Wachsende Räume

Der imperiale Subtext der Medien und ihrer Technik

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In Friedrich Kittlers Parforceritt durch die alteuropäische Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft des letzten halben Jahrtausends findet die Evolution der Medien nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, in der universellen Turingmaschine ihren krönenden Abschluss, sondern überraschenderweise schon ein halbes Jahrhundert früher in der Technikphilosophie Ernst Kapps, deren "Grundlinien" dieser 1877 skizziert hat. Etliche Freunde und kritische Beobachter Kittlers werden sich über Ort und Rang wundern oder gewundert haben, die der Berliner Medienhistoriker dem Hegelianer Kapp (mehr hier) zuweist. Nur Fachleuten dürfte der 1808 in Ludwigstadt in Oberfranken geborene Philosoph, der bei den Kulturalisten Ernst Ritter und Alexander von Humboldt in die Schule ging, 1849 wegen politischen Unstimmigkeiten nach Texas flüchtete und nach seiner Rückkehr Mitte der Sechzigerjahre 1896 in Düsseldorf starb, wohl vorher überhaupt bekannt oder geläufig gewesen sein.

Das Pivot, Herzland und potenzielles Macht- und Gravitationszentrum der Erde. Karte von Halford Mackinder

Die meisten werden beim Namen Kapp eher an den Putschisten Wolfgang Kapp denken, der 1920 zusammen mit dem Freiherrn von Lüttwitz Teile deutscher Truppen wegen der durch den Versailler Vertrag verfügten Truppenreduzierung gegen die junge republikanisch-demokratische Staatsordnung aufbrachte. Mit dem ehemaligen ostpreußischen Generallandschaftsdirektor, der nach dem Putsch nach Schweden floh, sich 1922 einem Hochverratsprozess stellte und noch während der Untersuchungshaft starb, hat der Philosoph Ernst Kapp außer den Namen aber nichts gemein.

Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Entwicklung der Technik ihre Impulse nicht aus dem Bestreben nach 'Komfort', nach bequemerem Leben und reichlicheren Genüssen empfangen hat, sondern aus dem faustischen Drange, in das Innere der Natur einzudringen und dem unbezähmbaren Willen zur Herrschaft über die Erde und alles, was darinnen ist.

Johann Ulrich Folkers

Unter Insidern gilt Ernst Kapp schon länger als der "erste eigentliche Technikphilosoph" und damit Ahnherr der Medienevolution. Lange bevor McLuhan mit seinen "extensions of man" massenmediales Aufsehen erregte und zum Medienpapst der Massen- und Popkultur aufstieg, hatte Kapp Waffen und Werkzeuge bereits funktionalistisch als technische Verlängerungen und Prothesen menschlicher Organe gedeutet, die dem Mängelwesen Mensch helfen, seine Reichweiten und Wirkungsgrade in Natur, Gesellschaft und Kultur auszuweiten. Und noch bevor Turing und seine Anhänger die weitere Evolution der Medien aus der Kollaboration von Maschinenpower und Rechnersoftware destillieren, nahm Kapp die posthumane Einsicht der Kybernetiker vorweg, wonach fortan nicht mehr Menschen, sondern nur noch Werkzeuge, Maschinen und Programme andere Werkzeuge, Maschinen und Programme erzeugen werden.

Doch nicht dieses frühe Kopplung von Medientechnik an anthropologische Zwecksetzungen ist der Grund, warum die Adresse Kapp für uns und die Geschichte der Medien und ihre Evolution interessant ist. Ernst Kapp war nämlich unter anderem auch politischer Geograph, vom Geist und der Gedankenwelt Hegels geprägt und beseelt. Und in dieser Eigenschaft hatte er bereits 1845 eine "Vergleichende allgemeine Erdkunde" vorgelegt, die die Stufenfolge der Kultur- und Reichsbildung hauptsächlich von der Dimension des Raums und seiner Topographien her bestimmt und Medientechnik (zu seiner Zeit waren das vor allem Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraf) als Verlängerung oder Fortsetzung der Raumnahme und Raumteilung mit anderen Mitteln begreift.

Damit nimmt der Technikphilosoph eine Art Mittler- oder Scharnierfunktion zwischen Raum- und Zeitkultur ein. Er platziert sich dort, wo einst Raum- und Medienwissenschaft, Medientechnologien und Geopolitik sich berührt haben, ehe sie getrennte Wege gingen. Seit Harold Adam Innis ist diese Beziehung zwar hierzulande nicht gänzlich unbekannt, doch wird darauf von Medienwissenschaftlern, wenn überhaupt, nur am Rande hingewiesen.

Gleichzeitig antwortet Kapp damit aber auch auf Forderungen, welche weder der modische Diskurs der Kulturwissenschaft noch der deutsche Systemkonstruktivismus erfüllen oder gar befriedigen können und wollen, nämlich, dass Philosophie und Wissenschaft sich nicht nur ausschließlich mit sich selbst und ihren Begrifflichkeiten, sondern auch mit der realen Welt - und gerade mit dieser - zu befassen haben, und das trotz oder gerade wegen ihrer medialen Zurichtung und Inszenierung. Mit seiner Ansicht, dass diese Wirklichkeit, die von Menschenhand oder Menschengeist gestaltet und kultiviert wird und damit auf diesen zurückweist, auch vom Menschen verantwortet werden muss, wird Kapp dagegen freilich auf soziologischen und hardwaretechnischen Granit beißen. Modischen Beobachtern dürften seine Begriffe und Perspektive zu einfach, zu unterkomplex und zu wenig ausdifferenziert sein.

Wir treten nunmehr aus dem Bereich der natürlichen Erscheinungen der Erdwelt auf den Schauplatz des Geistes.

Ernst Kapp

Und exakt dieser "Schauplatz des Geistes" ist Gegenstand und Inhalt seiner "politischen Geografie". Physik, Politik und Kultur bilden darin eine aufsteigende Einheit. Während im Zentrum der physischen Geografie die Erde und in der politischen Geografie der Mensch steht, bildet die kulturelle Geografie jenes Kampfgebiet, wo der Widerstreit zwischen Physik und Politik, Erde und Staat, Seele und Körper beendet wird. Durch fortschreitende Kultivierung des Räumlichen und Politischen wird der Geist "verschönert" und "verklärt", er wird allgemein, universell und damit aus den Schranken von Raum und Zeit befreit. Raumnahme bedeutet bei Kapp ein Sich-Einrichten des Menschen in der Natur. Aus der Baustelle Erde muss zunächst ein "Wohnhaus der Menschheit" (Staat) geformt werden, das später durch pflegliche Hegung (Kultur) in ein "Erziehungshaus" verwandelt wird.

In seiner "Vergleichenden Erkunde" nimmt die politische Geografie den weitaus größten und breitesten Raum ein. Kapp markiert dort drei Perioden der Raum- und Kulturentwicklung, die allesamt geografische Bestimmungen des Politischen widerspiegeln: die potamische, thalassische und ozeanische Welt. Das Eintreffen eines neuen Stadiums bedeutet dabei alles andere als das plötzliche Verschwinden vorhergehender Phasen. Vielmehr geraten diese unter das Supremat einer neuen Stufe, die sich zugleich als höhere gegen die anderen behauptet und durchsetzt. Und auch die Stufenfolge verläuft für den Geografen Kapp wie für jeden guten Dialektiker als Selbstfindungs-, Selbstbildungs- und Selbstbewusstwerdungsprozess des Weltgeistes, als wachsender Fortschritt des Bewusstseins zur Freiheit.

Der konkrete Ort dieses Fortschrittes ist der Staat; das diese Stadien unterscheidende und zugleich begründende Kriterium ist das Wasser. Dieses "natürliche" Element belebt und konstituiert nicht nur das Politische, es arbeitet auch der Freiheit zu und treibt dadurch die Geschichte voran.

Für Kapp beginnt die Weltgeschichte im Zweistromland von Euphrat und Tigris und am Nil, in den assyrischen, baylonischen und ägyptischen Reichen des Ostens. Diese Flusskulturen des Orients sind der geografische Ort der "potamischen" Kultur. Dort wird das Wasser in seiner eingeengtesten Form wahrgenommen. Das Meer spielt auf dieser Stufe noch keine Rolle. Das Wasser wird ausschließlich landwirtschaftlich genutzt, seine Gefahren und Profile (Überschwemmungen) müssen gemeistert und genützt werden. Darum bleiben die Menschen mit dem Land, das sie bewirtschaften und zu dessen Kultivierung sie Techniken wie die Keilschrift, der Papyrus oder den Kalender erfinden, so sehr verbunden, dass sie in ihrem Tun von diesem völlig bestimmt werden und bleiben. Das Bewusstein der Menschen verharrt naturversunken auf der untersten Ebene, im Bei-sich. Politisch ist das die Zeit der Despotien, die das soziale Zusammenleben auf den Mechanismus von Hammer und Nägel reduzieren.

Auf das potamische Zeitalter folgt, als Zwischenstufe sozusagen, die "thalassische" Kultur der Binnenmeere und Meeresbecken. Gegenstand und belebender Teil des Politischen ist diesmal das Mittelmeer. Mit seinem Klima, seinen Landschaften und ähnlichen Lebensbedingungen bildet es einen geografisch gemeinsamen Welthorizont für die dort lebenden Menschen. La Plus Grande Méditerranée, wie Fernand Braudel später diesen vielfältig in kleinere Großräume gegliederten Großraum nennt, wird zum Lebensraum und Operationsfeld diverser Völker und Stämme. Der daraufhin sich entwickelnde Handel und Verkehr schafft neue technische Fortschritte im Schriftwesen, im Flottenbau und in der Nachrichtentechnik, die weitere Möglichkeiten des Austausches, der Kommunikation und der Ausweitung menschlicher Bedürfnisse nach sich ziehen. Doch weil das Mittelmeer nur einen besonders abgegrenzten Teil des Meeres darstellt, bleibt das Freiheitsbewusstsein für sich, das heißt auf die griechische und römische Antike, die phönizische Handelsmacht oder das katholische Rom beschränkt. Nur Griechen und Römer bestimmen sich als Freie, während alle anderen zivilisatorisch Andere oder Fremde bleiben, Barbaren oder Heiden.

Erst mit der Umsegelung der Erde und der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus wird laut Kapp das letzte und zugleich höchste Stadium der Kulturbildung erreicht, die "ozeanische Kultur". Das gesamte Weltmeer wird nun Gegenstand, Teil und Bedingung des Politischen, die Weltgeschichte und das Freiheitsbewusstsein kommen an ihr Ende, der Geist erklimmt den Mount Everest des Allgemeinen, er wird an und für sich. Trotzdem er in der Gegenwart angekommen ist und überall präsent scheint, bleibt der Weltgeist und die ozeanische Kultur bei Kapp doch merkwürdigerweise lokal und beschränkt.

Das Ozeanische schart sich ausschließlich um den Atlantik, jenem Teilmeer also, das von Amerika und Europa umsäumt wird und von Geopolitikern später nur als Extension des Mittelmeers angesehen wird. Sowohl der nach Süden hin immer weiter sich öffnende Pazifik als auch der Indische Ozean bleiben peripher, während andere Großreiche wie das mongolische, das arabische, das aztekische oder das der Inkas für die Höherbildung uninteressant bleiben.

Der Atlantik ist bei Kapp dazu bestimmt, "den Fortschritt der Weltgeschichte [...] über die ganze bewohnte Erde weiter zu tragen, dass von den entferntesten Puncten derselben die Rückkehr nach Europa stets über ihn führt, dies sichert ihm für alle Zeiten seine Bedeutsamkeit."

Dieser Ethnozentrismus, den Kapp der Reichs- und Kulturentwicklung insgesamt unterstellt, ermöglicht es ihm, die Stufen in Handlungsfelder bestimmter Völker umzudeuten. So wie die potamische orientalisch und die thalassische griechisch-römisch definiert werden, so wird die ozeanische Periode von ihm als germanische ausgelegt. Weil aber diese Stufe Ende des 19. Jahrhunderts von der "Weltmeernahme" Englands, nach Carl Schmitt der ersten Raumrevolution überhaupt, dominiert wird, muss es zwangsläufig zum Clash of Civilisations zwischen dem angelsächsischen Empire und dem neugermanischen Rivalen und Emporkömmling kommen. Als räumliche Mitte ("Mittellage") ist Deutschland für Kapp das geografische Maß und jenes Land der Zukunft, das im ozeanischen Zeitalter die verschiedenen Mentalitäten, Sprachen und Kulturen zum Ausgleich bringt.

Solange dieser Konflikt zwischen den Kulturen aber weiter schwelte und der endzeitlichen Lösung harrte, hielt Kapp die ozeanische Stufe für unvollendet. Ihr deutsch-germanischer Abschluss, mit dem das Natürliche endgültig verschwinden sollte, der Weltgeist seine wahre Gestalt finden und die politische Geografie ihre Ende in der Weltgeschichte, der Weltwirtschaft, der Weltpolitik und der Weltkultur finden sollten, stand also noch aus. Erst WK I, der von dieser Weltlage und diesem Konflikt bestimmt war, wird darüber Auskunft geben - allerdings mit, wie man weiß, geopolitisch völlig anderen Ergebnissen und politischen Konstellationen, als Kapp sich das zu Lebzeiten vorstellen wollte oder konnte.

Der Besiegte des Weltkriegs ist ganz Europa gewesen und der Gewinner Amerika.

Richard Henning

Spätere Kritiker Kapps, wie beispielsweise die deutschen Geopolitiker Kurt von Boeckmann und Karl Haushofer, haben denn auch die kulturelle Begrenztheit der ozeanischen Stufe moniert, ihre Verkürzung auf die westlich-abendländische Zivilisation und die Gleichsetzung des Universellen mit dem Atlantischen.

Um dieser geografischen und kulturellen Enge zu entgehen, fügten sie ihr deshalb bald ein viertes Stadium der Kulturentwicklung hinzu, die pazifische Periode. Sie sollte die atlantische, die bereits von den angloamerikanischen Seemächten okkupiert war, ablösen. Sowohl Boeckmann als auch Haushofer sahen die Zukunft des Universellen, und damit das Heil Deutschlands, im asiatisch-indopazifischen Raum. Nach dorthin, wo die Raumweite des Pazifik andere Horizonte der Größe, der Landschaft und des Lebens erzeugt, Klima, Landschaft und Küstengebiete differente Mentalitäten, Gewohnheiten und Lebensformen gebären, sollte das Politische auswandern, nicht nur um sich neuen Lebensraum in Form von Kolonien imperial einzuverleiben, sondern auch, um sich gegen die "Anakondapolitik", wie Haushofer die anglo-amerikanischen Einkreisung bald nannte, erfolgreich zur Wehr zu setzen.

Erneut erweist sich hier Kultur als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Wie man weiß, haben die nationalen Sozialisten diesen geopolitischen Rat Haushofers befolgt und einen Pakt zwischen bolschewistischen Kommunisten, japanischem Gottkaisertum und germanischen Nordlichtern geschlossen. Doch auch die Achse Berlin-Moskau-Tokio, die das Deutsche Reich quer über den eurasischen Kontinent mit dem fernöstlichen Anker schloss, konnte nichts daran ändern, dass der Weltgeist der Vernunft ein Schnippchen schlug und sich nach dem totalen Crash Deutschlands im WK II nach einem anderen Träger umsah. Und dieser weltpolitische Akteur sind seither die USA.

Spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges stehen sie auf diesem Sektor konkurrenzlos da. Schon aufgrund ihrer "insularen Lage" ist die einzige Weltmacht prädestiniert, eine weltumspannende Orientierung einzunehmen und die angelsächsische Seeherrschaft über die Welt in noch größerem Stil fortzusetzen. Und während sie durch weltweite Militärpräsenz und ihre waffentechnologische Überlegenheit die verschiedenen Raum- und Zeitkulturen vereinen und die atlantische und die pazifische auf einen höhere Stufe hieven, bieten auch Verfassung, mythisch-religiöses Sendungsbewusstsein und kulturelles Selbstverständnis die Gewähr, dass die widerstrebenden und divergierenden Mentalitäten zu hybriden oder universalen Kulturen verschmelzen. Das universale Stadium der Kulturentwicklung, nach Rudolf Kjellén die "planetarische Epoche der Menschheit", wird jetzt von den USA eingeleitet, besetzt und vollendet.

Da jedes Zeitalter aus seinen Raumgrößen das Maß seines Urteils schöpft Und zugleich unter der Herrschaft der Zunahme des politischen Raums steht, sehen wir in der Gegenwart nicht bloß Reiche vor einer Ausdehnung, die dem Altertum fremd war, sondern noch weitergehende Raumtendenzen, die zu den Besonderheiten der neuesten Geschichte gehören.

Friedrich Ratzel

Die Geografie im Allgemeinen und das Meer im Besonderen zum privilegierten Ort und Konfliktfeld des Poltischen zu machen, ist jedoch keine ausschließlich deutsche Spezialität. Auch für den amerikanischen Admiral Alfred Thayer Mahan (1840-1914) stellt das Meer das Urmedium für Verständigung und Handel, für Kommunikation und Kommerz dar. Und das nicht nur, weil es das Bewusstsein für das Ungewisse und Unendliche weckt, die besonders Wagemutigen und Risikobereiten zum Befahren unbekannten Terrains herausfordert und durch seine Eroberung die weit voneinander getrennten "Weltinseln" in eine Totalität zwingt. Sondern auch, weil es die Kräfte, Sehnsüchte und Fantasien der Völker, Gemeinschaften und Nationen anstachelt, ihren politischen und kulturellen Fortschritt fördert und soziale Kontakte und Beziehungen unter ihnen ermöglicht und vervielfältigt.

Darum sind "Seeschäumer" und Seemächte immer auch Anhänger des freien Weltmarkts und die Motoren und Beschleuniger der technischen Evolution. In seiner Fremdheit stellte das Meer ungleich höhere Anforderungen an den technischen Verstand des Menschen als das Land. Darüber hinaus übten Seemächte in der Weltgeschichte auch eine kultivierende und zivilisatorische Funktion aus, sie öffnen die Tür für Fremdes und Exotisches und treiben dadurch Völker und Menschengruppen aus ihrer räumlichen und kulturellen Isolation heraus. Andererseits sind ihre Machtmittel, Reichweiten und Interventionsmöglichkeiten aber auch beschränkt. Weil sie vorwiegend auf den Zugang zu Küsten angewiesen sind, sind ihrer Expansion und territorialen Raumnahme enge Grenzen gesetzt. Mahan folgert daraus, dass Seemächte deswegen mehr auf Ausgleich bedacht sind und den Frieden suchen (defensive Raummächte), während Landmächte eher dazu neigen, fremden Völkern mit Gewalt ihren Willen aufzuzwingen (offensive Raummächte).

In der Neuzeit ist England Erbe und Träger des Maritimen und damit Vorreiter des Ozeanischen gewesen. Es wurde, wie Carl Schmitt sagt, "Herrin der See" und errichtete "ein in allen Erdteilen verstreutes britisches Weltreich". Weil die englische Welt weniger erd- und heimatverbunden als in "Stützpunkten und Verkehrslinien" dachte, machte sie das Jahrhunderte lang all jenen Völkern überlegen, die wegen der geografischen Topografie (Täler, Gebirge, Steppen, Wüsten Hochebenen ...) unter verengten Horizonten leiden und fragmentierte Lebensbedingungen entwickeln.

Der Rohstoff jedoch, aus dem die machtpolitischen Träume gestrickt werden und auf den die begehrlichen Blicke der Händler, Welteroberer und Weltbeglücker gerichtet sind, lagert aber nicht im Meer, sondern auf dem Festland. Geografisch sind diese Schätze auf der Erde höchst unterschiedlich verteilt. Die Gegend, die den größten materiellen Reichtum der Erde beherbergt, ist laut Sir Halford Mackinder (1861-1947) die eurasische Landmasse.

Für den Briten und politischen Geografen avanciert sie deshalb zum pivot, sie ist Herzland und mithin potentielles Macht- und Gravitationszentrum der Erde. Um ein Kerngebiet, das vom unzugänglichen Eismeer im Norden über eine ausgedehnte Trockenzone von Wäldern und Steppen bis zu den Gebirgslandschaften und Wüstengebieten im Süden reicht, schließt sich ein innerer Ring von Landstrichen (inner crescent) an, die äußerst dicht besiedelt sind und Zugang zum Meer haben. Diesen wiederum umgibt ein zweiter, äußerer Gürtel (outer crescent), der ozeanisch beschaffen ist und die übrige Welt beinhaltet, Amerika, Japan, Australien usw. Wer den Pivot technisch erschließt, organisatorisch meistert und sich die Bodenschätze unter den Nagel reißt, dessen ist sich Mackinder sicher, beherrscht auch den Planeten.

Für Seemächte bleibt diese Weltgegend aber weitgehend unzugänglich. Andere Technologien werden zu ihrer Eroberung benötigt, Verkehrs- und Kommunikationsmittel wie Dampfross, Telegraf und Luftfahrt also, die sich infolge der Industrialisierung und Maschinalisierung der Technik, der nach Carl Schmitt zweiten Raumrevolution, einstellen. Sie privilegieren, auch dessen ist sich Mackinder bewusst, eindeutig die Landmächte. Diesen Kontinent technisch zu erobern und zu bestellen, ist das Russenreich geografisch am besten in der Lage. So wie Deutschland in Europa, nimmt Russland in Asien die zentrale strategische Position ein.

Sollte es Russland gelingen, Zugang zum Meer im Süden zu bekommen, wäre für Mahan und Mackinder die Balance of Power eklatant bedroht. Und sie wäre wohl auch bedroht, wenn es zu einer Allianz zwischen Deutschland und Russland oder China und Russland kommen würde. Da aber jeder Staat im inner crescent (Rimland) ein potentieller Brückenkopf oder Dominostein darstellt, kann eine enge Allianz der Seemächte mit Staaten dieses Bereichs eine solche Hegemonie durchkreuzen und das Machtgleichgewicht dort wieder herstellen. Auch wenn Mackinder nach dem Ende von WK I den Pivot in den Nahen Osten verlagert und Arabien und Europa zum strategischen Kreuzungspunkt zwischen dem nördlichen (Asien) und südlichen (Afrika) Herzland aufwertet, fallen dem aufmerksamen Beobachter die historischen und geopolitischen Kontinuitäten des Krieges in Zentralasien förmlich in den Schoß.

Man sieht den Beginn des Afghanistankrieges von 1979 vor sich, die ordnungspolitischen Interessen, die den Einmarsch der Sowjettruppen in Kabul, die finanzielle und waffentechnologische Hilfe der Mujaheddin durch den amerikanischen Geheimdienst und den Krieg in Zentralasien gespeist haben und nähren. Und man erkennt sofort die geostrategische Rolle, welche die EU-Osterweiterung und die Integration der Türkei, der geopolitische Pluralismus in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und die Fortsetzung der Stützpunktpolitik in Arabien, in Fernost und anderswo für die Seemacht und "größere Insel" Amerika spielen. Insofern ist diese Großraum- und Weltbeherrschungspolitik, wie sie die USA, ihre demokratischen Vasallen und ihre Geopolitiker derzeit propagieren und mit Hilfe der politischen Theologie der Menschenrechte und friedensschaffender Interventionspolitik durchsetzen, nichts Neues unter der Sonne. Bei Mahan und Mackinder, aber auch bei Haushofer ist sie längst ausgearbeitet.

Hier genügt es zu konstatieren, dass alle Staaten bis in unsere Tage ein stetes Ausdehnungsbedürfnis haben.

Karl Kautsky

Die Kulturkreislehre Sam Huntingtons sowie die Geostrategie Brzezinskis lehren das. Auf Mackinder und Haushofer wird dort nicht nur explizit Bezug genommen. Auch Friedrich Ratzels Gesetz des räumlichen Wachstums, Erich Obsts Idee von "Großraum-Blöcken" oder Otto Maulls faustischer Drang, die Erde in eine "Ökumene" zu verwandeln, finden Eingang und Aufnahme. Falsifiziert werden sie aber nicht allein schon dadurch, weil Propagandisten der funktionsdifferenzierten Weltgesellschaft diese Geo- und Machtpolitiken wissenschaftlich nicht für satisfaktionsfähig halten. Damit sie nicht Gefahr laufen, wie ihr kritischer Gegenspieler, dem Kontrafaktischen anheimzufallen, müssten sie redlicherweise vielmehr prüfen, ob ihre Begrifflichkeiten Realpolitiken der Vor- und Zwischenkriegszeit und an ihren modernen Spielarten standhalten.

Sicherlich speist sich Machtpolitik inzwischen auch aus anderen Quellen als der Geografie. Durch die dritte Raumrevolution, die Elektrizität und Elektromagnetismus, das Luft- und Funkwesen ausgelöst und bewirkt haben, übt der Raum längst nicht mehr diese schicksalhafte Macht auf Menschen, Politik und Kultur aus wie früher. Zu Boden und Meer hat sich als drittes Element, Medium und Waffe die Luft in ihren verschiedenen Ausdifferenzierungen dazugesellt. Auch wenn Funkwellen und Datenpakete in Echtzeit um den Erdball schießen und den welthistorischen Gegensatz von Raum und Zeit, von Seemächten und Landmächten in "Luft" auflösen, sind Geografie und Territorium nicht uninformativ oder irrelevant.

Die USA, die erste Raummacht, die in allen Elementen zuhause ist und planetarisch operiert, haben es jüngst schmerzlich erfahren müssen. Raum und Territorium schlugen zurück. Ihr räumliches, politisches und kulturelles Wachstum bekam durch Nomaden und Bewohner der Wüste einen gewaltigen Dämpfer verpasst. Die vage Erwartung der Europäer, dass Amerika umkehre, die Macht mit anderen teile und sie an internationale Organisationen übertrage, erwies sich als Trugschluss (Und morgen die ganze Welt) Sie übersah, dass das Gesetz wachsender Räume, das Friedrich Ratzel vor fast einem Jahrhundert entdeckte, nicht nur aus Zellteilungen besteht, die sich nach hypertrophem Wachstum einstellen, sondern noch eine andere Variante besitzt. Nach Ratzel bekommt das Wachstum der Räume seinen Anstoß und seine Anregung stets von außen. Das Randständige sorgt mithin für eine neue Ausdehnung Roms.

Folglich hätte der Angriff auf die Twin Towers die USA in ihrem Hegemoniestreben und Welteroberungsabsichten sowie in ihrem Glauben, "auserwähltes Volk" und "gelobtes Land" zugleich zu sein, erst richtig bestärkt. Eine "Ökumene", die Jeans und Cowboystiefel trägt, schlechte Essgewohnheiten hat und schlechtes Englisch spricht, wäre mithin nicht mehr fern.