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Von wegen: "Spatzenhirn"

Kolkrabe. Bild: NPS.gov

Dass Vögel erstaunliche Intelligenzleistungen vollbringen, verdanken sie einem effizient konstruierten Gehirn

Diogenes war kein Biologe, aber er hatte einen Blick für das Wesentliche. Als Platon definierte, der Mensch sei ein "Zweibeiner ohne Federn", rupfte er einen Hahn und präsentierte ihn als "Platons Menschen" (woraufhin Platon seinerseits einen beachtlichen Blick für biologische Merkmale bewies und ergänzte: "mit flachen Nägeln" - solche kennzeichnen tatsächlich die Primaten).

Einig scheinen sich die beiden Streithähne immerhin darin gewesen zu sein, dass man die Unterschiede zwischen Menschen und Vögeln vorwiegend in den hornigen Anhängen der Haut zu suchen habe. Und damit waren sie, vor ungefähr 2400 Jahren, bemerkenswert modern.

Denn während einerseits Primatenforscher wie Michael Tomasello laufend ungeahnte Lücken in den geistigen Fähigkeiten unserer nächsten äffischen Verwandten aufdecken, nutzen die geflügelten Zweibeiner ebenso regelmäßig die aufkommende peinliche Stille, um sich mit ihren Fähigkeiten zu profilieren. Zum Beispiel das Zeigen: Es gilt als grundlegende Fähigkeit für die Entstehung von Sprache und einer "Theory of Mind", also einer Vorstellung davon, dass und was ein Anderer denkt. Menschenaffen zeigen nie etwas, außer allenfalls die Stelle auf ihrem Rücken, an der sie gekratzt werden wollen. Wenn sie etwas wollen, holen sie es sich [1]. Wenn ihnen jemand etwas zeigt, trauen sie ihm nicht [2].

Elstern hingegen - unter Menschen nicht eben als vertrauenswürdig bekannt - zeigen einander einen Feind [3]. Raben zeigen einander Nistmaterial [4]. Der bemerkenswerte Graupapagei Alex war sogar imstande, die Farbe eines Gegenstandes zu nennen, den seine Trainerin Irene Pepperberg ihm zeigte.

Das bedeutet mitnichten, dass Menschenaffen dumm wären. Sie verstehen die Zeigegeste vermutlich, aber sie trauen ihr nicht. Dass es so etwas wie selbstlose Kooperation geben könnte, ist ihnen ein fremder Gedanke. Sie sind, wenn es um die physische Welt geht, so intelligent wie zweieinhalbjährige Kinder - aber in der sozialen Welt schlagen sie sich nur halb so gut [5]. Und mithin, wie es scheint, auch schlechter als Vögel. Wenn sie beobachten, dass ein Artgenosse eine Aufgabe auf andere Weise löst, als sie selbst entdeckt haben, dann ist das Menschenaffen schnurzegal: Sie bleiben stur bei ihren Methoden. Meisen und Menschenkinder hingegen schwenken auf die beobachtete Lösung um. Sie folgen anscheinend einem inneren Antrieb zur sozialen Konformität (Gleichgeschaltete Meisen [6]).

Doch nicht nur auf dem sozialen Gebiet sind die Federtiere überraschend flink. Wenn man auf YouTube nach "intelligent bird", "smart bird", "clever bird" oder ähnlichem sucht, kann man Vögel sehen, die Brotkrumen aufs Wasser streuen, um Fische zu ködern, Krähen, die spontan einen Draht zum Haken biegen, um einen Eimer zu angeln (dies wurde auch wissenschaftlich publiziert [7]), Dohlen, die Zeigegesten vertrauen, und sogar eine Nebelkrähe, die einen Spielzeugreifen benutzt, um auf einem beschneiten Dach Ski zu fahren.

Wissenschaftliche Publikationen zeigten auch, dass Rabenvögel so gut wie Primaten ihre Impulse kontrollieren können [8], Hawaiianische Krähen sich in die illustre Gesellschaft der Werkzeugnutzer einreihen [9], und sogar Tauben Zeichenfolgen orthographisch verarbeiten [10]. Man fragt sich, wie Zoologen noch vor wenigen Jahrzehnten der Ansicht sein konnten, Vögel wären kognitiv unflexible Reflexmaschinen.

Dicht gepackt: Vogelgehirne sind anders organisiert

Ein Grund - neben menschlicher Hybris - liegt darin, dass ihr Gehirn auf den ersten Blick diesen Eindruck erweckt. Es sieht im Ganzen so aus wie derjenige Teil des Säugetiergehirns, mit dem wir Bewegungsroutinen steuern. Daher ging man lange Zeit davon aus, dass den Vögeln ein Gegenstück zu unserer Großhirnrinde fehle, und damit auch die kognitiven Leistungen, die Säugetiere mit der Hirnrinde vollbringen.

Bei Säugetieren liegen im Inneren der Großhirnhälften die sogenannten Basalganglien - dicht gepackte Neuronenklumpen, die von der Hirnrinde die Information über motorische Programme bekommen, aus dem Mittelhirn die Information über den Erfolg dieser Bewegungen, und die beides zu motorischem Lernen verrechnen. Für ein Leben abseits von Couch und Schreibtisch sind das zwar höchst wichtige Operationen, aber "Intelligenz" bringt man trotzdem eher mit der Hirnrinde in Verbindung, wenn sie es erlaubt, die Handlung des "Troubadour" zu verstehen. Sie ist der Bereich, in dem Repräsentationen der Umwelt gespeichert und organisiert und daraus Regeln abgeleitet werden. Daher muss die Hirnrinde wachsen, um die Welt umfassender begreifen zu können. Dicker werden aber kann sie kaum - die Zahl ihrer Schichten ist ziemlich festgelegt -, daher wächst sie in die Breite, und das führt in einem begrenzen Schädel zur Faltung.

Ganz anders bei Vögeln. Sie haben keine geschichtete Hirnrinde, und mithin auch keine Faltung. Im Querschnitt ist ihr Gehirn eine Zusammenballung verschiedener Neuronenklumpen, die an unsere Basalganglien erinnert. Dass die Entsprechung zu unseren Basalganglien auch bei den Vögeln nur einen kleinen Teil des Gehirns ausmacht, ist erst seit wenigen Jahrzehnten bekannt. Der größte Teil entspricht vermutlich unserem Großhirn. Aber weil er so durch und durch anders organisiert ist, ist das schwer zu erkennen, geschweige denn zu beweisen.

Erst vor einigen Jahren wurde gezeigt, dass ein grundlegendes Verschaltungsprinzip zwischen Typen von Nervenzellen bei Vögeln und Säugetieren identisch ist, obwohl die Nervenzellen anders verteilt sind. Die sechs Schichten der Säuger-Hirnrinde lassen sich durch unterschiedliche molekulare Marker kennzeichnen, und sie sind unterschiedlich verknüpft.

Schicht 4 ist die Eingangsschicht; sie bekommt sensorischen Input vom tiefer liegenden Thalamus, der die Eingänge der Sinnesorgane verschaltet. Schicht 5 hingegen ist die Ausgangsschicht; von hier steigen Leitungsbahnen in den Hirnstamm ab. In einer Studie [11] wurde gezeigt, dass mehrere Gene, die bei verschiedenen Säugetieren spezifisch in Schicht 4 exprimiert werden, auch bei Vögeln in den Eingangskernen abgelesen werden - und Schicht 5-typische Gene in den Ausgangskernen.

Klumpen, nicht Schichten: Nervenzellen mit denselben molekularen Markern und denselben Funktionen finden sich bei Säugern und Vögeln an verschiedenen Stellen.

Die grundlegende Großhirnarchitektur muss also evolutionär schon vor der Trennung von Säugern und Vögeln festgestanden haben (tatsächlich fand die Studie dieselben Neuronentypen auch in der Hirnrinde von Schildkröten, wieder anders sortiert). Vögel haben die Basismodule dann aber ganz anders zusammengebaut.

Der Selektionsdruck dabei könnte einfach die Größe gewesen sein. Um in die Lüfte abheben zu können, müssen Vögel auf Leichtbau setzen. Um möglichst viele Nervenzellen schleppen zu können, müssen diese daher möglichst dicht gepackt werden. Wie das obige Bild andeutet, sind Vögel dabei rund doppelt so effizient wie Säugetiere: Wie gerade erst gezeigt wurde, bringen Vögel in derselben Hirnmasse gut doppelt so viele Neuronen unter wie Säugetiere [12], und davon einen größeren Anteil im Großhirn.

Sie spielen damit nicht nur kognitiv, sondern auch neuronal in derselben Liga wie Primaten: Raben haben im Großhirn mehr Nervenzellen als Kapuzineraffen, und der Gelbbrustara mehr als ein Makake. Allerdings gibt es auch unter den Vögeln große Unterschiede: Während Singvögel (zu denen auch die Rabenvögel gehören) und Papageien mit ihrer Gehirnleistung glänzen, sind etwa Emu und Bankivahuhn (die Wildform des Haushuhns) eher schlicht gestrickt: Letzteres wiegt gut 50-mal so viel wie eine Kohlmeise, und hat doch nur ebenso viele Nervenzellen im Kopf.

Die geballte Gehirnstruktur von Vögeln bietet auch Vorteile für die Effizienz. Die Nervenzelldichte ist bei Säugetieren nicht zuletzt deswegen so gering, weil sie viel Raum - nämlich die gesamte sogenannte weiße Substanz - für die Verbindungen zwischen Gehirngebieten aufwenden müssen. Und die wiederum brauchen deswegen so viel Platz, weil sie entlang der flächigen Hirnrinde oder, schlimmer noch, in die Windungen hinein verlaufen.

Windungen erhöhen die Oberfläche, aber auch die Abstände. Dicht gepackte Kerngebiete sind effizienter.

Die dichten Windungen von hochentwickelten Säugetiergehirnen sind zwar wunderbar dazu geeignet, die rechenaktive Gesamtoberfläche der Hirnrinde zu vergrößern. Sie erhöhen aber auch den Abstand zwischen ihren Gebieten. Im Extremfall können sich, wie in der Abbildung, zwei Gebiete beinahe berühren, aber ihre Verbindung muss den langen Umweg um den Boden der Furche nehmen. Das macht die Kommunikation langsam; um sie wiederum zu beschleunigen, müssen die Leitungen umso dicker in isolierende Fettschichten eingepackt werden.

Vögel mit ihren modular nebeneinander angeordneten Kerngebieten haben das effizienter gelöst. Jede Verbindung von einer Region zur anderen kann immer den geraden Weg nehmen. Die Bahnen sind kürzer, damit auch dünner. Auch so kann mehr Rechenleistung auf kleinerem Raum konzentriert werden.

Wer weiß, wo Vögel heute stünden - bzw. flögen -, wenn sie ihre Vordergliedmaßen nicht zum Fliegen benötigten. So sind sie auf ihren Schnabel angewiesen, wenn sie Werkzeuge gebrauchen wollen. Sonderliche Feinmotorik ist damit nicht möglich; sie können das, was sie mit dem Werkzeug tun, noch nicht einmal dreidimensional sehen. Ohne fortgeschrittenen Werkzeuggebrauch aber ist eine geistige Evolution auf das Niveau des Menschen kaum vorstellbar.

Es ist ebenso spekulativ wie verlockend, in Gedanken die Evolution weiter zu spinnen. Wenn dereinst Nachfahren der Raben oder der Aras die Flugfähigkeit verlieren sollten, und anstelle der Flügel Greiforgane ausbildeten; dann vielleicht auch ihre Befiederung reduzierten; und so letztlich auf zwei Beinen einhergehend mit ihren Händen eine Zivilisation aufbauten - dann hätten wir wirklich Platons Menschen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3464068

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23901779
[2] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1467-7687.2006.00519.x/abstract
[3] http://www.actazool.org/paperdetail.asp?id=11920
[4] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22127056
[5] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17823346
[6] https://heise.de/-3370465
[7] http://science.sciencemag.org/content/297/5583/981.long
[8] http://rsos.royalsocietypublishing.org/content/3/4/160104
[9] http://www.nature.com/nature/journal/v537/n7620/full/nature19103.html
[10] http://www.pnas.org/content/113/40/11272
[11] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23027930
[12] http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27298365