Wahlrecht: Weniger Demokratie wagen
Seite 2: Kein Ende, sondern der Beginn der Debatte
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Die Bevölkerung sollte die Chefin sein, sie bezahlt und wählt die Abgeordneten. Doch beeinflussen – das machen nur andere. Nebenverdienste, Lobbykontakte und Vetternwirtschaft zeichnen besonders erfolgreiche Politiker aus. Selbst korrupte Machenschaften wie bei den Maskendeals bleiben straffrei, die Regeln gibt man sich selbst und die Gerichte sind dagegen machtlos. Auch da bröckelt die Gewaltenteilung.
Die Menschen werden rausgehalten, es gibt keine plebiszitären Elemente auf Bundesebene, und Petitionen haben keinen Einfluss. Wahlkreisbüros, Mails von Privatpersonen und Bürgersprechstunden werden kaum noch ernst genommen.
Die Anzahl der Mitglieder und die aktive Beteiligung von Parteien sind stark zurückgegangen. Also warum geht die Wahlbeteiligung wohl zurück, warum fühlen sich immer weniger Menschen in den Parlamenten repräsentiert? Sieht so unsere Idealvorstellung einer Demokratie aus?
Man hätte die Wahlrechtsreform nutzen müssen, um die Repräsentanz zu steigern und mehr Menschen wieder zur Wahlurne zu bringen. Ja, wählen zu dürfen, ist ein Privileg, aber nur dann, wenn man damit wirklich was verändern und entscheiden kann.
Die Resonanz zwischen Volksvertretung und Bevölkerung und das Gefühl der Menschen, sich vertreten zu fühlen, ist für eine Demokratie zentral. Dies gilt umso mehr, wenn die gewählte Art der Demokratie auf die Repräsentation abzielt und Parteien und die Wahl in den Mittelpunkt stellt. Statt einer halbgaren weiter einschränkende Wahlrechtsreform brauchen wir endlich umfangreiche Debatten über die Wirkungsmöglichkeiten in der Demokratie.
Die Opposition hatte zur Wahlrechtsreform eigene Vorschläge eingebracht. Die Linken wollten das Wahlrecht etwa auf 16 Jahre herabsetzen. Natürlich wurden alle abgelehnt. Mittlerweile gibt es Vorschläge aus den Reihen der SPD, die Fünfprozenthürde auf vier Prozent zu reduzieren – offenbar aus Angst vor Verfassungsklagen.
Die Union wird das Wahlrecht in der nächsten Regierung sicherlich auch wieder ins Visier nehmen, um ihre Parteitaktik durchzusetzen. Die Debatte ist also nicht vorbei und sollte endlich von den Betroffenen übernommen werden: Die Zivilgesellschaft sollte sich einmischen, Vorschläge ausarbeiten, bündeln und Druck ausüben.
Aktivierende Wahlreform und echte Repräsentanz
Wir brauchen schnell eine aktivierende Wahlrechtsreform. Natürlich bedarf es dazu mehrerer Reformansätze und Bausteine, die nur in der Summe einen wirklichen Effekt versprechen. Dabei müssen alle Maßnahmen immer wieder überprüft und wenn notwendig angepasst werden.
Ich habe dazu mehrfach Vorschläge unterbreitet, werde dies aber pünktlich zur kommenden Debatte noch einmal umfassender im Austausch und Zusammenspiel mit einigen Vereinen und Initiativen tun.
Dann muss auch die ganze Zählweise, die Anzahl der Mandate und die Aufteilung in Erst- und Zweitstimme auf den Tisch. Hier aber schonmal ein Abriss der wichtigsten Aspekte.
Wahlkreise
- Natürlich sollte die Größe des Bundestags begrenzt werden. Die Erststimme sollte unbedingt erhalten bleiben.
- Nur wenn mindestens 67 Prozent (zwei Drittel) in dem Wahlkreis zur Wahl gehen, gibt es ein Mandat. Dies würde dazu führen, dass die Parteien sich vor Ort mehr als nur in einem Wahlkampf bemühen.
- Durch die Wahlkreise würde sichergestellt, dass alle Regionen auch im Bundestag vertreten wären, dazu müssen aber auch die Abgeordneten ihrem Wahlkreis verbunden sein. Ein Wahlkreisbüro und regelmäßige Sprechstunden vor Ort müssten verpflichtend sein. Immer weniger Abgeordnete wohnen mit dem Erstwohnsitz noch in ihrem Wahlkreis. Auch in den Nichtsitzungswochen sind sie kaum mehr vor Ort. Wahlkreisbüros werden seltener und werden häufig als Unterstützung den Parteibüros angegliedert.
- Kandidierende ohne Partei oder von einer Partei, die nicht im Bundestag vertreten ist, müssen für ihre Kandidatur nur Unterschriften im Wahlkreis sammeln, was auch online umgesetzt werden muss.
Jede Zweitstimme zählt
- Nach der Stimmenanzahl der Zweitstimme werden alle anderen Mandate verteilt. Die Fünfprozentklausel entfällt. Als Hürde gilt die benötigte Stimmanzahl, die für mindestens ein Mandat ausreicht.
- Parteimandate der Erststimmen werden von dem Budget der Zweitstimme abgezogen. Für die Zweitstimme sind Bundeslisten und keine Landeslisten aufzustellen. Es ist eine Bundestagswahl, und die Verankerung der Regionen wird über Erststimme sichergestellt. Welche Vertreter die Parteien aufstellen und wie sie diese Kandidaten auswählen, bestimmen die Parteien selbst, aber je nach Wahl auch genau die jeweilige Ebene.
- Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, müssen nur eine bestimmte Anzahl Unterstützungsunterschriften im ganzen Bundesgebiet sammeln und können dann im ganzen Bundesgebiet antreten.
Wahlbeteiligung
- Fällt die Wahlbeteiligung unter 80 Prozent, dann bleiben die Sitze, die unter diesen 80 Prozent eigentlich zu vergeben sind, unbesetzt und symbolisch frei. Dann würde endlich die sinkende Wahlbeteiligung als Problem erkannt und diskutiert werden. Es wäre ein öffentliches Thema, weil es genau dann um einen Verlust von Macht und Geldern ging. Das Bemühen um eine höhere Wahlbeteiligung aller Parteien würde wachsen. Alternativ könnten die Plätze auch verlost werden.
Weitere Repräsentanz
- Das Wahlalter muss in jedem Fall herabgesetzt werden. Junge Menschen tragen immer mehr Verantwortung und müssen die Folgen der ganzen Entscheidungen und Krisen am längsten ertragen. Es ist ein Witz, dass aber die Senioren die Wahl eigentlich entscheiden.
- Insgesamt muss die Repräsentanz vielfältiger werden. Dazu müssen Vorschläge erarbeitet werden. In der Vorgabe für die Reformkommission wurde zumindest das Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern angesprochen. Unerwähnt bleiben viele andere Merkmale. Das höchste Ungleichgewicht herrscht zwischen Akademikern und Menschen ohne Studium. Weit über 80 Prozent im Bundestag sind Akademiker, die meisten davon aus ganz wenigen Berufsgruppen. In der Bevölkerung sind es unter 20 Prozent. Nirgends in der Demokratie ist eine so große Gruppe so unterrepräsentiert.
Erweiterte Parlamentsreform
Eine echte Wahlreform, auch wenn sie an einigen Stellen anders ausfallen würde wie dargelegt, wäre sicher ein Meilenstein. Dennoch müsste sie ergänzt und erweitert werden durch andere demokratische Elemente. Eine weitere Stärkung der Resonanz, der Zivilgesellschaft und klare Regeln für die Profipolitik sind zwingend notwendig.
Dazu gehört die hier schon angerissene Debatte um die Gewaltenteilung. Denn dieses Prinzip existiert nur noch als Fassade. Wir brauchen zudem die Eingrenzung des einseitigen Profitlobbyismus; ein Ethik-Kodex für Abgeordnete; die Aufwertungen von Petitionen, gemeinnützigen Vereinen und weiteren Beteiligungsmöglichkeiten. Zu diesen Beteiligungsmöglichkeiten gehören etwa thematisch und zeitlich begrenzte Gesellschaftsräte.
Die größte Herausforderung steckt aber in der Frage, ob eine repräsentative Demokratie oder eine Parteiendemokratie in dieser Zeit und mit diesem Vertrauensverlust überhaupt noch eine Zukunft haben kann, ob wir nicht längst in einer marktkonformen Fassadendemokratie gelandet sind.
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