Warum Europa auf eine neue Krise des Euro zusteuert
Seite 3: Das aktuelle Problem von EU und EZB am Beispiel Litauens
- Warum Europa auf eine neue Krise des Euro zusteuert
- Lohnstückkosten zentral für den Ausgleich der Wettbewerbsfähigkeit
- Das aktuelle Problem von EU und EZB am Beispiel Litauens
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Im Falle exogener Preisschocks – wie die durch die Corona-Pandemie und den russischen Krieg gegen die Ukraine ausgelösten – kann das Inflationsziel der Zentralbank kurzfristig nicht eingehalten werden. Dann kommt es darauf an, dass alle Mitgliedstaaten ungefähr gleich stark und gleich lang von der Zielrate der Zentralbank abweichen. Agieren sie sehr unterschiedlich, gerät die Währungsunion in Schieflage.
Und genau hier liegen gravierende ökonomische Probleme, vor denen die EU-Kommission und die EZB aktuell stehen. Das soll am Beispiel Litauens gezeigt werden. Litauen hat zwar erst 2015 den Euro eingeführt, aber bereits elf Jahre vorher den Wechselkurs seiner Währung gegenüber dem Euro fixiert.
Die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten in diesem baltischen Land entfernt sich vom Durchschnitt der Eurozone seit Jahren (in Abbildung 1 ist der Zeitraum ab 2010 dargestellt; bereits zuvor kumulierte Litauen gesamtwirtschaftliche Lohnstückkostensteigerungen oberhalb des Durchschnitts der EWU).
Diese Tendenz hat sich seit 2020 noch deutlich verstärkt. Das bedeutet, dass die Wettbewerbsfähigkeit Litauens seinen Handelspartnern gegenüber in der EWU laufend und seit der Corona-Pandemie massiv abgenommen hat. Als Gegenbeispiel wird hier Spanien gezeigt, das sich seit der Euro-Krise dem schmerzhaften Prozess einer Lohnstückkostensenkung unterzogen hat, um sich gegen die überlegene deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu wehren, die ihm Erfolge beim internationalen Handel verbaute.
Die Diskrepanz der Lohnstückkostenentwicklung seit 2010 in Hinblick auf Litauen (wie auch der beiden anderen, hier nicht dargestellten baltischen Staaten) ist verglichen mit den Ungleichgewichten, die sich im ersten Jahrzehnt der EWU zwischen den Mitgliedstaaten aufbauten, wesentlich stärker.
Das zeigt der Vergleich von Abbildung 1 mit Abbildung 2, wo der gleiche Indikator, allerdings ab dem Jahr 2000, dargestellt wird, und zwar für das damalige Krisenland Nummer eins, Griechenland, und den größten damaligen Abweichler vom gemeinsamen Inflationsziel nach unten, nämlich Deutschland.
Die Gefahr, dass Litauens Wirtschaft den aktuellen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit nicht verkraftet, ist offensichtlich heute ungleich größer als die Gefahr, in der sich griechische Anbieter damals befanden.
Dieses Problem wird durch die überdurchschnittliche Steigerung der baltischen Energiepreise im Vergleich zum Rest der EWU, auf den die Deutsche Bundesbank in ihrem Monatsbericht auf Seite 20 in Fußnote 16 explizit hinweist, noch verschärft, weil dieser importierte Preisschub ja in die Vorleistungskosten einfließt.
Doch warum wird über diese Gefahr, in der sich einige EWU-Länder befinden, kaum diskutiert? Warum schreibt der Rat der Europäischen Union in seiner Pressemitteilung vom 14. Juli 2023, "dass in den eingehenden Überprüfungen 2023 der Schluss gezogen wurde, dass in Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg, der Slowakei und Tschechien keine Ungleichgewichte bestehen, da die Anfälligkeiten unter Kontrolle zu sein scheinen"?
Auch von der EZB hört man nichts im Hinblick auf Beratung der EWU-Länder, die gerade dabei sind, durch extreme Lohnsteigerungen die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer heimischen Unternehmen zu ruinieren. Dabei müssten sich die Zentralbanker dafür interessieren, weil eine solche Entwicklung die Stabilität des Euro bzw. der Eurozone gefährdet.
Staatsschuldenstand und 3-Jahres-Leistungsbilanzsaldo sind nachlaufende Indikatoren
Die Antwort dürfte sein, dass nicht die Lohnstückkostenentwicklung, sondern die Höhe der Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) sowie der Drei-Jahres-Durchschnitt des Leistungsbilanzsaldos im Verhältnis zum BIP als die wichtigen Indikatoren für makroökonomische Ungleichgewichte angesehen werden.
Und in der Tat, bei der ersten Kennziffer können sich die genannten Länder sehen lassen, allen voran Estland, dessen Schuldenquote im Jahr 2022 laut Eurostat 18 Prozent des BIP betrug. Auch die litauische liegt mit 38 Prozent weit unterhalb der 60-Prozent-Marke der europäischen Fiskalregeln. Zum Vergleich: Deutschland rang jahrelang um das Erreichen dieser Marke, schaffte das 2019 und liegt seither wieder klar darüber, zuletzt mit 66 Prozent.
Sich vom Kriterium der Staatsschulden in Sicherheit wiegen zu lassen, ist aber wenig sinnvoll. Denn was nützt es einem litauischen Unternehmen, wenn zwar sein Staat geringe Schulden und es selbst möglicherweise geringe Steuerlasten zu schultern hat, es aber mangels Wettbewerbsfähigkeit den Betrieb einstellen muss? Was nützt es dem bei einem solchen Unternehmen bislang Beschäftigten, wenn er zwar weiß, dass er als Steuerzahler keine hohe Zinslast seines Staates mitzutragen hat, aber gerade seinen Arbeitsplatz verliert?
Der andere Indikator, der Durchschnitt des Leistungsbilanzsaldos über drei Jahre, reagiert definitionsgemäß verzögert und kann deshalb drohende Ungleichgewichte nicht frühzeitig anzeigen. Der litauische Saldo hat sich zum Beispiel zwischen 2022 und 2022 von +7,3 Prozent des BIP über +1,1 im Jahr 2021 auf -5,5 Prozent verschlechtert, was im Drei-Jahres-Durchschnitt für 2022 noch +1 Prozent ergibt.
Der hohe positive Wert im Jahr 2020 dürfte auf eine Sonderkonjunktur der Elektronikbranche im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zurückzuführen sein. Er illustriert ein Problem, vor dem viele Schwellenländer stehen: Dort haben sich westliche Unternehmen spezifischer Branchen angesiedelt, die mit der hohen Produktivität ihrer Technologie die Lohnstückkostenexplosion der vergangenen Jahre auf nationaler Ebene überstehen können, weil das Ausgangsniveau ihrer betrieblichen Lohnstückkosten sehr gering ist.
Entsprechend groß ist der Puffer, der in ihren Gewinnmargen steckt und den sie anzapfen können, bevor sie die extremen Lohnstückkostenzuwächse in den Preisen in einem Maße weitergeben müssen, das ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit untergräbt. Diese Unternehmen produzieren für den Export des jeweiligen Landes, sodass dessen Handels- bzw. Leistungsbilanz den großen Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit nicht eins zu eins widerspiegelt.
Doch für die ursprünglich inländischen Unternehmen dieser Schwellenländer, die bisher nicht die hohe Kapitalintensität der Exportunternehmen in westlicher Regie erreicht haben, ist die Lohnstückkostenentwicklung der letzten Jahre nahezu untragbar. Eines Tages werden sie dem internationalen Wettbewerb nicht mehr standhalten können. Das schlägt auf den Arbeitsmarkt durch.
Bis sich der Staat aber nicht nur geringeren Steuereinnahmen, sondern auch steigenden Transferausgaben und damit einer zügig steigenden Neuverschuldung oder gar dem Überschreiten der 60-Prozent-Marke des Staatsschuldenstandes gegenübersieht, dauert es noch eine Weile. Und das nicht nur, weil der aktuelle Schuldenstand noch vergleichsweise niedrig ist, sondern auch, weil die Bevölkerung dem Mangel an Arbeitsplätzen mit Auswanderung begegnet. Dieses "Migrationsventil" wird übrigens in den baltischen Staaten schon seit Jahren genutzt und entvölkert die drei Länder.
Keine guten Aussichten für die Eurozone
Die Finanzmarktakteure dürften sich im Gegensatz zur Kommission und der EZB schneller darüber klar werden, welche EWU-Länder nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Das könnte zu einem deutlich steigenden Niveau der langfristigen Zinsen dort führen, das inländische private Sachinvestoren abschreckt und von den jeweiligen Staatshaushalten nicht lang durchgehalten werden kann.
Wie werden die "alten" Mitgliedstaaten der EWU, die EU-Kommission und die EZB dann reagieren? Mit monetären Rettungsschirmen, die die Souveränität der nationalen Parlamente infrage stellen? Mit gescheiterten Austeritätsrezepten der 2010er-Jahre?
Hört man sich an, was die führenden Politiker aller drei Koalitionsparteien der deutschen Regierung für die Beendigung der deutschen Rezession anstreben, nämlich eine Verbesserung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, ahnt man, welcher gordische Knoten hier geschlungen wird. Ist er erst einmal festgezurrt, werden noch mehr Menschen als bislang über die EZB und die Wirtschaftspolitik in der EU empört und vom Euro sowie ganz allgemein vom System Marktwirtschaft enttäuscht sein.