Von wegen Windrad-Wahn
Mehrere Windräder pro Tag will Kanzler Scholz bis 2030 bauen lassen. Die FDP spricht von Luxus-"Geisterstrom". Doch was als generalstabsmäßige Energiewende gepriesen wird, ist tatsächlich eine fatale Windbeutelei. Ein Kommentar.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat vor einiger Zeit verkündet, dass die Bundesregierung bis 2030 plant, pro Tag vier bis fünf neue Windräder an Land aufzustellen.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien scheint damit endlich zur Chefsache vom "Klimakanzler" gemacht worden zu sein. Nach einem Jahr, in dem sich die Ampelregierung fast ausschließlich auf neue LNG-Terminals und Frackinggas aus den USA, Diversifikation der Erdgasimporteure (aus Afrika und autoritären Golfstaaten), den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken und das Abbaggern des Weilers Lützerath im Rheinländischen Kohlerevier durch RWE konzentrierte, könnte nun die Stunde der Energiewende gekommen sein.
Auch Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) geht in die Offensive. Er kündet staatliche Hilfen für die Solar- und Windindustrie an, um die Wende industriepolitisch zu unterstützen – auch in Hinsicht auf das Subventionsprogramm in den USA, den sogenannten Inflation Reduction Act, mit dem u.a. grüne Technologien gefördert werden sollen.
Deutlich über 1.000 Windräder sollen also pro Jahr errichtet werden, das klingt viel. Im letzten Jahr wurden zum Beispiel nur 551 Anlagen mit 2,4 Gigawatt Leistung gebaut.
Die Bildzeitung spricht von der "Hammer-Zahl vom Kanzler". "10.000 neue Windkraftanlagen" werde die Regierung damit bis 2030 "ins Land pflanzen". Habeck würde dabei "per Notverordnung Artenschutz und Bürgerbeteiligung" schleifen. Gegenwind komme aus der FDP: "einseitig, unausgegoren und teuer" heißt es von Bundes-Vize Wolfgang Kubicki.
Lassen wir an dieser Stelle einmal die "Argumente" (sündhaft teurer "Geisterstrom") beiseite, die gegen den Windrad-Ausbau wie in der Vergangenheit, ohne Einordnung und Diskussion, angeführt werden. Wir haben an anderer Stelle deren Substanz oder besser Substanzlosigkeit genauer unter die Lupe genommen.
Doch auch diejenigen, die angesichts der Scholz-Ankündigung nicht reflexartig in Stimmungsmache gegen Windräder verfallen, übersehen, dass der Plan der Ampelregierung einen großen Haken hat: Er reicht hinten und vorn nicht.
Das lässt sich mittels einfacher Rechenoperationen herausfinden. Wenn fünf Windräder an Land mit einer durchschnittlichen Leistung von fünf Megawatt jeden Tag gebaut werden, dann summiert sich das auf neun Gigawatt (GW), die jährlich hinzukommen. Für den Zeitraum einschließlich 2030 kommt man am Ende auf 72 Gigawatt an Zubau.
Heute produzieren 28.000 Windräder onshore bereits eine Gesamtleistung von rund 58 Gigawatt. Man käme also insgesamt auf 130 Gigawatt Ende 2030. Die Bundesregierung peilt offiziell 115 Gigawatt an.
Reicht das aber?
Nehmen wir das Klimaziel der Bundesregierung selbst. Bis 2030 will man 80 Prozent des Bruttostroms aus erneuerbaren Quellen abdecken. Von den dafür offiziell angesetzten 715 Terrawattstunden (TWh) müssten also 572 TWh vor allem durch Wind und Solar erzeugt werden.
Dafür veranschlagt die Regierung eine installierte Leistung für Photovoltaik von 200 GW (oder GW-Peak, was die genormte Leistung im Bereich Erneuerbarer bezeichnet) und für die Windkraft (onshore/offshore zusammen genommen) von 140 GW.
Allein ein Blick auf den gesamten Energiebedarf macht klar, dass damit nicht die notwendige Energiewende vollzogen werden kann. Innerhalb von zwei Jahrzehnten hat Deutschland 13 Prozent seines Energiebedarfs auf Wind und Sonne umgestellt. Der Windkraft-Ausbauplan der Regierung zusammen mit den anvisierten Zuwächsen in der Photovoltaik bedeutet, dass wir in neun Jahren bei 30 Prozent liegen. 70 Prozent werden selbst dann weiter fossil generiert.
Wie passt das mit den 80 Prozent aus Erneuerbaren zusammen? Antwort: Der angenommene Bruttostrombedarf von 715 TWh ist viel zu niedrig angesetzt. Denn er schließt die notwendige Elektrifizierung der bisher fossil versorgten Sektoren nicht ein. Elektroautos, Wärmepumpen, elektrifizierte Industrieprozesse oder grüner Wasserstoff, der auch als Stromspeicher dienen wird, werden in Zukunft benötigt und zugleich den Strombedarf stark in die Höhe treiben.
Es wird voraussichtlich rund die dreifache Menge elektrische Energie benötigt werden, um unseren Endenergiebedarf über alle Sektoren hinweg nicht-fossil zu decken. Der Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. errechnet, dass man diese Menge durch 510 GW Windkraft (onshore und offshore) zusammen mit 650 GW Photovoltaik erzielen kann.
Es handelt sich also um ein Vielfaches der von der Bundesregierung angesetzten Strommenge. Wir brauchen also eher rund 15 bis 20 Windräder pro Tag, nicht vier bis fünf. Dazu eine Solarrevolution.
Rechnen geht vor Schwadronieren
Hinzu kommt, dass 80 Prozent des Bruttostroms bis 2030 für ein 1,5-Grad-Celsius-Ziel nicht reichen wird. Daher fordern Zusammenschlüsse wie der Runde Tisch Erneuerbare Energien, in dem zahlreiche Organisationen und Initiativen mit insgesamt rund einer halben Million Mitglieder:innen vertreten sind, 100 Prozent Erneuerbare bis 2030.
Angesichts des unzureichenden Ausbautempos in Deutschland mahnt der Runde Tisch in einem aktuellen Aufruf – mit Bezug auf eine EU-Notstandsverordnung vom letzten Jahr, die den Rahmen für eine beschleunigte Energiewende setzt – eine Entfesselung der Windenergie an.
Gefordert werden:
- Ausnahmeregelungen für die unbürokratische Genehmigung,
- Streichung der Deckelung von Windenergieleistungen durch Ausschreibungsverfahren,
- Fristverkürzungen,
- Abschaffung von bremsenden Regelungen wie pauschale Abstandsvorgaben,
- typenoffene Baugenehmigungen,
- stärkere Beteiligung der Kommunen an den Einnahmen von Windenergieprojekten und
- Vereinfachung der Direktbelieferung von Anwohner:innen.
97 Organisation und 33 Unternehmen haben sich den Forderungen des Runden Tischs angeschlossen.
Doch anstatt dass Politiker und Medien in Deutschland von der Bundesregierung angesichts ihres unzulänglichen Plans verlangen, schnellstens obendrauf zu satteln – und zwar massiv, gemäß dem Pariser Klimavertrag und den Alarmmeldungen aus aller Welt, die Erdtemperatur nicht über 1,5 bis zwei Grad zu erhöhen, was schon in diesem Jahrzehnt geschehen könnte –, wird die Ankündigung von Scholz als Großtat präsentiert, während einige, darunter der Koalitionspartner FDP, den Plan als teures "Geisterstrom"-Projekt diffamieren.
All das findet statt vor dem Hintergrund einer anhaltenden Debatte über einen vermeintlichen "Windrad-Wahn". Nicht nur versprengte Bürgerinitiativen vor Ort, die zum Teil mit parteipolitischer Unterstützung agieren und nicht selten ein großes Forum in der Öffentlichkeit erhalten, machen mobil. Auch einige Umweltgruppen, Medien und Meinungsmacher befeuern weiter mit Windkraft-Mythen Stimmungsmache gegen Erneuerbare.
So warnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende 2019: "Bis hierher und nicht weiter!" und bangte darum, dass Windräder die "Bewohner in den Wahn" treiben werden. Der Deutschland-Kurier titelte Mitte letzten Jahres: "'Nicht mehr unser Land': Habecks Windrad-Wahn zerstört Deutschland!". Die Welt hatte schon vor Jahren den Ton gesetzt: "Deutsche kämpfen gegen den Windrad-Wahn".
Aber eigentlich war es der Spiegel, der die Kampagne gegen Windräder massenmedial ins Rollen brachte. Das war 2004 mit dem Aufmacher "Der Windmühlenwahn: Vom Traum umweltfreundlicher Energie zur hoch subventionierten Landschaftszerstörung".
Der damalige Chefredakteur Stefan Aust hatte dafür eine Reihe von Autoren in die Spur geschickt, um die Energiewende zu diskreditieren. In der Titelgeschichte "Die große Luftnummer" heißt es damals:
Quer durch die Republik wächst der Widerstand gegen die Verspargelung der Landschaft durch immer mehr Windräder. Ökonomisch macht ein weiterer Ausbau wenig Sinn: Er würde Milliarden an Fördergeldern verschlingen, der Nutzen für die Umwelt wäre gering.
Es werden im Text ausschließlich Windkraftgegner zitiert. Einer von ihnen bezeichnet den Bau von Windrädern als die "schlimmsten Verheerungen seit dem Dreißigjährigen Krieg". Zugleich werden die Potenziale der Windenergie als gering heruntergespielt und die außerordentlichen, wenn auch oft versteckten Kosten von fossilen Energien, ganz zu schweigen von den Klima-, Gesundheits- und Umweltfolgen, ausgeblendet.
Aus heutiger Sicht sind solche Titel in renommierten Zeitschriften zum journalistischen Fremdschämen. Leider geht es heute, wenn auch nicht mehr so tolldreist wie damals, weiter.
- "Wie die Windbranche ihr Schrottproblem lösen will" (Manager Magazin, 7.12.2021)
- "Naturschutz gegen Klimaschutz: Die Schattenseiten der Windenergie" (GEOlino, 2018)
- "Windkraft im Kreuzfeuer der Kritik" (Süddeutsche Zeitung, 2.2.2022)
- "Windkraft in der Kritik: Klimaheilmittel und Krankmacher" (Deutschlandfunk Kultur, 19.4.2018)
- "Sind Windräder und Artenschutz vereinbar?" (ARD Alpha, 27.10.2022)
Natürlich haben Windräder einen industriellen Fußabdruck. Aber warum schießt man sich mit Halbwahrheiten, Verdrehungen und Auslassungen derart auf sie ein?
Windräder sind auch nicht der Untergang der jungfräulichen abendländischen Landschaft und Ruhe. Sie werden Kohlekraftwerke, Pipelines, Verbrennungsmotoren, Kohletagebauen usw. zum Verschwinden bringen. Wer Windräder nicht haben will, sollte sagen, wo er den Strom in Zukunft herbekommen möchte.
Im Kern ist es doch so: Windräder sind Teil der Weltrettung, fossile Infrastrukturen führen ins Verderben. Ansonsten gilt: Dort, wo berechtigte Sorgen vorgebracht werden, sollten sie ernst genommen und in die Planungen von Windrädern einbezogen werden.
Vor allem sollten wir endlich beginnen zu rechnen: Das, was Scholz und Habeck anbieten, ist meilenweit von dem entfernt, was wir tatsächlich in den nächsten Jahren brauchen.
Es steht uns natürlich frei, das weiter zu ignorieren. Es wäre ein historisches, wenn nicht planetares Versagen.
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