Wahlrechtsreform: Ein Musterbeispiel für Machtmissbrauch
Die Lex "Wir machen das jetzt einfach mal zu unseren Gunsten", das Zündeln an der Demokratie und mögliche Alternativen. Warum nicht ganz ohne Prozenthürde auskommen? Ein Kommentar.
Sie haben es tatsächlich getan. Na ja, sie versuchen es zumindest. Ob es denn wirklich so durchgeht, werden die Gerichte entscheiden, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht. Sie – SPD, Grüne und FDP haben am 17. März dieses Jahres das Wahlrecht für die Bundestagswahl reformiert. Reformiert? Verbogen bis zum Quietschen, trifft es eher.
Das Problem des aktuellen Wahlrechts ist, dass durch die Überhang- und Ausgleichmandate statt wie vorgesehen 598 derzeit 736 Abgeordnete im Bundestag sitzen. Überhangmandate kommen zustande, wenn eine Partei in einem Landesverband mehr Direktmandate holt als ihr aufgrund der Zweitstimmen zu stehen.
Da jetzt die prozentuale Zusammensetzung nicht mehr stimmt, bekommen die anderen Parteien entsprechende Ausgleichmandate. Von solchen Überhangmandaten profitiert aktuell vor allem die CSU in Bayern (bei der letzten Wahl alle Direktmandate bis auf eines), sowie die AfD in Sachsen, aber auch SPD und CDU. Das blähte den Bundestag, Wahl um Wahl, auf.
Die Reform bringt zwei Probleme:
Erstens: Nach der Reform bekommen nur noch so viele Direktkandidat:innen (jeweils auf der Ebene der Landeslisten) in den Bundestag, wie ihrem prozentualen Wahlergebnis (Wahlergebnis in Prozent geteilt durch die Summe der Prozentanteile aller Parteien über fünf Prozent) entspricht.
Holt eine Partei mehr Stimmen, werden die Wahlkreissieger:innen mit den schwächsten Ergebnissen der Partei nicht in den Bundestag einziehen. Der Wahlkreis hat somit keinen Vertreter im Bundestag, es sei denn durch Zufall wäre einer der Listenkandidat:innen aus ebendiesem Wahlkreis oder eine konkurrierende, aber zunächst unterlegener Direktkandidatin einer anderen Partei rückt statt dieses Kandidaten ein.
Es erscheint kaum vertretbar, dass eine direkt gewählte Kandidatin nicht in den Bundestag einzieht, denn diese sind direkt vom Souverän, den Wähler:innen selbst, für den Bundestag bestimmt, während die Parteikandidat:innen den Parteiwillen repräsentieren.
Zudem wäre dem Zufall Tür und Tor geöffnet. Hat eine Kandidatin einen oder zwei starke Gegenkandidatinnen, die entsprechende Stimmenanteile abziehen, so hat die Wahlkreis-Bestplatzierte unter Umständen ein schlechtes Ergebnis, während ein anderer Kandidat bei noch schwächeren Gegenkandidaten ein gutes Ergebnis holt.
Zweitens: Erreicht eine Partei nicht die fünf Prozent bundesweit, so haben alle gewählten Direktkandidat:innen dieser Partei das Nachsehen. Bisher bekam diese Partei bei mindesten drei Direktkandidat:innen sogar Fraktionsstatus in einer Gesamtstärke entsprechend der Anzahl Sitze, die ihnen aufgrund der erreichten Prozentzahl zustanden. Auch das wäre hinfällig.
Dass Tatsache, dass Kandidat:innen einer Partei oder Liste, deren Partei womöglich keine Chance hat, die Fünf-Prozent-Hürde zu nehmen, die aber persönlich vom Souverän mandatiert werden, künftig keinen Sitz im Bundestag erhalten sollen, wird – dazu braucht es keine Hellseherei – zu langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht führen. Der Gang vor Gericht wurde bereits seitens der betroffenen Parteien angekündigt. Rücksichtlose Machtdurchsetzung
Das wirklich Üble an dem jetzt durchgeboxten Vorschlag, ist, dass hier die "herrschende Macht" rücksichtslos ihre Interesse durchsetzt. Klar geschädigt durch das Verfahren werden die aktuellen Oppositionsparteien Linke, CSU und AfD.
Kommt es in den nächsten Jahren mehrfach zu einem Regierungswechsel, was in den westlichen Demokratien ja nicht unbedingt unüblich ist, so würde vermutlich jede neue Regierung das Wahlrecht dann auf Basis der jetzt verabschiedeten Lex "wir-machen-das-jetzt-einfach-mal-zu-unseren-Gunsten" wieder zu ihren Gunsten ändern. Nicht so ganz im Sinn einer guten Demokratie!
Was tun?
Dabei ist es unstrittig, dass gegen die Auswüchse der Bundestagssitze sinnvollerweise etwas getan werden sollte. Spielen die Parteien nach demokratischen Regeln, böten sich folgende Optionen:
1. Einführung des Mehrheitswahlrechts (nur noch Direktkandidat:innen)
2. Einführung eines reinen Listenwahlrechts (nur noch Parteien werden gewählt, die bestimmen ihre Kandidat:innen über selbst aufgestellte Listen.
3. Deutliche Verringerung der Anzahl der Wahlkreise durch Vergrößerung des Einzugsbereiches. So gibt es bei 248 bis 250 kaum Abweichungen von der Vorgabe, weniger als 15-Prozent-Abweichung vom Durchschnitt, ganz im Gegensatz zum derzeitigen Modell.
4. Zumindest eine Absenkung der Fünf-Prozent-Hürde auf drei Prozent, oder die vollständige Abschaffung der Sperrklausel, wie vom Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2014 für die Europawahlen beschlossen wurde.
Lösungen 1 und 2 sind in Deutschland unrealistisch. Warum Lösung 3 nicht umgesetzt wird, müsste mal jemand erklären. Eine Senkung der willkürlich gewählten Fünf-Prozent-Hürde oder deren Abschaffung. Sie schließt zurzeit rund zehn Prozent Wähler:innen, die ihre Stimmen auf diverse Kleinparteien verteilen, vollständig aus. Bei den Europawahlen hat sich die abgesenkte Hürde jedenfalls nicht negativ ausgewirkt.
Auch neues Denken könnte das Problem lösen:
Warum zum Beispiel nicht nur die Wahlkreiskandidat:innen in den Bundestag schicken, aber jeweils die ersten beiden eines Wahlkreises? Das würde den kleineren Parteien entgegen kommen.
Eine weitere Möglichkeit wäre, das Wesen der Landeslisten zu verändern: Die Partei stellt eine Landesliste auf. Nun kommt es zum Showdown – Direktkandidat:innen, mit jeweils besseren Ergebnissen in ihren Wahlkreisen verändern die Landesliste. Alles im Rahmen des erreichten Ergebnisses der Zweitstimmen. Das wäre ein plebiszitäres Element, vergleichbar dem Panaschieren und Kumulieren in den Kommunalparlamenten. Der Charakter der repräsentativen Vertretung bliebe durchaus erhalten, aber die "Allmacht" der leider zu oft vorher in Hinterzimmern ausgekungelten Listen wäre gebrochen.
Fazit und Schlussfolgerung
Der Machtstabiliserungsversuch der aktuell regierenden Parteien hat keine Zukunft, er wird in dieser Form auch nicht durchkommen. Die Gerichte werden diese Selbstbedienungsmentalität prüfen. Daher wäre es jetzt an der Zeit, das Gesetz umgehend zurückzuziehen und mit allen Parteien in Deutschland einen Kompromiss zu finden. So könnte der Bundespräsident hier moderierend tätig werden. Dass es ohne Moderation nicht funktioniert, haben die Koalitionsparteien, wie aber auch ihre Vorgänger "eindrucksvoll" bewiesen.