Wählen, wo man zu Hause ist
Wahlkreise und Landeslisten waren dazu gedacht, die regionale Gebundenheit der Abgeordneten zu sichern. Aber was heißt schon regional in Zeiten der Mobilität?
Das deutsche Wahlsystem, vor allem das zum Bundestag, ist eine Mischung aus gesamtdeutscher Verhältniswahl, bundeslandbezogenen Listen und lokaler Direktwahl. Das macht es unglaublich kompliziert und die Details sind immer wieder Grund zu Streit, der bis zum Bundesverfassungsgericht getragen wird.
Die dahinter stehende Idee ist aber vernünftig: Deutschland ist ein föderaler Staat, zusammengesetzt aus ganz unterschiedlichen Bundesländern. Das ist aber nicht der Grund für die Regionalisierung der Politik, sondern selbst schon eine Folge der Tatsache, dass die Bundesrepublik ein außerordentlich inhomogenes Land mit ganz verschiedenen Teilen ist. Das merkt man nicht nur an der Sprache und den unterschiedlichen Bräuchen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse und die kulturellen Traditionen sind ebenso vielfältig wie die natürlichen Lebensbedingungen und die Mentalitäten der Bürger. Das ist letztlich die Ursache dafür, dass der Föderalismus sich auch nicht einfach beseitigen lässt, dass trotz immer wieder aufkommender Versuche keine Zusammenlegung von Bundesländern möglich ist und dass es manchmal wahrscheinlicher zu sein scheint, dass aus einem Bundesland noch einmal zwei entstehen, als dass zwei Bundesländer fusionieren.
Deshalb ist es auch keine gute Idee, auf die Landeslisten bei der Bundestagswahl zu verzichten und Bundeslisten einzuführen, auch wenn dies das lästige Problem des negativen Stimmengewichts beseitigen würde. Das große Hauen und Stechen der Regionen würde neue Nahrung erhalten, so wie sich heute schon die Westfalen über die Vormacht der Rheinländer in NRW beschweren.
Auch der Verzicht auf die Direktmandate aus den Wahlkreisen, die in der Kombination mit der Verhältniswahl von Listen zu Überhangmandaten führen, ist problematischer als die Befürworter einer reinen Verhältniswahl meinen. Über die Wahlkreisabgeordneten wird die Lokalpolitik in den Bundestag getragen und es ist gut, dass wirklich jeder Flecken der Republik im Berliner Parlament vertreten ist. Denn Bundespolitik hat meistens auch einen lokalen Aspekt, weil das, was auf Bundesebene beschlossen wird, lokal umgesetzt werden muss, sei es der Ausbau von Stromtrassen oder die Entscheidung über Bundeswehrstandorte. Wahlkreisabgeordnete sollen, egal, ob sie das Direktmandat errungen haben oder über die Parteiliste ins Parlament gekommen sind, die Beschlüsse vor Ort vermitteln oder die Interessen ihrer eigenen Wähler im Parlament, in den Ausschüssen und Fraktionen vertreten.
Wo sollen Bürger des digitalen Landes wählen?
Damit diese lokale und regionale Bindung halbwegs funktionieren kann, muss jedoch vorausgesetzt sein, dass die Wähler selbst mit dem Ort, an dem sie wohnen, in hohem Maß verbunden sind, dass ihnen der Flecken Erde, wo ihr Bett steht und wo sie zum Supermarkt gehen, um die Dinge des täglichen Bedarfs zu erwerben, etwas bedeutet, dass ihnen ein Stück Land, eine Straße, eine Stadt oder ein Dorf und der Wald, die Felder drum, herum etwas wie Heimat sind. Das ist aber, so lässt sich ganz unsentimental sagen, immer weniger der Fall. Menschen ziehen dahin, wo die Arbeit ist, die ihnen zusagt oder die sei zum Leben brauchen, und mit den Arbeits- und Karrierechancen ziehen sie weiter. Verkehrsnetze ermöglichen, dass Arbeitsplatz, Einkaufsort, Wohnort weit auseinander liegen.
Die Zuordnung zu einem Wahlkreis ist für die Wählenden willkürlich, aufgrund alter Gesetze müssen sie da wählen, wo sie ihre Wohnung haben, obwohl sie vielleicht dem Ort, an dem sie arbeiten, weit mehr verbunden sind. Die Leute, die sie kennen, mit denen sie sich gemeinsam politische Meinungen bilden, treffen sie längst nicht mehr in der Kneipe nahe dem Schlafplatz, sondern in der Kantine oder an der Kaffeemaschine im Büro.
Durch die sozialen Netze des Internet wird dieser Trend nur verstärkt, er ist nicht neu mit dem Netz entstanden. Aber: Hier entstehen nun neue Regionen, neue Orte, neue Heimat. Die Rede vom digitalen Eingeborenen und der Streit, wer sich nun als Siedler, wer als Eingeborener und wer als Zuwanderer bezeichnen darf oder muss, verweist ja darauf, dass hier wirklich so etwas wie ein neues Land entstanden ist. Hier werden politische Debatten geführt, die an Intensität und Vielfalt die Diskussionen an Stammtischen und in Vereinen längst übertreffen dürften. Und hier entstehen ebenso regionale Konfliktherde, wie es Autobahnrastplätze oder ehemalige Kasernengelände sind, Streitobjekte, bei denen die Bewohner des digitalen Landes durchaus unterschiedlicher Meinung sind. Es sind die so genannten Netzthemen, die den Leuten, die nicht im Netz, sondern in Rostock oder Garmisch-Partenkirchen wohnen, ebenso egal sind wie den Netzbewohnern die Zahl der Fahrspuren einer Autobahn, auch wenn sie ihr Notebook zufällig Tag für Tag unweit dieser Straße aufklappen. Die Entfernung zu einem politischen Problem bemisst sich nicht in Metern.
Die Konsequenz lautet allerdings nicht, das Regionalitätsprinzip in der Politik abzuschaffen. Vielmehr müssen wir damit umgehen lernen, dass neue Regionen entstehen. Warum nicht Wahlkreise für soziale Netzwerke einrichten, und eine Landesliste fürs Internet? Das würde den Menschen, die im Netz zu Hause sind, auch einen Ort geben, an dem sie sich ihre politische Heimat suchen können.
Auch im Netz gibt es verschiedene Regionen. Vielleicht sollte es einen Wahlkreis für die "Blogosphäre" geben, und einen für die Twitterer, und selbstverständlich bekommen auch die Facebook-Fans ihren eigenen Wahlkreis. Mit einem kleinen Bundesland kann dieses Wahlgebiet es sicher schnell aufnehmen.
Wahl in einem Online-Wahlkreis
Denkbar wäre, dass die Wahlberechtigten sich rechtzeitig vor der Wahl für die Wahl in einem Online-Wahlkreis registrieren würden. Aus der Zahl der registrierten Online-Wähler wird dann die Zahl der Wahlkreise ermittelt, zunächst als zusätzliche Mandate zu den herkömmlichen Landeslisten. Wenn stabile Zahlen darüber vorliegen, wie viele Menschen sich für einen Internet-Wahlkreis entscheiden würden, könnte die Anzahl der regional orientierten Wahlkreise Stück für Stück reduziert werden.
Das eigentliche Verfahren der Wahl in einem Online-Wahlkreis ist genau genommen mit der Briefwahl schon etabliert: Die Wahlberechtigten bekommen, solange keine sicheren und allgemein akzeptierten Verfahren der Online-Wahl existieren, die Wahlunterlagen auf dem Postweg zugeschickt und senden sie rechtzeitig zum Wahltermin an das Online-Wahlamt zurück. Und im Wählerverzeichnis des Stimmbezirks am Wohnort bekommt man einen Sperrvermerk, so wie er bei Briefwählern auch eingetragen wird, sodass keine Doppelwahl möglich ist.
Wahlkreise im Internet zu definieren und Landeslisten für das Web zur Bundestagswahl zuzulassen, das klingt nach einem fernen Traum. Doch es ist nicht nur eine gute Möglichkeit, die Piratenpartei mit drei Direktmandaten und damit eigener Fraktion in den Bundestag zu bringen. Auch für die sogenannten etablierten Parteien hat die Sache ihren Charme, denn alle leiden unter der sinkenden Wahlbeteiligung, die die Kluft zwischen Wählenden und Repräsentierenden immer größer macht. Man muss als politische Partei die Menschen da erreichen, wo sie sind. Das gilt nicht nur für die Wahlwerbung, sondern auch für den täglichen Austausch. Und immer mehr Menschen sind im Internet – warum sollten sie nicht auch dort wählen?