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Warum Deutschlands Glaubwürdigkeit im Fall Israel leidet

Bundeskanzler Olaf Scholz besucht im März 2022 Israel, hier zusammen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Naftali Bennett. Bild: Bergman / Bundesregierung

Erneut protestierten am Wochenende Zehntausende gegen die Netanjahu-Regierung. Es droht ein noch härterer Kurs gegen Palästinenser. Deutschland scheut sich aber weiter, die Apartheidpolitik klar zu verurteilen. Ein Kommentar.

Es ist offiziell: Die 37. israelische Regierung steht. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wurde samt seines neuen rechts-religiösen Bündnisses vereidigt. Rutscht Israel in die pseudodemokratische Theokratie ab, sind nun die Masken endgültig gefallen?

Verurteilte Straftäter:innen, Homophobe und Politiker:innen, die die expansive Besatzungspolitik um jeden Preis fortführen werden [1]: ein Szenario, was von vielen Kritiker:innen befürchtet wurde. In einem Tweet nach dem erneuten Amtsantritt sagte Ministerpräsident Netanyahu im Wortlaut [2]:

Dies sind die Grundlinien der von mir geleiteten nationalen Regierung: Das jüdische Volk hat ein exklusives und unbestreitbares Recht auf alle Gebiete des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung in allen Teilen des Landes Israel fördern und entwickeln – in Galiläa, Negev, Golan, Judäa und Samaria.

Ein Schlag ins Gesicht für alle, die an einer Zweistaatenlösung festhalten.

Die UN-Vollversammlung stimmte Ende Dezember mehrheitlich dafür, dass Israels Besatzung vom Internationalen Gerichtshof geprüft werden soll. Israel drohte daraufhin Palästina mit Strafmaßnahmen und warf dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas "diplomatischen Terror" vor.

Nach dem sich eine große Anzahl der Länder eindeutig gegen diese Haltung positionierte, hat sich nun auch die deutsche Bundesregierung dazu geäußert. Man zeigt sich besorgt über die Strafandrohungen und beruft sich dabei auf juristische Prinzipien [3]. Eine erstaunliche Reaktion, wenn man bedenkt, dass Deutschland zu den 26 Ländern gehört, die in der erwähnten UN-Vollversammlung gegen den Antrag einer juristischen Prüfung stimmte.

Schadensbegrenzung? Wieso diese falsche Scheu vonseiten des Außenministeriums gegenüber gesetzlosen Handlungen?

Bundesregierung sollte Menschenrechtsbrüche gleich behandeln

Die neue Netanjahu-Regierung ist ein Rückschlag, bei allen Bemühungen und Annäherungen. Denn Ziel ist es, sich abzuschotten und einen Gottesstaat zu errichten [4]. Was mit den Palästinenser:innen in den Gebieten passiert, auf das ein exklusives Recht für das jüdische Volk ausgerufen wurde, ist in der Koalitionsvereinbarung nicht geregelt.

Es kommt die Frage auf, ob es eine Annexion des Westjordanland geben wird [5]. Sollte eine illegale Aneignung ohne offizielle Erklärung und Gesetze stattfinden, sind eine Eskalation und bürgerkriegsähnliche Zustände vorprogrammiert.

Hinzu kommt die Sorge, dass die Koalitionspartner die Macht des Obersten Gerichtshofs limitieren und demokratische Räume schwächen wollen. Das israelische Parlament könnte dann Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs überstimmen und Gesetze beschließen, die den grundlegenden Gesetzen Israels widersprechen [6]. Wie sollen nun Menschenrechte und die Rechte der Minderheiten im Land geschützt werden?

Das Ende der Demokratie? Zumindest scheint es so. Die Azriel Group, der viele der Einkaufszentren des Landes gehören, hat sich vor einigen Tagen geweigert, eine Anzeige der Zeitung Haaretz auf der Fassade des zentralen Azrieli-Einkaufszentrums in Tel Aviv zu veröffentlichen. Schließlich hat man die Entscheidung zurückgenommen [7]. Die Anzeige für die Zeitung zeigte auf blauem Hintergrund den einfachen Satz "Demokratie endet nicht mit Wahlen".

Während der rechtsextreme Zug das israelische Rechtssystem im Land überrollt, gratulierte Bundeskanzler Olaf Scholz kritiklos dem Regime. Wir sprachen bei der WM in Katar über Menschenrechte, auch die Aggression Russlands wird klar verurteilt und ein Großteil der deutschen Bevölkerung solidarisiert sich mit der Bewegung im Iran.

Alles lobenswerte Entwicklungen, doch wo bleibt unsere kritische Haltung und unsere Glaubwürdigkeit, wenn es um die Verteidigung der Menschenrechte in Israel geht. "Nie wieder" bedeutet auch nie wieder Apartheid zu unterstützen! Verantwortung bedeutet auch internationale Verantwortung zu tragen!


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7468993

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.middleeasteye.net/news/israel-government-incoming-names-new-ministers
[2] https://taz.de/Regierungsbildung-in-Israel/!5897407/
[3] https://twitter.com/GermanyUN/status/1615138168654761985
[4] https://www.newyorker.com/news/daily-comment/netanyahus-government-takes-a-turn-toward-theocracy
[5] https://diak.org/2023/01/21/konsequenzen-fur-die-westbank/
[6] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-01/israel-proteste-justizreform-hoechstes-gericht
[7] https://www.timesofisrael.com/azrieli-group-briefly-refuses-to-run-haaretz-ad-on-malls-screens-later-relents/