Warum Ägypten die Schleusentore nach Gaza nicht öffnen kann und will

Das Sterben im Gazastreifen geht weiter. Bild: Democracy Now

Mögliche israelische Rafah-Invasion belastet das Verhältnis zu Kairo und den USA. Ägypten befindet sich in einer Zwickmühle. Warum das so ist. Gastbeitrag.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat eine Invasion nach Rafah angekündigt, einer Stadt an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, in der derzeit mehr als 1,5 Millionen Palästinenser Schutz suchen.

Giorgio Cafiero ist Gründer von Gulf State Analytics und Professor an der Georgetown University.

Für Ägypten steht sehr viel auf dem Spiel. Ein Hinüberschwappen der Kämpfe von Gaza auf die Sinai-Halbinsel könnte destabilisierend sein. Kairo möchte verständlicherweise, dass dieser Krieg sofort beendet wird.

Albtraum-Szenario für Kairo

Ein massiver Zustrom von Flüchtlingen aus dem Gazastreifen in den Sinai könnte dazu führen, dass die Palästinenser von ägyptischem Boden aus bewaffneten Widerstand gegen Israel leisten – aus Sicht Kairos ein Albtraum-Szenario.

Ägypten möchte auch nicht den Eindruck erwecken, dass es palästinensische Flüchtlinge im Gegenzug für Geld aus den USA aufnimmt, was auf den Straßen der arabischen Welt zu dem Eindruck beitragen würde, dass die Regierung von Präsident Abdel Fatah al-Sisi an einer "Nakba 2.0" beteiligt ist.

Um zu verstehen, wie anfällig Ägypten für eine Ausweitung des Gaza-Krieges ist, müssen auch die anderen außenpolitischen Herausforderungen Kairos berücksichtigt werden. Das Übergreifen des Gaza-Krieges auf das Rote Meer hat der ägyptischen Wirtschaft in Form von entgangenen Einnahmen aus dem Suezkanal geschadet, da die Schiffe den Bereich ganz meiden.

Außerdem ist Rafah nicht die einzige Grenzsicherheitskrise, die ägyptische Regierungsvertreter beschäftigt.

"Im Süden liegt der Sudan, wo Chaos herrscht. Im Westen ist Libyen in Unruhe. Im Grunde genommen gibt es also überall, wo Ägypten hinschaut, Probleme. Hinzu kommt die Frage des Renaissance-Damms [Nil-Talsperre in Äthiopien]", so Kenneth Katzman, Senior Fellow am Soufan Center, im Interview mit Responsible Statecraft.

Die Rolle der USA

Seit Oktober ist die ägyptische Diplomatie der Schlüssel zu den Bemühungen, einen Waffenstillstand zu erreichen, den Austausch von Geiseln gegen Gefangene auszuhandeln und humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu leisten.

Infolgedessen hält die Biden-Regierung Ägypten für unverzichtbarer denn je. Bemerkenswert ist, dass Biden und sein Team in letzter Zeit keine Kritik an der Menschenrechtslage der Sisi-Regierung geübt haben – ein großer Unterschied zu Bidens Rhetorik als Präsidentschaftskandidat.

Das Weiße Haus hat Verständnis für die Bedenken Kairos. Biden vertritt den Standpunkt, dass Israel keinen Großangriff auf Rafah starten sollte, ohne die Sicherheit der dort lebenden Palästinenser zu gewährleisten.

Doch Kairo ist sich natürlich bewusst, dass die Biden-Regierung nur eine begrenzte Kontrolle über die Situation hat. Ägypten ist sich bewusst, wie viel Einfluss Washington tatsächlich auf Tel Aviv hat, und ist frustriert über Bidens Weigerung, Israel stärker zu einer Änderung seines Verhaltens zu drängen. Charles Dunne, ein ehemaliger US-Diplomat, der in Kairo und Jerusalem diente, sagte gegenüber Responsible Statecraft:

Washingtons Unterstützung [für Ägypten an dieser Front] beschränkte sich darauf, die Ablehnung jeglicher Art von Flüchtlingstransfers deutlich zu machen, sei es erzwungen, unfreiwillig, dauerhaft oder vorübergehend.

USA an Ägypten: Ein Teil der Flüchtlinge im Sinai unterbringen

"Man wehrt sich gegen die – bisher nicht offizielle – Rede in Israel, dass ein Massentransfer ein Teil der Lösung für Israels Gaza-Problem sein könnte", fügte er hinzu.

"Meine persönliche Schlussfolgerung ist, dass [US-Beamte] wahrscheinlich [ihren ägyptischen Kollegen] zu verstehen gegeben haben, dass ein Teil der Bewohner des Gazastreifens unweigerlich nach Ägypten gelassen werden muss, um eine größere humanitäre Katastrophe zu verhindern, wenn die Israelis ihre Militäroperationen näher an Rafah heranbringen", sagte Dave DesRoches, Assistenzprofessor an der National Defense University in Washington D.C. Er fügte hinzu:

Ich vermute, dass die Ägypter besorgt sind, dass die israelische Präsenz im Gazastreifen dauerhaft werden könnte und dass Ägypten als Unterstützer der israelischen Militäroperationen angesehen werden könnte.

Wenn Israel Rafah angreift und es zu einer massiven Vertreibung von Palästinensern nach Ägypten kommt, würde Washington Kairo wahrscheinlich finanziell unterstützen. Katzman glaubt jedoch, dass das Weiße Haus eher darauf bedacht ist, das zu verhindern.

Ich habe den Eindruck, dass sich die [Biden-]Regierung nicht wirklich mit der Frage auseinandersetzt, was passiert, wenn es eine Flüchtlingswelle in den Sinai gibt, während ich denke, dass ihre Strategie darin besteht, sicherzustellen, dass es gar nicht erst dazu kommt.

Tritt das Worst-Case-Szenario ein?

Katzman fügte hinzu: "Die USA ermutigen Israel, sich so weit wie möglich mit Ägypten abzustimmen, was meiner Meinung nach auch geschieht. Aber darüber hinaus glaube ich nicht, dass die Regierung in Kairo irgendwelche Planungen angestellt hat, weil sie nicht davon ausgeht, dass dieses Worst-Case-Szenario eintritt".

Charles Dunne erklärt zudem:

Kairo befürchtet, dass schon die Erwägung einer Notfallplanung als grünes Licht für die IDF [israelische Armee] gewertet werden könnte. Das scheint im Moment der Fall zu sein, und Kairo konzentriert sich auf den Bau einer befestigten Pufferzone entlang der Grenze zu Gaza, um eine Flüchtlingskrise zu verhindern.

Krise am Roten Meer

Ein weiterer wichtiger Aspekt der US-amerikanisch-ägyptischen Beziehungen im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg und seiner Regionalisierung ist die Sicherheitskrise am Roten Meer.

Seit November feuern die Huthi Raketen und Drohnen auf Schiffe vor der jemenitischen Küste ab und erklären, sie würden den Gazastreifen unterstützen, indem sie Schiffe mit Verbindungen zu Israel, den USA und Großbritannien ins Visier nehmen. Seit letztem Monat sind die Einnahmen Ägyptens aus dem Suezkanal nach Angaben von Sisi während der Krise um 40 bis 50 Prozent zurückgegangen.

Gordon Gray, der ehemalige US-Botschafter in Tunesien, erklärte gegenüber Responsible Statecraft, dass es für Ägypten einen "starken Anreiz gibt, die Bemühungen der USA um die Freiheit der Meere zu unterstützen", wenn man bedenkt, was für Ägypten in Bezug auf die Kosten für den Suezkanal im Zuge der Angriffe der Huthi auf dem Spiel steht.

Doch trotz der wirtschaftlichen Rückschläge durch die Sicherheitskrise im Roten Meer hat sich Ägypten nicht an der Operation Prosperity Guardian (OPG) beteiligt, und Kairo hat keine offizielle Rolle in der von Washington geführten Bombardierungsoffensive gegen die Huthi gespielt, die vor fast zwei Monaten begann.

Kairo abhängig von Transport durch Suezkanal

Das liegt nicht daran, dass Kairo die Besorgnis des Westens über die Angriffe der Huthi auf Schiffe nicht teilt. Im Gegenteil: Ägypten und die USA sind sich einig, dass keine jemenitische Gruppe den Seeverkehr in der Region stören sollte.

Als Saudi-Arabien im März 2015 die Operation "Decisive Storm" startete, stellte Ägypten seine Seestreitkräfte zur Verfügung, um die Sicherheit im Roten Meer und im Golf von Aden zu gewährleisten. Damals bezeichnete Sisi das Rote Meer als "arabisches Meer" und nannte die Meerenge Bab al-Mandab als wichtig für die "ägyptische und arabische nationale Sicherheit".

Die öffentliche Meinung im eigenen Land erklärt größtenteils, warum Kairo weder der [Rote-Meer-Koalition OPG] beitritt noch die amerikanisch-britischen Angriffe formell unterstützt. Viele Ägypter würden in dem Schritt ihrer Regierung, sich offen an die Seite Washingtons und Londons gegen die Huthi zu stellen, eine Unterstützung Kairos für Israels Krieg gegen Gaza sehen. Dunne ergänzt:

Ägypten hat sich geweigert, der [OPG] beizutreten, und obwohl es möglich ist, dass Ägypten einen Beitrag hinter den Kulissen leistet, ist ein solcher Schritt im Moment mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Wenn überhaupt, dann ist das das Mindeste, was sie tun können.

Kooperiert Kairo insgeheim mit Westen?

DesRoches glaubt, dass die Ägypter London wahrscheinlich erlaubt haben, den ägyptischen Luftraum für die Bombardierung von Huthi-Zielen im Jemen zu nutzen. "Ich gehe davon, dass US-amerikanische Unterstützungs-, Geheimdienst- und Nachschubflüge wahrscheinlich den ägyptischen Luftraum durchqueren", sagte er.

Ich bin etwas weniger zuversichtlich, dass die Ägypter nachrichtendienstliche Erkenntnisse und operatives Wissen, über das sie dank ihrer verschiedenen Einrichtungen verfügen, austauschen, um Raketen und Abschussorte zu lokalisieren. Das liegt wahrscheinlich eher an den fehlenden ägyptischen Kapazitäten als an einer politischen Entscheidung, nicht zu kooperieren.

Letztendlich bleibt die Allianz zwischen den USA und Ägypten stark. Angesichts der Rolle Washingtons bei der Zerstörung des Gazastreifens und seiner zunehmenden Isolation in der arabisch-islamischen Welt muss Kairo diese Beziehung jedoch mit mehr Vorsicht angehen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Giorgio Cafiero ist CEO und Gründer von Gulf State Analytics, einem Beratungsunternehmen für geopolitische Risiken mit Sitz in Washington D.C. Außerdem ist er Professor an der Georgetown University und Fellow beim American Security Project.