Warum das Vaterland lieben?
Vom Fußball, kleinen Blauhemden und der Geschichte des Patriotismus (Teil 1)
Die Frage könnte auch heißen: Wie wird man Nationalist? Männlicher- wie weiblicherseits, Heranwachsende eingeschlossen. Denn dieser fünfteilige Aufsatz verwendet die Begriffe Patriotismus und Nationalismus synonym und wird das in verschiedener Hinsicht erläutern.
Der erste von fünf Teilen erläutert ein paar landläufige und bildungsbürgerliche Auffassungen zum Gegenstand und zeigt, was sie über ihn verraten.
Eine Flugzeug-Ladung von deutschen Profikickern hat im Juni 2018 in Russland aus spieltaktischen Gründen wie aus solchen des Zufalls die Neuauflage eines "Sommermärchens" verschossen. Über die damit ebenfalls vergeigte patriotische Erbauung von Alt und vor allem Jung zeigte sich ein Pressesprecher der "einfachen Leute" zutiefst enttäuscht:
Meine Nationalmannschaft ist gestorben. Der Verstorbene war Weltmeister, er nannte sich "Die Mannschaft". Wer will von ihr noch Autogramme, Trikots kaufen? Welcher Junge in Deutschland sagt noch: Ich bin Kroos, ich bin Marco Reus? Keine Deutschlandfähnchen an den Autos, die Liebe ist weg.
Andere Meinungsbildner erinnerten wehleidig bis ungehalten daran, wie das Miterleben der periodisch von Verbänden und von Staats wegen organisierten Ballspiele halbe Schulklassen dazu bringen kann, freiwillig und bevorzugt eine Art Nationaluniform anzulegen und anzubehalten. Dies und die Fähnchen an den Autos künden allerdings nur bei uns von "Liebe", während eine Fußball-WM in Staaten wie Russland als "Putins Opium" "instrumentalisiert"1 wird. Gefühlte Heimat auch im folgenden Fallbeispiel:
Deutschland gegen Schweden: Ich sah es auf einem Kindergeburtstag. Eltern und Kinder versammelten sich vor dem Fernseher. Dann die deutsche Hymne. Die Zehnjährigen erhoben sich langsam, legten einander die Arme auf die Schultern und sangen mit zarten Stimmen, zögernd zunächst, nicht bis zum Schluss textsicher, aber doch: ‚Einigkeit und Recht und Freiheit‘. Ein anrührender Moment. Und wissen Sie was? Ich habe mitgesungen.
"Fußballnation"
Als ostdeutsche Pimpfe in Einheitsblau und auch nicht frei von Rührung noch ihren Kollektivismus besangen, hätte der süddeutsche Kolumnist vermutlich pikiert vermerkt, dass hier eine Indoktrination Minderjähriger vorliege, die mit Inhalten operiere, denen diese noch gar nicht gewachsen seien.
Die "zarten Stimmen" West, die bei "des Glückes Unterpfand", in dessen "Glanze" etwas "blühen" soll, auch nicht so recht wissen, was sie da singen, gehen ihm dagegen sehr nahe. So sehr, dass er nicht nur die eigene Hemmung im Bezeigen von Vaterlandsliebe überwindet, sondern in die Gesten und Töne der "Zehnjährigen" gleich den Patriotismus hineinliest, den er heraushören will.
Es mag ja sein, dass ein nationales WM-Erleben, hier und anderswo, vom gemeinschaftlichen Geschrei bis zur clownesken Kriegsbemalung recht affin zum kindlichen Gemüt verläuft. Die Kleinen amüsieren sich tatsächlich, wenn sie sehen, wie "die Gauchos und die Deutschen gehen".
Ob allerdings Löw Nationaltrainer bleiben, Özil "seinem Sultan" ein Trikot schenken und Lothar Matthäus Putins "blutige Hände" schütteln darf, ob Boateng ein passender Nachbar ist, ob sich im Tief der Nationalelf die Krise der Regierung widerspiegelt oder umgekehrt – die Teilhabe an Fragen dieses Kalibers verlangt schon ein elaborierteres, also erwachseneres Bewusstsein und Engagement.
Trotzdem ist es nicht falsch, Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele als eine Klippschule der Vaterlandsliebe zu bezeichnen. In solchen Veranstaltungen geht es ersichtlich um einen zwischenstaatlichen Wettbewerb, aber nicht um den gewöhnlichen mit seinem Gerangel um Handelsvorteile und politische Zuständigkeiten, von dem Kinder ohnehin nichts oder nur Oberflächliches wissen, sondern um einen, bei dem der sportlich "Beste gewinnen möge".
Diese Meta-Konkurrenz verdankt sich dem Umstand, dass die einschlägigen Staaten Wert auf den Anschein legen, weit mehr zu sein als ein Wirtschaftsstandort mit Gewaltmonopol. Im körperlichen Kräftemessen – dem sie freilich mit ein paar unsportlichen Mitteln gelegentlich nachhelfen – wollen sie von den anderen Nationen wie vom eigenen Volk auch auf einer Ebene anerkannt und im Erfolgsfall bewundert werden, die als eine des Stolzes und der Ehre ganz angemessen bezeichnet ist.
Obwohl diese Übersetzung ins Elementare eine Abstraktion größeren Kalibers darstellt, können Kinder ihr durchaus folgen. Sie müssen sich dabei, im Unterschied zur erwachsenen Fan-Gemeinde, noch nicht so ganz der Spruchweisheit stellen, nach der Dummheit und Stolz auf demselben Holz wachsen. Denn die schlechten Erfahrungen mit Wirtschaft und Staat, die bei mündigen Bürgern längst zur Gewohnheit geworden sind, beginnt der Nachwuchs erst zu machen.
Insofern handelt er noch kaum gegen besseres Wissen, wenn er sich das Staatswesen von den professionellen und familialen Erziehern als eine Gemeinschaft namens "Wir" vorstellen und ausmalen lässt. Gerade in einer so abgehobenen wie einfältigen Selbstfeier wie der als "Fußballnation" lässt sich diese Einbildung kind- und sachgerecht "bewahrheiten".
"Warum?" – "Darum!"
Die fraglose Liebe zur Nation, welche die zitierten Kommentare den Heranwachsenden wie den Erwachsenen unterstellen, hat schon den Dichter Heinrich von Kleist umgetrieben, als er vor 200 Jahren einen "Katechismus der Deutschen zum Gebrauch für Kinder und Alte" aufschrieb, dessen zweites Kapitel so lautet:
Frage: "Du liebst dein Vaterland, nicht wahr, mein Sohn?" / Antwort: "Ja, mein Vater; das tu ich." / "Warum liebst du es?" / "Weil es mein Vaterland ist." / "Du meinst, weil Gott es gesegnet hat mit vielen Früchten, weil viele schöne Werke der Kunst es schmücken, weil Helden, Staatsmänner und Weise (…) es verherrlicht haben?" / Nein, mein Vater; du verführst mich." / "Ich verführe dich?" / "Denn Rom und das ägyptische Delta sind, wie du mich gelehrt hast, mit Früchten und schönen Werken der Kunst, und allem, was groß und herrlich sein mag, weit mehr gesegnet. Gleichwohl, wenn deines Sohnes Schicksal wollte, dass er darin leben sollte, würde er sich traurig fühlen und es nimmermehr so lieb haben wie jetzt Deutschland." / "Warum also liebst du Deutschland?" / "Mein Vater, ich habe es dir schon gesagt! (…) Weil es mein Vaterland ist.
Dieser der christlichen Glaubensunterweisung nachgebaute Dialog ist darin sehr aktuell geblieben, dass er die moralische Unbedingtheit des nationalen Selbstbewusstseins zum Ausdruck bringt, wofür die Tautologie als sicherste Form der Begründung gerade recht ist: "Warum?" "Darum!"
Denn jede Bedingung für den Patriotismus, alle Interessen oder Wünsche, die er bedienen würde, erschienen als eine Relativierung seiner Werthaftigkeit. Am Ende bliebe er auf der Strecke, sollten seine "vielen Früchte" einmal ausbleiben. "Schönwetter-Patriotismus" können echte Vaterlandsliebende nicht leiden.
"Was ist eine Nation?"
Auf der anderen Seite braucht der bürgerliche Verstand trotzdem etwas, womit er sich einen positiven Grund dieser fraglosen Anhänglichkeit zur Nation begreiflich und anschaulich machen kann. So kommt es, dass der Schuljugend in eigenen Unterrichtsgegenständen (die selbstredend benotet werden und selektionswirksam sind) mitgeteilt wird, eine Nation begründe sich beispielsweise in der gemeinsamen Geschichte, Sprache oder Kultur einer Menschengruppe.
Die fehlerhafte Gemeinsamkeit dieser Beispiele liegt darin, dass sie eine vorstaatliche Gemeinsamkeit eines Volks behaupten und illustrieren. Den Fehler deckt auf ihre Weise eine berühmte Rede auf – "Qu‘est-ce qu‘une nation?" –, die der französische Historiker Ernest Renan 1882 an der Sorbonne hielt. Man kann an ihr, wie schon bei Herrn von Kleist, exemplarisch studieren, dass die nationale Identität die sie "begründenden" Eigenschaften gar nicht braucht, um dennoch zur felsenfesten Überzeugung eines Patrioten zu werden.
Zu den damals schon gängigen Auffassungen, die Vaterlandsliebe entspringe einer gemeinsamen Ethnie (oder in der alten Wortwahl: "Rasse"), "Sprache", "Religion" oder Weltanschauung, irgendwelchen "kollektiven Interessen" oder der "Geographie", also dem besiedelten Raum, macht Renan verschiedene Einwände. Sie haben das Schöne an sich, dass sie diese fünf populären "Beweisführungen" zunächst als ziemlich haltlos erweisen.
Ethnie: "Die ersten Nationen Europas sind Nationen von gemischtem Blut" – von wegen also natürliche Gemeinsamkeit.
Sprache: "Die Vereinigten Staaten und England, das spanische Amerika und Spanien sprechen dieselbe Sprache und bilden doch keine Nation. Die Schweiz (…) zählt drei oder vier Sprachen" – was staatliche Grenzziehung, Gewalt und Entscheidung unterstellt.
Weltanschauung: "Man kann Franzose, Engländer, Deutscher sein und dabei Katholik, Protestant, Israelit, oder gar keinen Kult praktizieren. Die Religion ist eine individuelle Angelegenheit geworden" – eben weil sich die Herrschaft von der Kirche emanzipiert hat.
Interessensverbund: "Ein 'Zollverein' ist kein Vaterland" – und wenn eines daraus wird, dann durch eine meist kriegsbegleitete Reichsgründung.
Natürliche Grenzen: "Wenn die Geschichte gewollt hätte, hätten Loire, Seine, Maas, Oder, Elbe nicht anders als der Rhein eine abgrenzende Eigenschaft gehabt" – die ihnen allerdings nicht von Frau Geschichte verpasst worden wäre.
Weil Monsieur Renan aber selbst Patriot war, zielte er freilich nicht darauf ab, die "nationale Identität" in ihren widersprüchlichen "Begründungen" als Ideologie zu kennzeichnen. Er wollte vielmehr auf eine "wissenschaftlichere", vielleicht positivistische Art an der Vaterlandsliebe als einem Wert festhalten, der sich in der Hingabe beweist, die er fordert:
Eine Nation ist eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie (…) fasst sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft (…), das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist ein tägliches Plebiszit.
Das "tägliche Plebiszit" ist natürlich ein Wort des Überschwangs, weil ein Volk in aller Regel zwischen den Wahlterminen ganz ungefragt regiert und zu diesen Daten auch nur gefragt wird, welches Personal die Regentschaft fortsetzen soll. Die Idee, wonach ausgerechnet die Aussicht auf künftige Opfer die Gegenwart einer "Solidargemeinschaft" stiftet, ist ebenso weit hergeholt.
Denn die Regierten beugen sich gemeinhin eher unzufrieden den nationalen "Sachzwängen", ihr Weiß-Warum muss ihnen von oben mitgeteilt werden, bevor sie es im Nachvollzug idealisieren oder auch nicht. Renans Argumentation kündet also weniger von der Sache als von seinem Wunsch, der Nation ein höheres, unschlagbares "Wir" zu verleihen: "Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip."
Es gehört zum Patriotismus, dass er in der nationalen Vergemeinschaftung nicht einfach das Werk einer staatlichen Gewalt gegenüber den Insassen eines in der Vorgeschichte ergatterten Hoheitsgebiets sieht, die darüber zu einem Volk werden - und sich so ein paar landestypische Eigenschaften angewöhnen (lassen). Diese brauchen allesamt ein dauerhaftes staatliches Wirken, ohne die sie nicht in die Welt kämen oder keinen Bestand hätten. In ihnen, aber auch in freier erdachten Bildern und "Narrativen" – allesamt austausch- und ersetzbar, weil von ihnen nichts abhängt - imaginiert sich der Nationalist dann die besagte vorstaatliche Identität als ideellen Auftraggeber der wirklichen Staatsmacht.2 So sieht er sich seinem Wesen gemäß beheimatet.
Lesen Sie den zweiten Teil: Guter Ismus, schlechter Ismus.
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