Von wegen ein Volk: Die skandalöse Enteignung des Ostens ist weiter tabu

Stahlwerker protestieren vor der Treuhandanstalt in Berlin am 19.12.1990. Bild: Klaus Franke, Bundesarchiv / CC BY-SA 3.0 DE Deed

Daniela Dahn spricht von feindlicher Übernahme. "Verschwörung" heißt es von Kritikern. Über die unangenehme Wahrheit der deutschen Einheitsgeschichte.

Am Dienstag war es wieder so weit. Jeden 3. Oktober im Jahr wird an die deutsche Einheit, an die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands 1990 erinnert. Es ist sicherlich ein positives Datum, neben den vielen unangenehmen und schrecklichen in der deutschen Geschichte.

Feiern ist also durchaus angebracht. Wenn da nicht die Tatsache wäre, dass vielen dabei nicht wirklich zum Feiern zumute ist. Diesmal war es der Aufstieg der rechtsextremen AfD im Osten, der den politischen Feiertagsreden seinen Tribut abknöpfte. Beim Festakt in der Hamburger Elbphilharmonie erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) etwas verschnörkelt: "Auch in herausfordernden Zeiten wie diesen geht es darum, Horizonte zu öffnen."

Aber um Horizonte zu eröffnen, braucht es eine ehrliche Bestandsaufnahme. Ein Rückblick auf das, was geschehen ist und weiter wirkt.

Leider ist es aber so, dass viele, wenn nicht die meisten, die in Deutschland Einfluss und Meinungsmacht haben, davor die Augen verschließen und eine Historie konstruieren, die vom bundesrepublikanischen Westen und den Gewinnern der Einheit erzählt wird.

Die Publizistin Daniela Dahn, einstiges Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs, hat den Mut und die intellektuelle Fähigkeit, eine andere Perspektive einzunehmen. Sie betrachtet viele damalige Forderungen weiter als unerfüllt. Ihre Abrechnung bringt Unangenehmes zutage.

Mancher mag hier stutzen: War nicht nach der Wende im Osten alles grau in grau, drohte nicht einigen Innenstädten der Zusammenbruch? Wer heute dagegen in Ostsee-Kurbädern, im barocken Dresden, in der Messestadt Leipzig oder in der Lausitzperle Görlitz Urlaub macht, über neue Autobahnen in den Harz fährt oder in Weimar die deutsche Klassik bewundert, sieht er nicht statt Abbruch Aufbruch, Verbesserungen, Aufblühen gar?

"Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute" von Daniela Dahn, erschienen bei Rowohlt 2019

Daniela Dahn leugnet in ihrem Buch "Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute", das 2019 erschien, nicht, dass manches besser ist dreißig Jahre nach der Wende (heute sind es bereits 33 Jahre). Sie will aber nicht "hundertmal Gesagtes" wiederholen, sondern "hundertmal Verschwiegenes" zur Kenntnis bringen.

Denn was in großen Teilen der Öffentlichkeit weiter unter den Teppich gekehrt wird, ist, dass die Einheit ein skandalöser Enteignungsakt gewesen ist. Das ist so offensichtlich, dass es fast schon peinlich ist, daran erinnern zu müssen.

Dahn bringt es mit einer Zahl auf den Punkt: 95 Prozent des volkseigenen Wirtschaftsvermögens sind in westliche Hände übergegangen. Sicherlich legal beziehungsweise legalisiert, was nur den alten Spruch bestätigt, dass man die Frösche nicht fragt, wenn man den Sumpf austrocknet.

Die Auswirkungen sind, wie Dahn bilanziert:

Die Zahl der bundesdeutschen Millionäre verdoppelte sich auf über eine Million, während im Osten mit der ersehnten D-Mark die Zahl der Arbeitslosen von null auf vier Millionen stieg. Die Konstrukteure des wirtschaftlichen Desasters haben es laut Experten fertiggebracht, dem Staat, also den Bürgern, für die Kosten dieser Einheit zwei Billionen Euro in Rechnung zu stellen.

Man könnte so weiter machen. Im Schnitt verdient heute ein Vollbeschäftigter monatlich immer noch über 1.000 Euro weniger als im Westen. Das Vermögen ostdeutscher Eltern ist halb so groß wie das der Westeltern. Viele Ostrenten wurden entwertet.

Ganze Landstriche sind heute deindustrialisiert und ohne wirtschaftliche Perspektive. Viele Menschen sind Richtung alte Bundesländer abgewandert. "Die Bevölkerungszahl in Ostdeutschland entspricht heute der von 1905. Vorindustriell", schreibt Dahn.

Die Gebietsverluste für die Ostdeutschen und Gebietsgewinne für Kapitaleigner und Privilegierte aus dem Westen sind dabei nicht Resultat einer alternativlosen Wiedervereinigungspolitik gewesen, unter schwierigen Bedingungen, mit schmerzlichen Einschnitten für alle vollzogen, so die beliebte Sichtweise im Westen. Sie war nicht einmal eine Pannenshow unter Führung von halb- und viertelkompetenten Politikern und Bürokraten.

Wie Dahn an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, war es eine "feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen", planmäßig und überfallartig vollzogen. Die Revolution wurde gegenrevolutionär abgewickelt.

Die Verantwortlichen beschleunigten dabei auf destruktive Weise den Übernahmeprozess, wo sie nur konnten. Die "unsichtbare Hand des Marktes" übernahm die Geschäftsführung in den neu gewonnenen Territorien. Nach dem Motto: The winner takes it all.

Auch hier muss eine Auflistung genügen: Harakiri-Währungsunion, gegen den Rat von westdeutschen Bankern schockartig eingeführt. Gesamtdeutsche Wahlen und Hauruck-Integration der DDR ins BRD-System, angetrieben mit Bankrottgerüchten und dem Versprechen von "blühenden Landschaften".

Treuhand-Privatisierungswalze, die Betriebe im Wert von mehreren Hunderten Milliarden D-Mark planierte. (So wurden aus einem Betriebsbestand, taxiert auf bis zu einer Billion D-Mark, am Ende minus 330 Milliarden D-Mark.) Austausch von ostdeutschen durch westdeutsche Professoren an den Universitäten. Und so weiter.

Immer lief es darauf hinaus, den Interessen von westdeutschen Bankern, Unternehmern, Agrarinvestoren, Managern, Politikern und Kultureliten Vorrang vor den Bedürfnissen der Bürger im Osten einzuräumen. Und als ob das nicht schon genug wäre, wurde den Profitmachern der Weg in den Schnäppchen-Osten noch mit deutschen Steuerzahler-Billionen geebnet. Wobei die "Ossis" mit ihren Solidaritätsbeiträgen ihre eigene Enteignung mitfinanzierten.

Das Augenmerk von Daniela Dahn liegt dabei nicht nur auf der materiellen Enteignung (die schlimm genug ist), sondern auch auf der kulturellen Abwertung und Delegitimierung. Schon kurz nach der Wende machten sich Teile der westdeutschen Meinungselite daran, die DDR sowie ihre Bürger pauschal zu diffamieren und abzukanzeln.

Wie bewerkstelligen Zwerge eigentlich eine Revolution?

So beklagte der Historiker Hans-Ulrich Wehler, dass alle "falschen Weichenstellungen, die in Ostdeutschland vorgenommen worden sind", nun "nach dem Vorbild des westdeutschen Modells in einem mühseligen Prozess" wieder korrigiert werden müssten. Das sei "die Bürde der neuen Bundesrepublik nach 1990."

Arnulf Baring sprach von der Verzwergung von Menschen über ein halbes Jahrhundert. Der Pädagogik-Experte Johannes Niermann schwadroniert in einem Gutachten für den Bundestag (ohne jegliche Analyse oder Belege zu liefern), dass die gesamte "Intelligenzija" beim Aufbau des "Lügengebäudes" teilgenommen hätte, alle Arbeiten von Forschern in der DDR daher wissenschaftlich das "Papier nicht wert" seien, den Schülern in "Zuchtanstalten" das Rückgrat gebrochen und ihre Persönlichkeit systematisch verändert worden sei.

Seine Empfehlung für die Nachwendezeit: eine Art Umerziehungsprogramm für die Ostdeutschen, angeleitet von "Lehrern aus den alten Ländern". Dahns berechtigte Gegenfrage: Wie bewerkstelligen Zwerge eigentlich eine Revolution?

Statt sich fair mit der Geschichte beider Staaten, der BRD und der DDR, auseinanderzusetzen, wie Dahn zu Recht fordert, wurde nur der "Verliererstaat" vors Tribunal gestellt und schließlich in den Orkus der Geschichte geworfen. Selbstkritik des Westens, Balance bei der historischen Aufarbeitung? Fehlanzeige.

Vielmehr wurde maßlos und einseitig übertrieben. Unbesehen wurde die DDR unter dem Label "Unrechtstaat" in einen Topf mit totalitären, faschistischen Regimen geworfen. Die Stasi-Mammutbehörde mit 3.000 Mitarbeitern erzeugte am Fließband allgemeine Verdachtskultur.

Hysterische Stasi-Jagden in der Öffentlichkeit, die sich in der Sache in 94 Prozent der Fälle als falsch herausstellten, "sorgten aber zu 100 Prozent für Aufregung". Während man von einer "Durchherrschung" von oben nach unten und flächendeckender Observation des Staates sprach, war niemand an konkreten Fakten zur Dimension der Überwachung interessiert.

Frage: Wie viele Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi (IM) hat es denn eigentlich gegeben? Antwort: Gut 100.000, so die valideste Zahl, die Dahn bei der Behörde herausbekam, 0,6 Prozent der Bevölkerung. Paranoid sicherlich, aber wie paranoid, so Dahn, müsste ein Vergleich mit anderen Geheimdiensten ergeben.

Oder: Und wie viele Opferakten durch operative Observation gibt es wirklich? Auch hier hakte Dahn jahrelang nach bei der Pressestelle der Behörde. Schließlich bekam sie eine Zahl. An einem beliebigen Stichtag wurden in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, also in der Hochzeit der Bespitzelung, über "etwa 41.500 Menschen" Berichte geschrieben.

Diese Zahl verdient jedes negative Adjektiv: empörend, beschämend, sinnlos, nur eins nicht: flächendeckend. Selbst wenn es doppelt so viele gewesen sein sollten, würde dies bedeuten, dass zu keinem Zeitpunkt mehr als 0,5 Prozent der 17 Millionen DDR-Bürger Opfer gezielter, operativer Berichterstattung waren.

Überwacht wurden überwiegend Oppositionelle, Künstler, Kirchenleute und Ausreisewillige. Schlimm, keine Frage. Und was ist mit westlichen Geheimdiensten, NSA-Staat und den Undercover-Infiltrationen von Protestbewegungen weltweit durch westliche Staatsorganen?

Die Wende hätte eine Wende sein können, sich auch mit der BRD kritisch auseinanderzusetzen. Wie konnte zum Beispiel der juristische Wegbereiter des Holocaust Hans Globke Chef des Kanzleramts unter Konrad Adenauer werden? Dahn schildert, wie unter dessen Leitung die BRD renazifiziert wurde und belegt, dass in den 1950er- und 1960er-Jahren etwa zwei Drittel der bundesdeutschen Richter, Staatsanwälte, Geheimdienstler, Juristen und Kriminalisten schon unter Hitler gedient hatten.

Sicherlich, auch in der DDR konnte nicht ganz auf die alten Eliten verzichtet werden. Aber es waren deutlich weniger Übernahmen und eher aus den niederen Rängen beziehungsweise nominelle NSDAP-Mitglieder, keine schwer Belasteten wie in der BRD, die in Spitzenämter gehievt wurden.

Gleichzeitig sendeten die staatlichen Institutionen nach dem Mauerfall den Neu-BRD-Bürgern immer wieder "rechtslastige Signale". Von der Polizei und dem Auswärtigen Amt über die Geheimdienste und Justiz zu den Universitäten und der Bundeswehr. Solche Botschaften kamen bei den Abgekoppelten und Frustrierten im Osten an und nährten immer wieder die dann beklagten Rechtsentwicklungen.

All das, was Dahn überzeugend vorbringt, wäre Grund genug, einen Nachdenkprozess einzuleiten. Doch die großen Medien reagieren immer noch ignorant bis beleidigt, selbst wenn die Kritik von faktischer Genauigkeit ist.

Diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten tatkräftig mithalfen beim Ausverkauf ostdeutscher Landstriche, die Abwrack-Politiken als ökonomisches Blüh-Programm vermarkteten und die Bürger der ehemaligen DDR immer wieder herablassend behandelten, reagieren weiter allergisch, wenn ihnen die realexistierende Einheit unter die Nase gerieben wird.

Da heute niemand mehr ernsthaft den schamlosen Beutezug der privatisierenden Treuhand, das Gesundstoßen westdeutscher Unternehmen im Osten auf Kosten der Übernommenen, den damit geschaffenen Nährboden für Frust sowie die Brüche zwischen Ost und West schönreden kann, bleiben nur bösartige Unterstellungen.

So zeigt sich die Süddeutsche Zeitung angesichts der Bilanz von Daniela Dahn besorgt über den "schrillen Ton einer sonst so klugen und scharfsichtigen Publizistin", ihre "wutschnaubende Abrechnung". Alles werde zusammengemischt und dem "westdeutschen Raubtier-Kapitalismus" angehängt, so der SZ-Kommentar.

Es sei "kein gutes Zeichen für den Stand der Debatte", wenn "Zwischentöne und Widersprüchlichkeiten des Vereinigungsprozesses" nicht mehr gewürdigt würden. Demokratische Institutionen wie Parteien, oder "Systeme sozialer Sicherheit" erschienen "beinahe ausschließlich als Überwältigungsmaschinen".

Im Tagesspiegel heißt der Vorwurf kurz und bündig: "verschwörungstheoretisches Geraune". Dem ostdeutschen Journalisten Matthias Krauß erging es ähnlich bei seiner Bilanzierung. Solche Kommentierungen westdeutscher Leitmedien sind nicht nur arrogant und ignorant, sondern tatsächlich zum Fremdschämen.

Das Buch von Dahn entwirft zugleich eine deutsch-deutsche Tragödie in mehreren Akten vor dem Weltpanorama. Sie beschreibt, wie der Fall der Mauer zugleich der Startschuss für eine Befreiung ganz anderer Art gewesen ist: forcierte neoliberale Wirtschaftspolitik, Ausweitung der Macht transnational operierender Konzerne und eine zunehmend aggressive Geopolitik des Westens (einschließlich einer Reihe von Angriffskriegen von Jugoslawien über Afghanistan und Irak bis Syrien). Ob das die Welt sicherer und zu einem lebenswerteren Ort gemacht hat, darf bezweifelt werden.

Vielleicht wäre es an der Zeit, dass sich ein deutscher Bundeskanzler bzw. eine Bundeskanzlerin, ein Bundespräsident bzw. eine Bundespräsidentin einmal für den Enteignungsakt im Osten entschuldigt. Denn es war falsch und entwürdigend, wie die Wiedervereinigung ablief.

Das einzugestehen, wäre ein Anfang, von dem man ausgehen könnte. Ohne die Bereitschaft dazu wird es wohl noch viele Tage der Deutschen Einheit geben, an denen so getan wird, als ob ein Volk sich feierlich an etwas Gemeinsames erinnert.


Redaktioneller Hinweis: An einer Stelle hieß es zuerst missverständlich, dass "an einem beliebigen Stichtag von 'etwa 41.500 Menschen' Berichte gefertigt" wurden. Tatsächlich waren 41.500 Menschen in Operativen Personenkontrollen (OPK) oder Operativen Vorgängen (OV) erfasst. Das heißt keinesfalls, dass in dieser Zeit an jedem Tag so viele Berichte verfasst wurden.