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Vorsicht vor der Egoismus-Keule!

Wie der Begriff gleich einer Joker-Karte in gesellschaftspolitischen Debatten benutzt wird. Und warum weniger „Egoismus“ das Klima und die Welt nicht retten wird

Was ist Egoismus?

Wenn moralisch argumentiert wird, dann fällt fast immer das Stichwort Egoismus. Egoismus kommt von lateinisch "ego" für "ich". Egoismus bezieht sich also auf die aller-abstrakteste Bestimmung des Menschen, nämlich ein mit Selbstbewusstsein ausgestattetes Subjekt zu sein. Als ein solches nach seinem Vorteil zu streben, macht allerdings noch nicht den Vorwurf des Egoismus aus.

Der Vorwurf resultiert erst aus dem Verhältnis zu einer anderen allgemein menschlichen Bestimmung, nämlich dass der Mensch ein kooperatives Wesen ist, d.h. dass sich Menschen zusammentun, um gemeinsame Ziele zu erreichen.

Weil der einzelne Mensch aber dennoch ein Subjekt ist, mit eigenen Zwecksetzungen, die sich nicht immer mit den gemeinsamen Zielen decken werden, so kommt es immer wieder zu dem, was mit Egoismus gemeint ist. Der egoistische Einzelne schadet dem gemeinsamen Ziel, und damit – in freilich oft nur geringem Maß – auch sich selbst, nimmt das aber um eines für ihn bedeutsameren individuellen Vorteils willen hin.

Da sich der Begriff auf dieser abstrakten, allgemein menschlichen Ebene bewegt, gehört er auch allen Zeiten und allen Gesellschaftsformen an. Dass das kooperative Zusammenleben der Menschen durch überhandnehmenden Egoismus zusammenbrechen würde, ist nicht zu befürchten, denn dieser bleibt an die bewusste Kooperation, da er deren Begleiterscheinung ist, gebunden.

Oft hört man, der Egoismus gehöre zur Triebausstattung des Menschen, wie sie aus der Evolution überkommenen sei. Das ist Unsinn. Denn bewusste Kooperation, vor der als Hintergrund erst von Egoismus gesprochen werden kann, ist ja gerade das, wodurch sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Instinktgesteuerte Kooperation, etwa bei Ameisen, lässt keinen Raum für Egoismus.

Die Frage, ob sich bei hochentwickelten Tieren bereits Ansätze bewusster Kooperation nachweisen lassen, können wir beiseite lassen, dann schon die Tatsache, dass es sich nur um Ansätze handelt, die durch aufwändige Forschung erst nachgewiesen werden müssten, belegt, dass es sich um ein menschliches Spezifikum handelt.

Egoismus ist auch nicht in der Weise an naturgegebene Triebe gebunden, dass diese das alleinige oder auch nur bevorzugte Motiv egoistischer Handlungen wären: denn so, wie natürliche und kulturell entwickelte Bedürfnisse gleichermaßen in aller Regel durch kooperativ bereitgestellte Mittel befriedigt werden, kann auch Egoismus durch alle Arten von Bedürfnissen motiviert sein.

Ethnologen berichten, wie in Jäger-und-Sammler-Stämmen Mitglieder, die sich bei der gemeinsamen Jagd als Drückeberger erweisen, getadelt oder verlacht werden, und dass es ein übliches Gesprächsthema ist, die Verhaltensweisen der anderen im Hinblick auf gelungene Kooperation und Erfolge, aber auch – ganz so wie bei uns in Klatsch und Tratsch – auf Verfehlungen wie Egoismus durchzugehen.

Egoismus gibt es also, seit es menschliche Gesellschaften gibt. Was sich geschichtlich wandelt sind dessen Formen. So wie es unterschiedliche Ziele, Formen und Kontexte der Kooperation gibt: institutionalisierte, wirtschaftliche, familiäre und private, und so wie die Zugehörigkeit zu einer kooperierenden Gemeinschaft temporär oder dauerhaft, freiwillig oder erzwungen sein kann, so bieten diese auch unterschiedliche Gelegenheiten für und damit unterschiedliche Formen von Egoismus: Drückebergerei, Trittbrettfahren, Bestechung, Schmarotzertum u.s.w.

Bei manchen Gemeinschaftszielen ist es jedoch die – leider vielfach geglaubte – Ideologie, dass diese im Interesse der Beteiligten lägen, man denke etwa an die Zugehörigkeit zu Nationalstaaten.

Bilder, wie Leute (nur?) in vergangenen Zeiten massenhaft mit begeistertem Hurra in den Krieg zogen, können gewiss nicht als Beleg dafür dienen, dass die Menschen stets nur auf ihren individuellen Vorteil bedacht seien, im Gegenteil: so etwas lässt den Wunsch aufkommen, dass die Menschen doch ein klein wenig egoistischer wären.

Wie taucht der Begriff Egoismus in Debatten auf?

Wegen seiner Allgemeinheit taugt der Hinweis auf Egoismus nicht dazu, Besonderheiten bestimmter Gesellschaften zu erklären. Wenn von Egoismus die Rede ist, so muss die Frage sein: in Bezug auf welche Gemeinschaft, mit welchen kooperativen Zwecken, ist das betreffende Verhalten egoistisch? Da sind wir dann bei den bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen.

In gesellschaftspolitischen Debatten erfreut sich der Hinweis auf die egoistische Veranlagung der Menschen dennoch – oder gerade deshalb – großer Beliebtheit.

Das erinnert an den Joker im Kartenspiel. So wie dieser, selbst nach Zahl und Farbe unbestimmt, in beliebigem Kontext eingesetzt werden kann, so liefert auch der Egoismus gerade wegen seiner Abstraktheit ein überall passendes Argument: Wer die bestehende Gesellschaft als naturgegeben und alternativlos darstellen möchte, kann Missstände, die in diesen auftreten, durch den Egoismus entschuldigen, der eben immer vorkomme, aber eingedämmt werden könne.

Umgekehrt kann der allgegenwärtige Egoismus auch als Kritik gegen die bestehenden Verhältnisse gewendet werden. Gesellschaftspolitische Änderungsvorschläge gleich welcher Art können mit dem Hinweis abgetan werden, dass deren beabsichtigte Wirkungen durch den Egoismus konterkariert würden.

Oft werden Systeme von Anreiz und Bestrafung, seien sie naturwüchsig entstanden oder geplant, in verschiedensten Verhältnissen entdecken oder konzipieren und als Einrichtungen preisen, die den Egoismus einschränken oder gar produktiv werden lassen – und wird sogleich den Konter zu hören bekommen, dass die verbreitete egoistische Gesinnung das nur zum Anlass für Betrug und Bestechung nehmen würde.

Alle diese Argumente sind schwer zu widerlegen – und doch beweisen sie nichts. Wie sonst könnte jede der streitenden Parteien sie gleichermaßen für sich ins Feld führen? Es ist eben ein Fehler, dann, wenn es um bestimmte Alternativen gesellschaftlicher Ordnung geht, nur auf eine der aller-abstraktesten und allgemeinsten Bestimmungen im menschlichen Zusammenleben Bezug zu nehmen.

Zum Abschluss noch drei Beispiele, wie mit Egoismus falsch argumentiert wird:

1. Profitstreben wird oft als moralisches Faktum begriffen, als eine besondere Form des Egoismus. Leute, die so argumentieren, fühlen sich dabei oft als "Antikapitalisten". Zu unrecht, denn sie übersehen eine wesentliche Bestimmung des Kapitalverhältnisses, nämlich den in ihm liegenden gesellschaftlichen Zwang, d.h. dass es nicht im Belieben des einzelnen Kapitalisten steht, ob er egoistisch nach Profit strebt oder darauf verzichtet.

Durch die Konkurrenz herrschen sich die Kapitalisten gegenseitig das Profitmachen als Zwang auf. Profit ist keine moralische Kategorie, sondern eine ökonomische, d.h. sie bezieht sich auf eine objektive ökonomische Gesetzmäßigkeit in der kapitalistischen Gesellschaft.

2. Seit den Anfangsjahren der Sowjetunion bis zum Ende des Ostblocks war in der dortigen Film- und Literaturwelt der "neue Mensch" ein Dauerthema. In einem verkürzten Verständnis der Marx'schen These vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt, galt Egoismus als Folge des Kapitalismus und man erwartete, dass er in der sozialistischen Gesellschaft verschwinden und so der "neue Mensch", der frei von Egoismus ist, entstehen würde, oder – nachdem das auf sich warten ließ – dieser herbei erzogen werden könnte.

Auch am Ende des Realsozialismus war diese Vorstellung noch präsent: es waren Kommentare zu hören, dass die Schaffung des "neuen Menschen" eben doch nicht gelungen sei, oder auch von vornherein aussichtslos gewesen wäre. Aber egal, welche Lesart man bevorzugt: zur Erklärung des Geschehens trägt das nichts bei.

3. Die Auffassung, wonach der Klimawandel vor allem durch individuellen Konsumverzicht abgewendet werden könnte oder sollte, also nicht mehr und nicht weniger als eine allgemeine Überwindung des Egoismus erfordere, ist immer noch verbreitet, auch wenn Wortführer der Klimabewegung, wie Luisa Neubauer, sehr treffend kritisieren, dass dabei die Gesellschaft nur noch als Ansammlung vieler Einzelner begriffen werde.

In der Tat liegt diesem Nachhaltigkeits-Moralismus eine recht einfach gestrickte Vorstellung der Gesellschaft zugrunde: es ist irgendwie eine Gemeinschaft, die genau diejenigen Güter produziert, die deren Mitglieder konsumieren wollen.

Wie diese Produktion organisiert ist, welche Eigentumsverhältnisse dabei zugrunde liegen, wie daher die verschiedenen Rollen der Beteiligten bestimmt sind, und ob deshalb nicht am Ende ganz andere Interessen maßgeblich sind, als schlicht und einfach den Konsumwünschen der Leute nachzukommen – all das taucht von vornherein gar nicht erst als Fragestellung auf.

Zu einer derart abstrakten Vorstellung von der Gesellschaft passt natürlich der abstrakteste moralische Vorwurf, den man sich denken kann ausgezeichnet dazu, eben der des Egoismus: letzterer sei der Grund allen Übels. So einfach wird die Rettung der Welt nicht funktionieren.


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