Warschau : Das kafkaeske Übungsdorf
Als Tourist in digitalen Städten - I
Die Warschauer Universität hat in den Sozialwissenschaften eine lange Tradition der empirischen Erhebung von gesellschaftlichen Befunden, die durch psychologische und mathematische Verfahren untermauert sind. So wundert nicht, dass es am Institut für Sozialwissenschaften auch ein Zentrum für komplexe Systeme gibt, und an diesem lehrt Jacek Szamej. Ob er für seine StudentInnen oder nur für sich selbst eine kleine Digitalstadt namens Warszawa entwickelt hat, wird nirgendwo geschrieben - es gibt überhaupt keine Informationen zu diesem Angebot. Nicht einmal eine Verbindung zwischen der Universität, dem Zentrum und dieser Web-Site wird hergestellt. Wenn es nicht einige Arbeits- und Angebotsübersichten zum Thema Digitalstadtprogrammierung gäbe, bliebe dieser Ort völlig unbesucht.
Das passt zu seiner Erscheinung. Das Eröffnungsbild zeigt links eine Hauswand, rechts eine Baumreihe, am Boden wird eine Straße angedeutet. Das war's. Mit einem einfachen VRML-Programm kann die Stadt durchschritten, durchflogen und betrachtet werden. Viel ist da nicht: fünf oder sechs Häuser unterschiedlicher Höhe und Breite, drei Straßen, zwei Plätze und eine einzige Baumreihe. Das Licht ist dämmrig, doch die an einer Straße aufgereihten Peitschenleuchten strahlen nicht.
Über allem thront eine runde Scheibe, die eher als Vollmond denn als Sonne zu deuten wäre. Sicher sein kann man sich dabei aber nicht, soll man wohl auch nicht. Wer den flächigen Boden der Straßen an allen Häusern vorbei bis zum Horizont hindurchfährt, dem bleibt ein stehendes Bild aus zwei Flächen in dunkelgraubraun für den Boden und blaumagenta für den Himmel. Gespenstisch. Für die Häuser selbst gibt es auch nur bleiches Mondlicht und tiefen Schatten, kein Fenster, keine Fassade, keine Tektonik, keine gestalteten Bauformen oder Volumina. Kafka kommt einem in den Sinn, aber auch der polnische Zukunftsessayist Stanislaw Lem.
Der Minimalismus dieses Angebots ist doppelt Programm. Zum Einen dürfte die Stadt mit einem der ersten VRML-Programme gebaut worden sein, hatte sich also zu Gunsten ihrer Brauchbarkeit beim Durchgehen und Überfliegen auf das Minimum des Machbaren zu beschränken. Zum Anderen steht Szamejs Ort in einer langen polnischen Tradition der Avantgarde, die jede ästhetische Reduktion noch mit metaphorischen Bezügen anzureichern wusste. Das digitale Warschau zeigt sich als Kabinettstückchen der Konzeptkunst, darin den Arbeiten des Astronomen Andrzej Jorczak (1943-80) oder des Ingenieurs Jerzy Olek (geb.1944) nicht unähnlich, die bei aller unerbittlichen Entmaterialisierung ihrer künstlerischen Intentionen den Boden ihrer technischen Herkunft nie aus den Augen verloren. Die Resultate erscheinen immer auch ein wenig ideologischer denn ideal, aber haben dem Land Polen einen hohen Stellenwert in der europäischen Kunstszene selbst zu Zeiten der übelsten Kommunistenherrschaft erhalten.
Geübte Surfer und schnelle Netznutzer werden die Site in zwei, drei Minuten vollständig erfahren haben, abhaken und vergessen. Für ProgrammiererInnen ist das Angebot ein Rückblick auf nostalgische Zeiten, als Räume noch aus Zahlenreihen entstanden und jede Dachschräge sich unerbittlich in Zickzacklinien zerlegte. Wer sich mit Farblehren im digitalen Zeitalter beschäftigt, wird sich die Bilder gut auf dem Commodore C64-Bildschirm mit seinen 16 oder 256 Farben vorstellen können. Immerhin läuft die Tour allemal flüssig, ohne jedes Ruckeln beim Abbiegen oder Abheben. Doch steckt offensichtlich mehr hinter diesem Lehrangebot als das Studium einer mathematischen Anwendung oder Einführung in spezifische Programmiersprachen. Immerhin ist das Institut für Sozialwissenschaften auch Hort einer bedeutenden psychologischen Abteilung. Nochmals: Wer hier üben soll oder was hier geübt wird, ist aus keinem Pixel der Anlage zu entnehmen, und Text gibt es überhaupt keinen. Möglich, dass eine einfache VRML 1.0 - Programmierung zu erproben war; möglich, dass eine Theorie komplexer Systeme an einem einfachen Beispiel aus Volumina, Licht und Bewegung zu erproben war; möglich aber auch, dass ein psychologisches Training des Durchgehens unbekannter Räume in der Absicht des Entwerfers lag.
Da mir hier ein Schlüssel zum Verständnis der Web-Site zu liegen scheint, muss ich auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Als ich das digitale Warszawa zum ersten Mal besuchte, rief die Mischung aus Enttäuschung (über die geringe Größe) und Faszination (über die Evozierung einer gespenstischen Situation) schnell eine assoziative Kette von Erinnerungen ab: an meine Besuche in Polen um 1980, an nächtliche Autofahrten durch oberschlesische Industriegebiete, an stundenlanges Herumstehen in Eisenbahnzügen auf Verschiebebahnhöfen. Bei jedem weiteren Besuch erweiterten sich die Verzweigungen des Erinnerten zu lange vergessenen Details. Die Häuser und Straßen sind so neutral, dass sie sich mit allen Formen des Vergessenen besetzen lassen, mit Bildern anderer Medien oder auch mit Ideen, die sich scheinbar ohne Grund im Kopf verankert hatten.
Den Besuch im digitalen Warschau ziehe ich einer jeden Moorhuhnjagd vor. Statt des blöden Geballeres auf noch blöderes Getier in allerdings schöner schottischer Landschaft verziehe ich mich für die gleichen neunzig Sekunden - denen weniger als eine Minute Ladezeit vorhergeht - in das mystische Halbdunkel der kleinen Weltplatte mit den wenigen Häusern, Straßen und Laternen. Ein, zwei Mal umherschweifen - ganz ruhig, denn es gibt keinen Ton - und den Gedanken in der Fahrt freien Lauf lassen, das macht den Kopf frei für die nächsten Texte, Fahrten und Arbeiten.
Die Serie 'Als Tourist in digitalen Städten' erschien zuerst in der db (deutsche bauzeitung. Der Autor hat sie für Telepolis noch einmal überarbeitet und ergänzt.