ermöglichte, den Input aus ihren Augen, Ohren und Nüstern zusammenzubringen und so eine sorgsam ausgerichtete Phalanx zur Verteidigung aufzubauen. Die fleischfressenden Dinosaurier waren in ihrem Gebrauch der Vernetzung sogar noch geschickter. Bakker meint, daß sie, wie heute Löwen, in einer Gruppe zusammenarbeiteten, um ausgefeilte Angriffsstrategien auszuführen. Ein Utahraptor könnte einen Lockvogel gespielt haben, um die Aufmerksamkeit der Brontosaurusherde abzulenken. In der Zwischenzeit würden die Jägergenossen das Opfer umzingeln und es von hinten angreifen. Aber wie entstanden gemeinsame Lernmaschinen bei den Königen und Königginen der Jurassic-Zeit?
Um die Anatomie des globalen Gehirn zu verstehen, wie es sich noch immer weiter entwickelt, müssen wir einen Umweg in die Theorie unternehmen. Ganz besonders müssen wir unseren Weg zu den komplexen adaptiven Systemen freischlagen. Später werden wir wieder auf die Theorie ausweichen und ein neues Modell kosmischer Grundlagen vorschlagen. Aber jedes Modell zu seiner Zeit.
Die Erkenntnisse über adaptive Systeme, die ich Ihnen anbiete, stammen NICHT vom Santa Fe Institute, dem Mekka der Komplexität. Und im Unterschied zu anderen Theorien über diesen Gegenstand sind ihre Grundlagen nicht Computersimulationen, sondern das Ergebnis einer 29 Jahre dauernden Feldarbeit in der Beobachtung von realen Dingen - von sozialen Netzen in Aktion. Die Einsichten der Systemmodellierer aus Santa Fe wie John Holland haben mir bei diesem Unternehmen sehr geholfen. Aber die Prinzipien, die ich formulieren will, stammen aus einer grundlegenderen Methode, die Darwin einsetzte: zuallererst in die Natur gehen, Berichte von anderen Menschen an der empirischen Front sammeln und dann große Datenmengen durch zahlreiche Siebe laufen lassen, um die Goldstücke herauszufiltern.
Die Komponenten der kollektiven Lernmaschine
Das Ergebnis ist eine fünfteilige Zergliederung der kollektiven Lernmaschine. Hier ist das Quintett der wesentlichen Komponenten: 1) Konformitätsstärker, 2) Diversitätsgeneratoren, 3) Nutzensortierer, 4) Ressourcenschalter und 5) Kämpfe in der Gruppe.
- 1) Konformitätsverstärker zwingen Gruppenmitglieder hinreichend Ähnlichkeit auf, um der sozialen Struktur Kohärenz, relative Dauer und die Fähigkeit zu verleihen, integrierte Projekte im großen Maßstab mit vielen Beteiligten auszuführen. Bei Menschen führen Konformitätsverstärker unter anderem zu einer kollektiven Wahrnehmung, zu einer sozial konstruierten Sicht der Wirklichkeit, die sowohl die Gehirnentwicklung in der Kindheit als auch die Verarbeitung der sensorischen Daten beim Erwachsenen beeinflußt und eine Weltanschauung erzeugt, die viele der Merkmale einer gemeinsamen Halluzination zeigt.
- 2) Diversitätsgeneratoren bringen Variation hervor. Jedes Individuum stellt im gemeinsamen Geist eine Hypothese dar. Für die Flexibilität der Gruppe ist es wichtig, daß sie zahlreiche Ausweichpositionen in Form von hinreichend unterschiedlichen Mitgliedern besitzt, um über Ansätze zu verfügen, die vielleicht heute nicht notwendig sind, aber morgen lebenswichtig sein könnten. Das kann man gut bei der Funktionsweise des Immunsystems, eine der hervorragendsten Lernmaschinen der Natur, sehen. Das Immunsystem enthält 10 hoch 7 bis 10 hoch 8 unterschiedliche Antikörper. Jeder von ihnen ist ein eigener Mutmaßungsmechanismus über die Natur eines möglichen Eindringlings. Die kompliziertesten Dimensionen nehmen Diversitätsgeneratoren jedoch bei Menschen an.
- 3) Nutzensortierer sind Systeme, die Individuen mustern und jene bevorzugen, deren Beiträge mit der größten Wahrscheinlichkeit von Nutzen sind. Diese gnadenlosen Bewerter sortieren diejenigen aus, die falsche Vermutungen im biologischen, psychologischen und perzeptuellen Körper personifizieren. Manche Nutzensortierer sind den Individuen äußerlich, aber eine überraschende Anzahl arbeitet intern, d.h. es sind unwillkürliche Komponenten der Physiologie eines Lebewesens.
- 4) Ein weiterer grundlegender Bestandteil einer kollektiven Lernmaschine sind die Ressourcenschalter. Erfolgreiche Lernmaschinen schieben den Individuen große Vorzüge zu, die ein Kontrollvermögen über ihre aktuelle soziale und externe Umwelt zeigen. Dieselben Lernmaschinen weisen Individuen, deren Begabungen fremd zu sein scheinen, eine Rolle zu, die mit einem Zustand relativer Entbehrung einhergeht. Christus erfaßte das Wesen dieses Algorithmus, als er beobachtete: "Wer hat, dem soll gegeben werden; wer nicht hat, dem soll auch das, was er besitzt, genommen werden."
- 5) Und zum guten Schluß gibt es noch die Kämpfe in der Gruppe, die jedes kollektive Gebilde, jedes Gruppengehirn dazu zwingen, ständig frische Innovationen im Dienst des Überlebens auszubrüten.
Um zu verstehen, wie diese fünf Prinzipien uns alle betreffen, mag es hilfreich sein, die Leistungen eines Gruppengehirns bei einem Organismus noch einmal zu untersuchen, von dem man denkt, er besitze überhaupt keine Intelligenz: bei unserem alten Freund, dem Bakterium.
Das bakterielle Gruppengehirn
In den späten 80er Jahren gerieten zwei Wissenschaftler, denen wir schon oft begegnet sind, der Physiker Eshel Ben-Jacob von der University of Tel Aviv und James Shapiro von der University of Chicago, ins Staunen. Die Bakterien, die man für Einzelgänger hielt, lebten in Wirklichkeit in Kolonien zusammen, deren Design weiter ausgearbeitet wurde, wenn sie sich vergrößerten. Manche ordneten sich in Ringen an. Andere bildeten schlangenförmige symmetrische Spuren, wie sie auch von grafischen Darstellungen fraktaler Gleichungen erzeugten wurden.
Ben-Jacob verabschiedete sich von der normalen Physik und verbrachte fünf Jahre mit dem Studium des Bacillus subtilis. Inzwischen konzentrierte sich Shapiro auf solche Organismen wie E. coli und Salmonellen. Anders wie die ihm vorhergegangenen traditionellen Biologen wendete Ben-Jacob ein ungewöhnliches Instrument auf seine Daten an: die Erkenntnisse, die er aus der Mathematik der Wissenschaft der Materie gewonnen hatte. Neue Entwicklungen in diesem Bereich legten nahe, daß die von den Bakterien geformten perfekten Muster das Ergebnis derselben Prozesse sein könnte, die auch Muster im Wasser, in Kristallen, in der Erde oder in Felsen erzeugen. Der israelische Physiker glaubt, daß dies falsch sei, und machte sich daran, die Produkte "azoischer" (nicht-lebendiger) Prozesse von denen zu unterscheiden, die er als Ergebnis der Hyperaktivität von Mikroben ansah.
In der Zwischenzeit tauchte in den Arbeiten der Mikrobiologen ein weiteres Geheimnis auf. Der gewöhnliche Neo-Darwinismus behauptete, daß Bakterien von einer Innovation zur anderen durch zufällige Mutation stolperten. Aber eine wachsende Zahl von Beweisen häufte sich an, die darauf hinwiesen, daß sich bakterielle Mutationen nicht gänzlich zufällig ereigneten. Nahezu jeden Monat ließen neue Untersuchungen vermuten, daß diese Mutationen in Wirklichkeit "maßgeschneiderte" genetische Veränderungen sind, um momentane Notlagen zu bestehen.
Ben-Jacob bestätigte, was er schon lange vermutet hatte. Weitaus mehr als das Wirken der Prinzipien, die unbelebte Materie zu Mustern formen, ging in den Petrischalen vor. Unabhängige Untersuchungen von Shapiro und Ben-Jacob enthüllten eine Überraschung, die eine Antwort auf das Puzzle der scheinbar zweckgerichteten Veränderungen bei den Bakterien darstellte und nun drohte, seit langem etablierte Evolutionsmodelle umzustoßen. Das von jedem Bakterium mitgeführte Genpaket ist nicht nur ein bloßer Träger von Bauplänen, sondern es arbeitete wie ein Computer. Überdies schien das Genbündel etwas leisten zu können, was nicht einmal Computer können: "Das Genom führt Berechnungen aus", sagt Ben-Jacob, "und verändert sich entsprechend des Ergebnisses." Anders als eine Menge von Computerchips paßt sich das Genom den ungewohnten Problemen an, indem es sich selbst neu programmiert.
Bei diesem Schluß angekommen, blieb ein Rätsel übrig. Gödels Theorem impliziert, daß ein Computer keinen anderen Computer mit einer höheren Rechenkapazität als er selbst bauen kann. Wie begegnet also die zentrale Recheneinheit eines einzelnen Bakteriums einem großen Unglück, einer überwältigenden Naturkatastrophe, die die alleinigen Rechenkapazitäten des Bakteriums ganz in den Schatten stellt? Die Antwort, so die Hypothese Ben-Jacobs, liegt in der Vernetzung: in der Verknüpfung der vielen Genom-PCs zu etwas, das selbst den als Supercomputer bezeichneten massiv parallel verteilten Prozessor übertrifft. Ein Supercomputer ist nur schneller als seine weniger perfekten Cousins, aber er überschreitet die meisten der grundlegenden Beschränkungen der kleineren Maschinen nicht. In ihrem Kern sind beide Computer lediglich sorgfältige Befehlswiederholer. Das kreative Netz aber der Bazillen kann, anders als eine Maschine, eine neue Befehlsfolge erfinden, mit der es eine unvertraute Herausforderung bezwingen kann.
Ben-Jacob hat daraufhin Tausende von Bakterienkolonien analysiert, um herauszufinden, ob seine Hypothese vom kreativen Netzwerk wahr ist und was, wenn diese zutrifft, den kollektiven Informationsprozessor arbeiten läßt. Einige Elemente seiner Schlußfolgerung haben wir bereits in den vorangegangenen Kapiteln kennengelernt: Bakterien stehen in dauerhaftem Kontakt zueinander; sie kommunizieren über eine große Menge von Mitteln; sie bewerten die Beschränkungen und Möglichkeiten ihrer Umgebung und übermitteln einander die Daten; schließlich ziehen sie Summe durch eine gemeinsam erarbeitete Entscheidung. Kurz, Bakterien führen viele der grundlegenden Aktivitäten aus, die wir mit Menschen assoziieren.
Im Folgenden stelle ich die Arbeit von Ben-Jacob dar, wie sie aus der Perspektive der fünf Prinzipien einer sozialen Lernmaschine erscheint:
1) Bakterienkolonien verwenden den grundlegendsten Konformitätsverstärker: das Genom, das die Formenvielfalt und die Handlungsmethoden der Individuen einer Kolonie begrenzt. Die entstehende Quasi-Einförmigkeit ermöglicht es jedem Mitglied der Gemeinschaft, eine gemeinsame Sprachmenge zu "verstehen".
2) Kolonien des Bacillus subtilis verwenden eine Vielzahl von Diversitätsgeneratoren. Bakterielle Klone (genetisch identische Kinder derselben Mutter) können, wie Ben-Jacob sagt, auf komplizierte Weise variieren. Welche Form jedes einzelne annimmt, hängt von den chemischen Signalen ab, die es aus der Herde um es herum aufnimmt. Diese Hinweise aktivieren oder deaktivieren einzelne Gene, formen das Erscheinungsbild eines Bakteriums und ersetzen dessen altes Handbuch der Verhaltensregeln. In den besten Zeiten, wenn es reichlich Nahrung gibt, ballt sich die Kolonie zum Festschmaus zusammen. Unterschiedliche Freßgelüste und Verdauungskapazitäten sind für das Überleben einer schlemmenden Gruppe entscheidend. Die Bakterien, die vor allem mit der Erschließung der neuen Nahrungsquelle beschäftigt sind, erzeugen ein giftiges Nebenprodukt: bakterielle Ausscheidungen, das Äquivalent von Kot und Urin. Andere Bakterien nehmen einen völlig anderen metabolischen Modus an. Für sie sind die Exkremente Kaviar. Indem sie genußvoll den toxischen Abfall verspeisen, bewahren sie die Kolonie davor, sich selbst zu töten.
Weitere Diversitätsgeneratoren schalten sich ein, wenn der Nahrungsüberfluß einer Kolonie sich dem Ende zuneigt. Wir haben bereits einige bei den 3,5 Milliarden alten Stromatolithen an der Arbeit gesehen. Wenn die Hungerszeit naht, senden einzelne Bakterien ein chemisches Signal aus, das sie sozial abstoßend macht, einen "Körpergeruch", der "Ausschwärmen, Fliehen, Erkunden" mitteilt. Das stachelt Gruppen von ungefähr 10000 Zellen dazu an, als Pioniermannschaften zu agieren und in einer Kolonne auszuschwärmen, die sich für das menschliche Auge in den Formen entfaltet, die Ben-Jacobs Aufmerksamkeit zuerst erregte: in konzentrischen Kreisen, in dicken Fingern, die von einem Kern ausgehen, oder in einem als fraktales Muster sich wachsenden Kreis. In der Zwischenzeit bilden bei Beginn des Gangs nach außen offensichtlich andere Gruppen Wachen und teilen die Funde der Forscher dem Zentrum mit.
3. Zu diesem Zeitpunkt setzen Pioniergruppen (technisch "Zufallsgänger" genannt) das dritte Prinzip eines komplexen adaptiven Systems ein: die Nutzensortierer einer Kolonie. Die Erkundungsteams, die auf nur geringe Nahrungsquellen stoßen, besitzen einen internen Mechanismus, der das bakterielle Äquivalent dessen darstellt, was der britische Theoretiker Michael Waller bei Menschen einen "Vergleichsmechanismus" genannt hat. Dieser Maßstab legt fest, daß die Ausreiter durch ein ödes und gefährliches Gebiet gereist sind. Ihre Mission ist, kurz gesagt, gescheitert. Die Unglücklichen versenden das altruistische Abstoßungsmittel, das andere der Gruppe sie vermeiden und in Isolation verhungern läßt.
Im Gegensatz dazu schalten Entdeckungsreisende, die auf eine Schatzkammer an Freßbarem stoßen, ihre "Vergleichsmechanismen" in die entgegengesetzte Richtung um. Sie verbreiten ein Anziehungsmittel, das sie zu den Hauptpersonen der Party werden läßt.
4. Jetzt betritt das vierte Prinzip des komplexen adaptiven Systems die Petrischale: die Ressourcenschalter. Wer in der Wüste gelandet ist, ist der Nährstoffe, die es an ihrem Ort nicht gibt, der Begleitung und, was aus der Perspektive des Gruppengehirns am wichtigsten ist, all dem beraubt, was man am besten als Popularität bezeichnen sollte. Wer inzwischen ein überfließendes Büfett gefunden hat, frißt seinen Teil und verfügt über die Aufmerksamkeit und den Schutz einer wachsenden Menge. Sie bilden sich zu Führern um, die den Gruppengeist steuern.
Wenn es jedoch wirklich schlimm werden sollte und selbst die eifrigsten Sucher bestätigen, daß es in der Nähe keine Nahrung gibt, wird möglicherweise ein anderer Diversitätsgenerator, der erstaunlichste von allen, entstehen, um der Herausforderung entgegenzutreten. Das ist der Mechanismus, den James Shapiro den "Geningenieur" nennt. Lassen wir Ben-Jacob etwas wiederholen, was wir bereits erwähnt haben: "Die Zelle führt einen ganzen Werkzeugkasten zur genetischen Selbstrekonstruktion mit sich: Plasmide, Phagen, Transposone und vieles andere, das wir hier nicht aufzählen können ... Dieselben Werkzeuge also, die auch in einem Laboratorium zur Genmanipulation eingesetzt werden." Eine mikroskopische Forschungs- und Entwicklungsabteilung macht sich daran, den eigenen Genstrang umzubauen.
Das läßt die Frage entstehen, ob das Genom nur präfabrizierte Teile auftischt, die in der Vergangenheit funktioniert haben, oder ob es zu wirklicher Innovation fähig ist. An diesem Punkt dachte sich Ben-Jacob seine Tests für die Klugheit der Bakterien aus. Er steckte die armen Lebewesen in alptraumartige Umwelten, in denen sie niemals zuvor gelebt hatten. Wenn die Mikrobengruppe nur alte Programme recyclen könnte, dann würde sie sterben. Aber genau das geschah nicht. Die Bakterien schafften es durch Zusammenführung der Daten, durch Experimentieren und Testen neuer Strategien, sich auf radikal neue Weisen umzubauen. Hier war nicht die traditionelle Zufallsmutation am Werk, sondern es handelte sich um eine gesteuerte, einfallsreiche Arbeit. Dank der Synergie der Konformitätsverstärker, der Diversitätsgeneratoren, der Nutzensortierer und der Ressourcenschalter war die Kolonie zu etwas imstande, was viele Menschen niemals erreichen, nämlich kreativ zu sein.
5. In einer natürlichen Umgebung würde vermutlich auch das fünfte Prinzip eines komplexen adaptiven Systems ins Spiel kommen: der Kampf in der Gruppe. Leider hat Ben-Jacob bis vor kurzem jede Kolonie isoliert in ihrer Petrischale untersucht, die durch Plastikwände von konkurrierenden Gruppen abgeschlossen ist. Aber man stelle sich vor, was geschehen könnte, wenn die Nährlösung für den Bacillus subtilis ausgeht und die Spore einer anderen Bakterienart hineingerät, für die die ungenießbare Ebene, an der die Subtilis gestrandet sind, nahrhafter als ein Sauerbraten ist. Das Wettrennen würde dann weitergehen. Während der Bacillus subtilis sein Genom überarbeitet, um einen Unterhalt aus dem (für es) jetzt nutzlosen Abfall zu gewinnen, würde der Neuankömmling sich schnellstens reproduzieren, um einen Vorteil aus dem Umstand zu schlagen, daß die für den Subtilis ungenießbaren fetten Brocken sein Tagesgericht sind.
Wenn die zwei Gruppen um die Macht in der Petrischale kämpfen, entstünde dann aus dem Kampf eine Innovation, die das Schicksal einer Art für Äonen bereichert? Entstünde eine Innovation, die die Umwelt mit Überfluß versorgt, die planetare Biomasse komplexer macht und diesen einst nutzlosen Planeten in Nahrung für Leben zu verwandeln?
Die soziale Maschinerie
Wir haben diese Prinzipien bei Langusten, Vögeln und Bienen wirken sehen. Der Rabe, der es schafft, einen Kadaver ausfindig zu machen, gewinnt Nachfolger und eine magnetische Kraft. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß er auch die Privilegien der hierarchischen Rangfolge gewinnt: die erste Wahl bei der Paarung, das beste Futter und die bequemsten Übernachtungsgelegenheiten. Die Gene, die ihn zu einem Raben wie seine Brüder machen, sind Konformitätsverstärker, ebenso wie die Zugriemen des Nachahmungslernens, die ihn dazu bringen, unterwürfig mit dem Schwarm zu fliegen. Die einzelgängerische Natur, die ihn vor diesem Antrieb bocken läßt, ist eine Form des Diversitätsgenerators, der es ihm ermöglicht, das von seinen Kumpanen nicht erforschte Gelände abzusuchen und so neue Funde zu machen.
Wenn seine Suche erfolgreich ist, drücken Nutzensortierer auf die Hormonschalter des Raben und geben ihm intern erzeugte Stärke und Mut. Die Biologie belohnt ihn mit einer folgenreichen Haltung. Sich wie ein Hahn aufzuführen, ist das Äquivalent zum chemischen Attraktor einer Bakterie. Dasselbe trifft für unzählige Arten zu. Die Stärke der chemotaktischen Anziehungskraft, die eine Bakterie erzeugen kann, bestimmt seinen Führungsanspruch. Die Begeisterung einer Kundschafterbiene, wenn sie einen neuen Fund anpreist, legt die Zahl der Nachfolger fest, die sie anziehen wird. Das königliche Herumstolzieren eines Gewinners bei den stacheligen Hummern hilft ihm gewiß dabei, Anhänger zu gewinnen, die ihm auf seinem Zug aus der eisigen Kälte folgen. Jedes dieser Tiere wurde intern durch Erfolg stark aufgeladen. Und diese endogene Verbesserung erzeugt die ganze Differenz in der Welt.
Inzwischen betätigt die soziale Maschinerie außerhalb der physiologischen Struktur des neuen Führers die Ressourcenschalter und setzt mit unerbittlicher Schärfe seine Vorteile bei der Ernährung, der Reproduktion und dem Ansehen durch. Während die Hormone des Siegers, um es ganz einfach auszudrücken, ihm einen Auftrieb geben, stufen andere innere Chemikalien seine früheren Rivalen herunter und zwingen sie dazu, ihm mit Hochachtung zu begegnen, indem sie die Belohnung seitens der Gruppe in seine Richtung lenken.
Schließlich vergrößern Kämpfe in der Gruppe die Wahrscheinlichkeit, daß die Gruppen, die beim Gebrauch der vorangegangenen vier Mechanismen herumstümpern, auch nicht überleben können. Wenn ein Tier eine fehlerhafte Physiologie zu einem falschen Führer gezogen hat, dann wird bei seinem Ableben vermutlich kein genetisches oder memetisches Erbe hinterlassen werden.
Daher bringen Raben ihre Fundstellen zusammen und folgen jenen, die in der Vergangenheit gute Leistungen beim Finden von fleischlicher Nahrung gezeigt haben und organisatorisch schlau waren, was der Gruppe zugute gekommen ist. Rabenschwärme teilen sogar Nachrichten über ihre reichhaltigsten Schätze mit Verbänden, die Kilometer entfernt sind, als ob sie wüßten, daß sie durch eine solche vernetzte Großzügigkeit die Hungersnöte überleben können, die andauernd jene niederstrecken, die egoistisch ihre Informationen hüten.
Das sind einige der Geheimnisse des globalen Gehirns, das eben zur Welt kommt. Für Robert Bakker war dieses Quintett an Prinzipien bei den Velociraptoren und Astrodons vor 120 Millionen Jahren am Werk. Neue Funde von frühen Vögeln (Confuciusornis) aus demselben Zeitalter weisen auch darauf hin, daß die Tiere mit den neuartigen Federn die fünf Prinzipien eines komplexen adaptiven Systems für ihr Gruppenverhalten benutzt haben könnten. Und wir werden bald sehen, wie das Pentagramm der Lernmaschine seine Umarmung auf die Menschen erweitert.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer