Wahlrecht: Weniger Demokratie wagen
Bundestag soll wieder kleiner werden. Ampel verhindert aktivierende Wahlreform und mehr Demokratie. Repräsentanz der Bevölkerung weiter geschwächt. Eine Hintertür gibt es aber noch.
Ende der Gewaltenteilung
Unser Wahlgesetz schreibt 598 Abgeordnete vor, doch diese Anzahl wurde im Bundestag immer weiter überschritten. Schon vor über fünf Jahren sollte das Parlament deshalb eine Reform auf den Weg bringen, um die Verringerung der Sitze selbst in die Hand zu nehmen.
Allerdings geht es eigentlich um viel mehr – und eine grundlegende Neustrukturierung ist längst überfällig, auch weil das Parlament sehr wenig auf gesellschaftliche Veränderungen und gar nicht auf die zunehmend gestörte Resonanz zwischen Profipolitik und Bevölkerung reagiert hat.
Neu ist: Die Demokratie wurde in einem immer stärkeren Maße dem Wirtschaftssystem angepasst. Angela Merkels Begriff von der "marktkonformen Demokratie" ist da sehr treffend. Doch dies stellt keine Errungenschaft dar. Es beschreibt eine Deformierung.
Viele demokratische Prozesse wurden entkernt, verkommen zur Fassade. Selbst beim Bundestag – die eigentliche Entscheidungsmitte – muss man diese Entwicklung ausmachen. Dies zeigt nun die Wahlrechtsreform, die eine der ureigensten demokratischen Angelegenheiten des Parlaments ist. Sie wird – wie fast alle wichtigen Entscheidungen – allein der Regierung überlassen.
Eigentlich müsste der gesamte Bundestag über eine Reform diskutieren, streiten und dann gerade in solch einer Frage ohne Parteitaktik und Fraktionszwang möglichst breit entscheiden. Aber auch hier geben die Protagonisten der Ampelregierung eine Reform vor, die brav von der Mehrheit der Abgeordneten ohne wirkliche Diskussion abgenickt und schöngeredet wird. Und so läuft es mit fast allen Gesetzen. Die Gewaltenteilung zwischen Regierung – also der Exekutive – und dem Bundestag – also der Legislative – ist nur noch Makulatur.
Änderungen gibt es im Bundestag kaum noch. Eigene Inhalte bekommt man nur noch im Wahlkampf und von der Opposition zu hören, deren Vorschläge prinzipiell abgelehnt werden.
Nach der Verabschiedung plagt dann zwar einige Abgeordnete ein schlechtes Gewissen. Sie sprechen von der "Faust in der Tasche", nehmen vielleicht sogar an Protestveranstaltungen teil. Im Plenum des Bundestag aber können sie ihrem Gewissen nicht folgen.
In der 18. Wahlperiode wurden im Bundestag 555 Gesetze beschlossen, davon stammen 488 direkt von der Regierung. Dazu kamen 46 von den Regierungsfraktionen – in Absprache und unter Erlaubnis der Regierung und zehn Gesetze vom Bundesrat. Nur an sechs beschlossenen Gesetzen waren zusätzlich noch Oppositionsparteien beteiligt!
Die Große Koalition hat keine Wahlrechtsreform beschlossen. Es gab ein parteitaktisches Scharmützel, bei der vor allem die Union ihre vielen zusätzlichen Überhangs- und Ausgleichsmandate retten wollte. Sie profitierte vom Stillstand, und so gibt es seit 2021 mit 736 Abgeordnete den größten Bundestag in seiner bisherigen Geschichte.
Verlust der Repräsentation
Jetzt ist eine neue Regierung am Ruder. Diesmal ging es ziemlich schnell mit der Reform. Natürlich ohne die Opposition und ohne wirkliche öffentliche Debatte unter Beteiligung der Bevölkerung. Die Verkleinerungsreform wurde Mitte März beschlossen.
Dafür feiern sich SPD, Grüne und FDP, und in der Bundestagssitzung fallen Worte wie "fair", "demokratisch" und "zukunftsweisend". Nicht erwähnt wurde von der Mehrheit, dass wieder die Parteitaktik im Vordergrund stand.
Denn die Reform reduziert die Sitze auch deshalb, weil nicht alle gewonnen Wahlkreise auch zu einem Mandat führen und weil drei gewonnene Wahlkreis eine Partei nicht mehr in den Bundestag bringen, wenn sie nicht gleichzeitig die Fünfprozenthürde nimmt.
Dies hieße für die letzten Wahlen beispielsweise, dass die Linke mit 4,9 Prozent nicht mehr als Fraktion im Bundestag eingezogen wäre. Gleiches könnte auch anderen Parteien blühen.
Die Anzahl der Abgeordneten ist jetzt natürlich zu hoch, aber es ist absurd, dass man die ganze Debatte um die Wahlrechtsreform darauf konzentriert. Viel wichtiger wäre eine Reform, die den Bundestag wieder zu einer Entscheidungsmitte machen würde.
Wichtiger wäre auch ein Parlament, welches offen um Entscheidungen ringen würde und unabhängig von Profitlobbyisten und wirtschaftlichen Verlockungen entscheidet. Es ist mehr als eine verpasste Chance, auch weil wir eine ignorierte Repräsentationskrise der Demokratie erleben. Dies habe ich schon im Artikel "Gewählte ohne Volk" dargelegt.
Umso wichtiger ist, darauf zu achten, dass die Bevölkerung wieder mehr und nicht noch weniger repräsentiert wird. Ich hatte dies für Berlin vorgerechnet. Von den etwa 3,7 Millionen Menschen, die in Berlin leben, werden im neuen Senat nur 1,3 Millionen – also nur gut ein Drittel der Bevölkerung – wirklich vertreten.
Nichtwahlberechtigte, Nichtwählende, Stimmen für Parteien, die unter fünf Prozent bleiben – all dies summiert sich zu einem immer größeren Anteil der Gesamtbevölkerung. Dieser Anteil würde nach der Wahlrechtsänderung auch im Bundestag steigen. Selbst von den bei der letzten Bundestagswahl real abgegebenen Stimmen haben schon vier Millionen nicht gezählt.
Bei einer Wahlrechtsreform hätten durch den Wegfall der Stimmen für die Linken (4,9 Prozent) dann noch weitere 2,3 Millionen Stimmen keine Wirkung gehabt. Weitere Millionen Stimmen könnten wegfallen, wenn die FDP und die CSU an den Rand der Fünf-Prozent-Hürde geraten.
Dies ist sicher keine Repräsentanzdemokratie mehr. Hier wird eine ignorierte Krise weiter verstärkt. Wenn bei Meinungsumfragen die Option "Keine der angegebenen Parteien" enthalten ist, wählt eine deutliche Mehrheit diese Antwort. (Beispiel: Repräsentative Umfrage Forsa für RTL und n-tv vom 21. Februar 2023: 55 Prozent für keine der Parteien. Angegeben waren alle im Bundestag vertretenen Parteien.)
Die Unzufriedenheit mit den Parteien wächst. Viele Menschen wählen deshalb schon nicht mehr die Partei, die ihnen eigentlich liegt, weil sie ihre Stimme nicht "verschenken" oder weil sie ein größeres Übel verhindern wollen.
Kein Ende, sondern der Beginn der Debatte
Die Bevölkerung sollte die Chefin sein, sie bezahlt und wählt die Abgeordneten. Doch beeinflussen – das machen nur andere. Nebenverdienste, Lobbykontakte und Vetternwirtschaft zeichnen besonders erfolgreiche Politiker aus. Selbst korrupte Machenschaften wie bei den Maskendeals bleiben straffrei, die Regeln gibt man sich selbst und die Gerichte sind dagegen machtlos. Auch da bröckelt die Gewaltenteilung.
Die Menschen werden rausgehalten, es gibt keine plebiszitären Elemente auf Bundesebene, und Petitionen haben keinen Einfluss. Wahlkreisbüros, Mails von Privatpersonen und Bürgersprechstunden werden kaum noch ernst genommen.
Die Anzahl der Mitglieder und die aktive Beteiligung von Parteien sind stark zurückgegangen. Also warum geht die Wahlbeteiligung wohl zurück, warum fühlen sich immer weniger Menschen in den Parlamenten repräsentiert? Sieht so unsere Idealvorstellung einer Demokratie aus?
Man hätte die Wahlrechtsreform nutzen müssen, um die Repräsentanz zu steigern und mehr Menschen wieder zur Wahlurne zu bringen. Ja, wählen zu dürfen, ist ein Privileg, aber nur dann, wenn man damit wirklich was verändern und entscheiden kann.
Die Resonanz zwischen Volksvertretung und Bevölkerung und das Gefühl der Menschen, sich vertreten zu fühlen, ist für eine Demokratie zentral. Dies gilt umso mehr, wenn die gewählte Art der Demokratie auf die Repräsentation abzielt und Parteien und die Wahl in den Mittelpunkt stellt. Statt einer halbgaren weiter einschränkende Wahlrechtsreform brauchen wir endlich umfangreiche Debatten über die Wirkungsmöglichkeiten in der Demokratie.
Die Opposition hatte zur Wahlrechtsreform eigene Vorschläge eingebracht. Die Linken wollten das Wahlrecht etwa auf 16 Jahre herabsetzen. Natürlich wurden alle abgelehnt. Mittlerweile gibt es Vorschläge aus den Reihen der SPD, die Fünfprozenthürde auf vier Prozent zu reduzieren – offenbar aus Angst vor Verfassungsklagen.
Die Union wird das Wahlrecht in der nächsten Regierung sicherlich auch wieder ins Visier nehmen, um ihre Parteitaktik durchzusetzen. Die Debatte ist also nicht vorbei und sollte endlich von den Betroffenen übernommen werden: Die Zivilgesellschaft sollte sich einmischen, Vorschläge ausarbeiten, bündeln und Druck ausüben.
Aktivierende Wahlreform und echte Repräsentanz
Wir brauchen schnell eine aktivierende Wahlrechtsreform. Natürlich bedarf es dazu mehrerer Reformansätze und Bausteine, die nur in der Summe einen wirklichen Effekt versprechen. Dabei müssen alle Maßnahmen immer wieder überprüft und wenn notwendig angepasst werden.
Ich habe dazu mehrfach Vorschläge unterbreitet, werde dies aber pünktlich zur kommenden Debatte noch einmal umfassender im Austausch und Zusammenspiel mit einigen Vereinen und Initiativen tun.
Dann muss auch die ganze Zählweise, die Anzahl der Mandate und die Aufteilung in Erst- und Zweitstimme auf den Tisch. Hier aber schonmal ein Abriss der wichtigsten Aspekte.
Wahlkreise
- Natürlich sollte die Größe des Bundestags begrenzt werden. Die Erststimme sollte unbedingt erhalten bleiben.
- Nur wenn mindestens 67 Prozent (zwei Drittel) in dem Wahlkreis zur Wahl gehen, gibt es ein Mandat. Dies würde dazu führen, dass die Parteien sich vor Ort mehr als nur in einem Wahlkampf bemühen.
- Durch die Wahlkreise würde sichergestellt, dass alle Regionen auch im Bundestag vertreten wären, dazu müssen aber auch die Abgeordneten ihrem Wahlkreis verbunden sein. Ein Wahlkreisbüro und regelmäßige Sprechstunden vor Ort müssten verpflichtend sein. Immer weniger Abgeordnete wohnen mit dem Erstwohnsitz noch in ihrem Wahlkreis. Auch in den Nichtsitzungswochen sind sie kaum mehr vor Ort. Wahlkreisbüros werden seltener und werden häufig als Unterstützung den Parteibüros angegliedert.
- Kandidierende ohne Partei oder von einer Partei, die nicht im Bundestag vertreten ist, müssen für ihre Kandidatur nur Unterschriften im Wahlkreis sammeln, was auch online umgesetzt werden muss.
Jede Zweitstimme zählt
- Nach der Stimmenanzahl der Zweitstimme werden alle anderen Mandate verteilt. Die Fünfprozentklausel entfällt. Als Hürde gilt die benötigte Stimmanzahl, die für mindestens ein Mandat ausreicht.
- Parteimandate der Erststimmen werden von dem Budget der Zweitstimme abgezogen. Für die Zweitstimme sind Bundeslisten und keine Landeslisten aufzustellen. Es ist eine Bundestagswahl, und die Verankerung der Regionen wird über Erststimme sichergestellt. Welche Vertreter die Parteien aufstellen und wie sie diese Kandidaten auswählen, bestimmen die Parteien selbst, aber je nach Wahl auch genau die jeweilige Ebene.
- Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, müssen nur eine bestimmte Anzahl Unterstützungsunterschriften im ganzen Bundesgebiet sammeln und können dann im ganzen Bundesgebiet antreten.
Wahlbeteiligung
- Fällt die Wahlbeteiligung unter 80 Prozent, dann bleiben die Sitze, die unter diesen 80 Prozent eigentlich zu vergeben sind, unbesetzt und symbolisch frei. Dann würde endlich die sinkende Wahlbeteiligung als Problem erkannt und diskutiert werden. Es wäre ein öffentliches Thema, weil es genau dann um einen Verlust von Macht und Geldern ging. Das Bemühen um eine höhere Wahlbeteiligung aller Parteien würde wachsen. Alternativ könnten die Plätze auch verlost werden.
Weitere Repräsentanz
- Das Wahlalter muss in jedem Fall herabgesetzt werden. Junge Menschen tragen immer mehr Verantwortung und müssen die Folgen der ganzen Entscheidungen und Krisen am längsten ertragen. Es ist ein Witz, dass aber die Senioren die Wahl eigentlich entscheiden.
- Insgesamt muss die Repräsentanz vielfältiger werden. Dazu müssen Vorschläge erarbeitet werden. In der Vorgabe für die Reformkommission wurde zumindest das Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern angesprochen. Unerwähnt bleiben viele andere Merkmale. Das höchste Ungleichgewicht herrscht zwischen Akademikern und Menschen ohne Studium. Weit über 80 Prozent im Bundestag sind Akademiker, die meisten davon aus ganz wenigen Berufsgruppen. In der Bevölkerung sind es unter 20 Prozent. Nirgends in der Demokratie ist eine so große Gruppe so unterrepräsentiert.
Erweiterte Parlamentsreform
Eine echte Wahlreform, auch wenn sie an einigen Stellen anders ausfallen würde wie dargelegt, wäre sicher ein Meilenstein. Dennoch müsste sie ergänzt und erweitert werden durch andere demokratische Elemente. Eine weitere Stärkung der Resonanz, der Zivilgesellschaft und klare Regeln für die Profipolitik sind zwingend notwendig.
Dazu gehört die hier schon angerissene Debatte um die Gewaltenteilung. Denn dieses Prinzip existiert nur noch als Fassade. Wir brauchen zudem die Eingrenzung des einseitigen Profitlobbyismus; ein Ethik-Kodex für Abgeordnete; die Aufwertungen von Petitionen, gemeinnützigen Vereinen und weiteren Beteiligungsmöglichkeiten. Zu diesen Beteiligungsmöglichkeiten gehören etwa thematisch und zeitlich begrenzte Gesellschaftsräte.
Die größte Herausforderung steckt aber in der Frage, ob eine repräsentative Demokratie oder eine Parteiendemokratie in dieser Zeit und mit diesem Vertrauensverlust überhaupt noch eine Zukunft haben kann, ob wir nicht längst in einer marktkonformen Fassadendemokratie gelandet sind.
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