Vor dem Kollaps? Der soziale Sektor kämpft ums Überleben

Andreas von Westphalen
Hände halten Herzen mit Care-Symbolen – Herzen fallen ohne Hand

Mit drei Millionen Beschäftigten ist er dreimal größer als die Autoindustrie. Doch bald könnte das System laut einer Studie zusammenbrechen. Interview mit einem der Co-Autoren, Teil 1.

Eine empirische Untersuchung von Joß Steinke, Jasmin Rocha und Christian Hohendanner wirft ein Schlaglicht auf die alarmierende Lage des sozialen Sektors in Deutschland. Im folgenden Interview erläutert Joß Steinke die Ergebnisse der Studie, die zeigt, dass ohne zeitnahe Gegenmaßnahmen die Strukturen des sozialen Sektors nicht mehr tragfähig sein könnten.

▶ Herr Dr. Steinke, Sie haben gemeinsam mit Jasmin Rocha und Christian Hohendanner die Lage des sozialen Sektors in Deutschland analysiert. Bevor wir miteinander über das besorgniserregende Ergebnis Ihrer Studie sprechen, erklären Sie bitte kurz, was Sie unter dem sozialen Sektor genau verstehen.

Joß Steinke: Wir haben in unserer Analyse zahlreiche Berufsgruppen gebündelt, um möglichst alle Arbeitsfelder abzudecken. Zu diesen zählen unter anderem die Hilfe für behinderte Menschen, die Kinder- und Jugendfamilienhilfe, Gesundheit, Pflege, Sozialberatung.

Das war uns ein großes Anliegen, weil wir festgestellt haben, dass häufig, wenn über den sozialen Sektor gesprochen wird, sehr stark auf die Pflege fokussiert wird.

Diese ist ohne Frage sehr wichtig und auch da liegt vieles im Argen, aber der Sektor ist viel größer. Im Übrigen auch noch größer, als wir ihn in unserer Studie untersuchen konnten, da wir uns auf die abhängig Beschäftigten fokussieren mussten, und dabei nicht näher auf die Sorgearbeit, die in privaten Haushalten geleistet wird, oder organisierte Arbeit durch ehrenamtlich Engagierte eingehen konnten.

Drei Millionen Beschäftigte im Jahr 2022

▶ Was ist das Resultat Ihrer Studie? Wie ist es um den sozialen Sektor in Deutschland bestellt?

Joß Steinke. Bild: © Nadine Stenzel Photography / DRK

Joß Steinke: Der Titel unserer Studie macht die kritische Lage bereits deutlich. Wir haben ein Fragezeichen hinter "Vor dem Kollaps" gesetzt, weil man noch Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Aber wenn wir nicht zeitnah gegensteuern, dann wird sich dieses Fragezeichen in Luft auflösen.

Das würde bedeuten, dass Politik und Gesellschaft in den kommenden Krisen nicht mehr so selbstverständlich auf die Strukturen des sozialen Sektors zurückgreifen können.

Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir insbesondere schauen, wie wir Arbeitsverhältnisse im sozialen Sektor attraktiver machen können. Hier spreche ich nicht vordergründig nur von der Bezahlung, die beispielsweise in der Pflege über die letzten Jahre durchaus schon gestiegen ist, sondern vor allem von anderen Maßnahmen wie Verlässlichkeit der Arbeitspläne etc.

Bei der Frage nach Beschäftigung im sozialen Sektor geht es immer um große Fragen – um gesellschaftliche Daseinsvorsorge, die Betreuung und Pflege derjenigen, die unmittelbare und zum Teil dringende Hilfe benötigen oder etwa die Grundbildung der Kinder, die so zentral für den weiteren Lebensverlauf ist. Mit der entsprechenden Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit sollten wir die Debatte auch führen und Maßnahmen ergreifen.

▶ Bevor wir in die Details Ihres Ergebnisses gehen, das mehr als alarmierend ist, vielleicht vorab ein paar grundlegende Fragen: Wie viele Menschen arbeiten aktuell im sozialen Sektor und wie war die Entwicklung der Beschäftigungszahlen im letzten Jahrzehnt?

Joß Steinke: Wenn man unsere Definition des sozialen Sektors anwendet, kommt man auf rund drei Millionen Beschäftigte im Jahr 2022. Das ist eine wirklich beachtliche Zahl, die zeigt, wie quantitativ bedeutend Beschäftigung im sozialen Sektor insgesamt ist.

Nur mal zum Vergleich: In der Automobilindustrie gibt es rund 800.000 Angestellte. Das heißt, der soziale Sektor beschäftigt ein Vielfaches der Automobilindustrie. Insgesamt betrachtet sprechen wir von 8,8 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland.

Über die letzten Dekaden verzeichnen wir ein hohes Beschäftigungswachstum über alle Arbeitsfelder im sozialen Sektor hinweg. Wir haben in unserer Studie für 2008 1,8 Millionen Beschäftigte erfasst, 2022 waren wir dann schon bei ungefähr drei Millionen. Und andere Studien weisen darauf hin, dass dieser Anstieg noch höher ausgefallen wäre, wenn es keinen Arbeitskräftemangel gegeben hätte.

Die Anforderungen der Gesellschaft sind gestiegen

▶ Warum herrscht ein steigender Bedarf an Beschäftigten im sozialen Sektor?

Joß Steinke: Tatsächlich sind die Anforderungen aus der Gesellschaft an Quantität und Qualität über die Jahre gestiegen. Um beides abzubilden, braucht man mehr Beschäftigte. Die wachsenden Ansprüche wurden teilweise auch in politische Entscheidungen gegossen, wie vor rund zehn Jahren beim Rechtsanspruch auf die U3-Betreuung in Kitas.

Natürlich steigen auch die Bedarfe in der Pflege, weil die Gesellschaft älter wird. Im Hinblick auf dem Arbeitskräftemangel muss man aber auch sagen: Der demografische Wandel hat gerade erst begonnen. Etwas unter 40 Prozent der Beschäftigten im sozialen Sektor ist über 50, die arbeiten ja alle noch. Dramatisch wird es, wenn diese Kohorte in Rente geht.

Klar ist aber auch: Der Arbeitskräftemangel ist nichts, was der soziale Sektor exklusiv hat. Da liegt auch eine der größten Herausforderungen, weil man noch stärker in Konkurrenz zu anderen Sektoren steht. Das haben wir in der Corona-Pandemie schmerzlich gesehen, wo der soziale Sektor Arbeitskräfte an andere Bereiche verloren hat, die zum Beispiel mobiles Arbeiten anbieten können.

Man muss aktuell konstatieren, dass es oft einfacher ist, in anderen Sektoren sein Geld zu verdienen. Aufwand und Ertrag stehen dort in einem besseren Verhältnis. Wir müssen also schauen, wie wir Menschen dafür begeistern können, im sozialen Sektor beruflich tätig zu sein und müssen das eigentlich auch gesellschaftlich mehr diskutieren. Denn es geht hier um Jobs, die im Prinzip alle brauchen.

▶ Wie hoch ist die Mangellage im sozialen Sektor?

Joß Steinke: Sie ist sehr hoch, auch im Vergleich zu anderen Sektoren. 77 Prozent der Arbeitgebenden im Sozialen Sektor sagen, dass sie Probleme mit der Personalrekrutierung haben. Im Vergleich zu allen anderen Branchen ist das ein deutlich höherer Wert.

Da liegt er bei 40 Prozent. Und wir sehen zum Beispiel auch, dass es immer mehr Fluktuation und Personalabgänge gibt. Allein im Pflegebereich werden in Deutschland bis zum Jahr 2049 laut dem Statistischen Bundesamt voraussichtlich mindestens eine Viertelmillion Pflegekräfte fehlen.

Arbeitskräftemangel in allen Arbeitsfeldern sichtbar

▶ In welchen Bereichen des sozialen Sektors herrscht Arbeitskräftemangel?

Joß Steinke: Der Arbeitskräftemangel wird im Prinzip in allen Arbeitsfeldern sichtbar. Das merken wir und das hören wir eigentlich von überall, wie schwierig es geworden ist, Stellen zu besetzen. Natürlich bekommen wir medial und auch im politischen Umfeld vor allem von den Problemen in der Pflege mit und es scheint dort tatsächlich auch die größten Probleme wegen Besonderheiten wie der Schichtarbeit etc. zu geben.

Aber ich will nochmal deutlich sagen, wir haben diese Probleme im Prinzip über alle Arbeitsfelder hinweg. Es hilft also nur bedingt, wenn wir eine Person für die Pflege gewinnen, die dann an anderer Stelle im sozialen Sektor fehlt. Wir müssen schauen, dass der gesamte Sektor an sich attraktiver wird.

▶ Wie sehen die Arbeitsbedingungen im sozialen Sektor aus, insbesondere im Vergleich zu anderen Sektoren?

Joß Steinke: Man muss an der Stelle innerhalb des Sozialen Sektors etwas unterscheiden. Es macht einen großen Unterschied, ob ich in der Pflege arbeite oder ob ich in der Schule Schulsozialarbeit mache oder Migrationsberatung. Da herrschen sehr divergierende Arbeitsbedingungen.

Ein paar grundsätzliche Punkte gibt es aber schon und ich will mit einem eigentlich positiven Punkt starten: Wir sehen im sozialen Sektor eine sehr hohe intrinsische Arbeitsmotivation. Das ist auch etwas, was ich zum Beispiel beim DRK immer wieder erlebe.

Die Menschen machen ihren Job an sich wirklich gerne, die machen das, weil sie sich der Sache verpflichtet fühlen. Da sind Kita-Leitungen mit ihren Mitarbeitenden, die alles dafür tun, das Angebot aufrecht zu halten, weil es ihnen um die Kinder geht.

Aber natürlich gibt es auch viele klar negative Aspekte: Zahlreiche Berufe in der sozialen Arbeit weisen eine hohe psychische Belastung auf. Die Aufstiegsmöglichkeiten sind begrenzt. Oft gibt es nur kurzlaufende Arbeitsverträge, da beispielsweise Projekte nur für ein Jahr finanziert werden.

Dadurch fehlt zumindest ein Mindestgrad an Planungssicherheit, die andere Sektoren bieten können. Und dann sind viele Personen von der um sich greifenden Bürokratie angestrengt. Natürlich ist auch die Bezahlung immer wieder ein Thema.

▶ In den Arbeitsfeldern des sozialen Sektors arbeiten Menschen, die anderen Menschen helfen wollen. Dabei haben sie oft hautnah mit persönlichen Schicksalen zu tun. Das ist emotional und psychisch belastend. Wie hoch ist der Ausfall durch Krankheit und Burn-out

Joß Steinke: Krankheit ist ein großes Problem in einigen Arbeitsfeldern des sozialen Sektors. Wir haben das über das Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung abgeglichen und haben festgestellt, dass 46 Prozent der Betriebe des sozialen Sektors hohe Krankheits- und Fehlzeiten als Problem angeben. In allen anderen Branchen waren das 24 Prozent.

Das deutet sehr stark darauf hin, dass Krankheit ein großes Thema ist. Es ist naheliegend, dass auch das Thema Burn-out eine Rolle spielt. Mir sind dazu allerdings keine Daten bekannt.

Ausblick: Größerer Abbau von sozialer Struktur unvermeidlich?

▶ Welche Entwicklung in den kommenden zehn Jahren sehen Sie für den sozialen Sektor voraus?

Joß Steinke: Die Frage, wie geht es weiter, hängt natürlich davon ab, was politisch passiert, denn praktisch alle zentralen Rahmenbedingungen des sozialen Sektors werden politisch auf verschiedenen Ebenen gesetzt. Wenn die Rahmenbedingungen anders gesetzt werden, hat dies also immensen Einfluss auf die Entwicklung.

Sollte die Lage mehr oder weniger so bleiben, wie sie ist, was leider kein so unrealistisches Szenario ist, kommen wir zu dem Schluss, dass ein größerer Abbau von sozialer Struktur unvermeidlich ist.

Das bedeutet am Ende, dass viele Menschen mit ihren Bedürfnissen, mit ihren Ansprüchen und mit ihren Sorgen ins Leere laufen werden. Es wird dann weniger Kita-Plätze geben. Im Pflegebereich sehen wir seit einiger Zeit, dass Einrichtungen schließen müssen oder ambulante Pflegedienste aufgeben.

Wir werden bereits aktuell bei Weitem nicht mehr allen gerecht, die Pflegebedarf haben. Das ist jetzt schon so, da muss ich noch nicht einmal in die Zukunft blicken.

Der im Fach Politikwissenschaft promovierte Dr. Joß Steinke leitet seit Februar 2016 den Bereich Jugend und Wohlfahrtspflege im Deutschen Roten Kreuz. Er ist Mitglied des Präsidiums und des Präsidialausschusses des Deutschen Vereins und vertritt das DRK in verschiedenen weiteren verbandsübergreifenden Spitzengremien.

Seit Jahren setzt er sich mit den grundlegende Parametern der Freien Wohlfahrtspflege und des sozialen Sektors auseinander und befördert aktiv Innovationen und Anpassungen an den digitalen Wandel.