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Vorratsdatenspeicherung und Internetsperren gegen Fluchthelfer

Flüchtlingsrouten. Bild: Europol

Zur Bekämpfung unerwünschter Migration sollen EU-Agenturen mehr Technik nutzen. Die Rede ist von Satellitenaufklärung, Finanzermittlungen und Kooperation mit Internetdienstleistern

Mit einer Reihe neuer Überwachungsmaßnahmen will die EU-Kommission die kommerzielle Fluchthilfe über das Mittelmeer unterbinden. Dies geht aus einem Vorhabendossier [1] hervor, das der Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans gestern in Brüssel vorstellte. Das Dokument zur Umsetzung der ebenfalls kürzlich beschlossenen Migrationsagenda enthält einen "EU-Aktionsplan gegen Schlepper" [2]. Skizziert werden konkrete Maßnahmen, mit denen Fluchthelfern "das Handwerk gelegt werden" soll.

Einen festgezurrten Rahmen bildet das Regelwerk noch nicht, es handele sich laut Timmermanns zunächst um "erste Vorschläge". Doch die haben es in sich. So sollen die EU-Mitgliedstaaten dabei helfen, eine "Liste verdächtiger Schiffe" zu erstellen. Gemeint sind ausgemusterte Frachtschiffe, die aber immer noch seetüchtig sind und von Geflüchteten aus Syrien für die Überfahrt nach Griechenland oder Italien genutzt werden. Solche Schiffe mit mehreren hundert Passagieren stachen mehrmals von der türkischen Hafenstadt Mersin in See. Inzwischen werden sie jedoch von der türkischen Küstenwache aufgehalten.

Dabei könnten Daten aus der Satellitenaufklärung helfen: Die Regierung in Ankara hatte hierfür gefordert, dass die Europäische Union entsprechende Bilder von EU-Satelliten übermittelt. Auch die EU-Grenzagentur Frontex nutzt die Satelliten zur Überwachung der Küsten Libyens und der Türkei. In mehreren Forschungsprogrammen untersucht Frontex, wie dieses Verfahren automatisiert werden kann.

Eine Software soll helfen, verdächtige Muster bei langsam fahrenden Flüchtlingsbooten zu erkennen. Wird ein Boot auf diese Weise gefunden, schlägt der Computer Alarm. Die Plattform soll in das Grenzüberwachungssystem EUROSUR überführt werden, mit dem alle EU-Außengrenzen gesichert sind. Im September hatte Frontex gemeldet, über EUROSUR erstmals ein Schiff mit Geflüchteten ausgespäht zu haben.

Ausweitung von Finanzermittlungen

Vor einigen Wochen kündigte die EU an, mithilfe von Kriminalpolizeien der Mitgliedstaaten die Netzwerke der Fluchthelfer zu ermitteln. Eigentlich ist Frontex für die Verhinderung unerwünschter Migration zuständig. Um aber auch die Mittel und Methoden von Kriminalpolizeibehörden nutzen zu können, wird jede Fluchthilfe pauschal als "banden- und gewerbsmäßige Einschleusung" bezeichnet, durchgesetzt hat sich die Berufsbezeichnung "Schlepper" oder "Schleuser".

Europol soll helfen, Boote aufzuspüren die für die Flucht über das Mittelmeer vorgesehen sind. Eine EU-Mission mit dem Titel "EUNAVFOR MED" [3] soll diese dann zerstören, Einzelheiten zu einer solchen zivil-militärischen Mission werden derzeit unter den EU-Mitgliedstaaten erörtert.

Auch hierzu spricht der "EU-Aktionsplan gegen Schlepper" nun Klartext. Laut der Kommission sollen "spezielle Plattformen für eine engere Zusammenarbeit und einen besseren Informationsaustausch mit Finanzinstituten" geschaffen werden. Gemeint ist die Beobachtung von Kontobewegungen, wozu alle Banken und Kreditinstitute verpflichtet sind. Werden Auffälligkeiten bei Zahlungsvorgängen festgestellt, müssen die Institute eine Meldung bei der zuständigen Kriminalpolizei machen. Wird etwa ein Konto überwacht, das mutmaßlich der Bezahlung von Fluchthilfe dient, können die zahlenden Passagiere ausfindig gemacht werden. Auch die Firma die ein Schiff oder Boot verkauft würde derart ermittelt.

Die EU-Polizeiagentur Europol plant hierfür die Einführung eines neuen Systems [4], mit dem die angeschlossenen Polizeibehörden in Echtzeit über verdächtige Transaktionen informiert werden. Die Finanzinstitute speichern alle Kontodaten und -bewegungen aber auch auf Vorrat. So können sie nachträglich genutzt werden, um etwa zu ermitteln, auf welche Weise Asylsuchende in die EU eingereist sind.

Dabei helfen auch Daten aus der Telekommunikation. Denn auch die Handys der Geflüchteten werden ausgelesen und forensisch ausgewertet um herauszubekommen, ob mehrere Personen vor der Überfahrt die gleiche Telefonnummer anriefen. Diese angerufene Person wäre dann verdächtig, die Flucht organisiert zu haben.

Flüchtlingsrouten. Bild: Europol

Neues "maritimes Aufklärungszentrum" bei Europol

Europol und Frontex haben im März das gemeinsame Operationsteam "MARE" gestartet [5]. Die Sondereinheit soll "Erkenntnisse über kriminelle Organisationen" gewinnen, die "für die illegale Verbringung von Migranten auf dem Seeweg in die Europäische Union verantwortlich sind". Das neue Lagezentrum soll Verbindungen unter Fluchthelfern aufspüren. Verarbeitet werden auch Telefon- und Reisedaten sowie Mailadressen. Frontex darf keine Personendaten speichern und verarbeiten, Europol aber schon.

Bei Europol in Den Haag wurde nun ein "maritimes Aufklärungszentrum" eingerichtet. Beteiligt sind außer den EU-Mittelmeeranrainern auch Großbritannien und Deutschland. Die internationale Polizeiorganisation Interpol arbeitet ebenfalls mit und soll ihre Kontakte zu Verbindungsbüros in afrikanischen Ländern einbringen. Die Behörden sollen im Rahmen ihrer Arbeit eng mit der EU-Militärmission "EUNAVFOR MED" zusammenarbeiten. Geplant ist auch die Errichtung weiterer regionaler Datenbanken, in denen sich Polizeibehörden in Afrika und Asien mit Frontex und Europol zusammenschließen. Durch die "proaktive" Auswertung eingehender Informationen wollen die EU-Agenturen Migrationsströme möglichst früh erkennen und verhindern.

Bei Europol werden alle anfallenden Informationen in der eigens errichteten Analysedatei "Checkpoint" gesammelt. Dort eingestellte Informationen gleicht Europol mithilfe einer Software nach Beziehungen von Personen oder Sachen ab. Dabei werden Telefondaten, Mailadressen, Reisedaten oder Angaben zu Fahrzeugen und Schiffen verarbeitet. Auch US-Einwanderungsbehörden sind an die Datenbank angeschlossen, der Grund hierfür wird aber nicht erklärt.

Für die justizielle Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaften hat die EU die Agentur Eurojust eingerichtet. Auch dort soll nun eine "Thematische Gruppe Menschenschmuggel" eingerichtet werden.

Syrische Geflüchtete nutzen Facebookgruppen

Schließlich fordert die EU-Kommission auch mehr "Kooperation mit Anbietern von Internetdiensten und sozialen Medien". So sollen "Internetinhalte, die von Schleppern für Werbezwecke genutzt werden", aufgedeckt werden. So hatten es die Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten bereits vor einigen Wochen auf einem Sondergipfel zur Flüchtlingssituation auf dem Mittelmeer verabschiedet. Beobachtet würden demnach Internetauftritte von Fluchthelfern, die in dem Dokument als "traffickers" bezeichnet werden. Zuständig wäre die Polizeiagentur Europol.

Vermutlich geht es vor allem um Soziale Medien. Die Fluchtwilligen stehen vor dem Problem, Kontakt zu den Fluchthelfern finden zu müssen. Hier hilft das Internet. Medienberichten zufolge existieren beispielsweise in der Türkei Facebookgruppen, über die Fluchten organisiert werden. Frontex hat das Phänomen erkannt und warnt die EU-Mitgliedstaaten seit einiger Zeit, dass sogar Apps kursieren würden, um Informationen über Schiffe und Abfahrtsorte abzurufen. Überfahrten könnten sogar derart "gebucht" werden. Für diese angeblich existierenden Apps hatte Frontex aber keine Belege präsentiert. Entsprechende Internetauftritte sind auch nicht von kommerziellen Fluchthelfern, wohl aber von politischen Aktivisten bekannt. Unter Umständen zielt die Warnung von Frontex also auf eine Kriminalisierung humanitärer oder politischer Fluchthilfe.

Löschen von Internetinhalten gewünscht

Allerdings bleibt es nicht beim Beobachten der Webseiten, denn diese sollen laut der Kommission auch "entfernt" werden. So war es auch vor dem Ratstreffen vor vier Wochen diskutiert [6] worden. Demnach soll Europol die Entfernung der Inhalte "beantragen" können ("detect and request removal of internet content"). Die Entfernung fordern darf die Agentur nicht, denn Europol hat kein Mandat für polizeiliche Zwangsmaßnahmen.

Damit die Anweisungen Europols von Google & Co dennoch befolgt werden, bemühen sich die EU-Mitgliedstaaten derzeit um bessere Beziehungen zu den Firmen. Nach einem informellen Abendessen mit den EU-Innenministern gründet die Kommission ein "Forum der Gemeinschaft der Internetdienstleister" [7].

Eigentlich sollte die Zusammenarbeit auf das Themenfeld "islamistischer Terrorismus" beschränkt bleiben. Das gestern veröffentlichte Kommissionsdokument liest sich jedoch so, dass Facebook, Google und YouTube nun auch im Kampf unerwünschte Migration in die Pflicht genommen werden.

Auch andere Teile des Vorhabendossiers scheinen aus dem Themenfeld "Terrorismus" kopiert worden. So will die EU das Internet gegen Gruppen wie ISIS und Boko Haram mit "Gegenerzählungen" ("counter-narratives") füllen. Dadurch sollen die Kämpfer von ihren Vorhaben abgebracht werden. Laut der EU-Kommission sei es unbedingt erforderlich, dass in Sozialen Medien nun auch mit "Gegenerzählungen" vor einer Flucht über das Mittelmeer gewarnt wird.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3373053

Links in diesem Artikel:
[1] http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5039_de.htm
[2] http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/e-library/documents/policies/asylum/general/docs/eu_action_plan_against_migrant_smuggling_en.pdf
[3] http://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2015/05/18-council-establishes-naval-operations-disrupt-human-smugglers-mediterannean/
[4] http://www.fiu.net/fiunet-unlimited/match/match3
[5] http://www.europol.europa.eu/content/joint-operational-team-launched-combat-irregular-migration-mediterranean
[6] http://statewatch.org/news/2015/apr/eu-council-med-meeting-23-april-15-draft-statement.pdf
[7] http://netzpolitik.org/2015/europol-will-loeschungen-von-internetinhalten-erleichtern-und-gruendet-forum-der-gemeinschaft-der-internetdienstleister/