Warum der Mensch glaubt
Das Gehirn, der große Geschichtenerzähler
Wenn Menschen zu einem religiösen Großereignis wie dem XX. Weltjugendtag in Köln zusammen kommen, dann zeigen und feiern sie vor allem eines: ihren Glauben. Vermutlich fragen sich dabei die allerwenigsten, warum sie glauben. Viele Wissenschaftler hingegen, allen voran die Neurowissenschaftler, beschäftigt diese Frage zunehmend mehr. Mit Hilfe moderner Hochtechnologie, vor allem mit bildgebenden Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) scheinen sie einer Erklärung des Phänomens näher gerückt zu sein.
Seit Urzeiten suchen Menschen nach dem Woher, Wozu, Wohin, also dem Ursprung, Sinn und Ziel des Lebens. Gott, Schicksal, Karma, aber ebenso Wissenschaft und Vernunft sind Konstanten oder zumindest Wegmarken, nach denen sie ihr Leben auszurichten trachten. Und sie können gar nicht anders, als nach etwas zu suchen, das über das Alltägliche hinausreicht und ihnen metaphysischen Halt oder rationale Erklärung gibt. Denn im Laufe des evolutionären Menschwerdungsprozesses mussten sie in grauer Vorzeit um des Überlebens willen eine hohe Interpretationsfähigkeit entwickeln, d.h. lernen, aus unvollständigen Informationen schnell vollständige Bilder zu erstellen. Beispielsweise aus zwei nah beieinander liegenden Lichtreflexen auf die Augen eines Raubtieres und damit auf Lebensgefahr zu schließen.
Das sagt der Physiker und Journalist Martin Urban in seinem Buch „Warum der Mensch glaubt - Von der Suche nach dem Sinn“, in dem er die neuesten Erkenntnisse einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen zum Thema Glauben darstellt und miteinander verknüpft.
Diese Interpretationsfähigkeit ermöglicht es dem Menschen nicht nur, aus all den Teilinformationen, die ununterbrochen auf ihn einwirken, sowohl unbewusst als auch bewusst Schlüsse unterschiedlichster Art zu ziehen, sondern sie zwingt ihn geradezu, Teilinformationen ständig zu ergänzen und zu möglichst vollkommenen Bildern, d.h. Gedankengebäuden und Geschichten zu fügen. Doch das ist nur eine der ebenso komplexen wie anscheinend zwangsläufigen Leistungen des menschlichen Gehirns, die Wissenschaftler in den letzten Jahren entdeckt und nachgewiesen haben. Es scheint, als habe alles, was Menschen bewegt, seine Grundlagen in den biochemischen Vorgängen des Gehirns und hinterlässt dort seine Spuren.
Besondere Aufmerksamkeit erregten Erkenntnisse darüber, dass offensichtlich auch geistige und spirituelle Bedürfnisse und Erfahrungen nicht nur mit neurophysiologischen, also biologischen Prozessen korrelieren, sondern auch auf ihnen beruhen und dementsprechend manipulierbar sind. Während im vergangenen Jahrhundert Psychologen und Soziologen den Diskurs um Freiheit und Determination des Menschen bestimmten, so sind es nun vor allem die Neurowissenschaftler, die die Gegebenheiten des Menschseins formulieren. Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet, und ihre Funktionen lassen sich großenteils bereits auch von außen betrachten und abbilden (Gehirnscans bieten Einblick in bewusste Wahrnehmung). So können die Ergebnisse der Neurowissenschaftler plakativ zusammengefasst werden.
Wir wollen, was wir tun
Während es vor noch nicht allzu langer Zeit auch für Naturwissenschaftler ein "großes Mysterium" war, wie Körper und Seele verbunden sind, glauben Neurobiologen, dem Geheimnis zunehmend mehr auf die Spur zu kommen. Benjamin Libet in Kalifornien stellte gegen Ende des letzten Jahrhunderts erstmals - und andere danach wiederholt - experimentell fest, dass unbewusst wirkende Gehirnareale, vor allem das Limbische System, das auch für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig ist, die Aktivität des Kortex bei Handlungen bestimmen, die wir als willentlich initiiert erleben.
Unser bewusstes Ich erlebt sich einerseits als Quelle unserer Wünsche, Gedanken, Vorstelllungen und Handlungspläne sowie auch als Verursacher des willkürlichen Handelns, hat also das Gefühl der Willensfreiheit. Unser Bewusstsein nimmt jedoch nicht wahr, dass und wie es durch unterhalb der kortikalen Ebene liegende limbische Bereiche bestimmt wird.
Martin Urban
Dass Gedanken einem manchmal geradewegs aus dem Nichts zuzufliegen scheinen, völlig überraschend und scheinbar unmotiviert, ist wohl eine allgemein bekannte Erfahrung. Sie gründet darin, dass das bewusste Ich die Herkunft dieser intentionalen Empfindungen nicht zu den subkortikalen limbischen Zentren zurückverfolgen kann. Gleichzeitig ist uns aber darüber hinaus die Vorstellung unerträglich, etwas anderes als unseren freien Willen und Entschluss als Initiatoren unserer Ideen und der von uns herbeigeführten Handlungen zu akzeptieren.
„Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun“, resümiert der Münchner Psychologe Wolfgang Prinz und bekräftigt damit die Auffassung, dass das Wollen, also der viel berufene freie Wille, eben nicht frei, sondern determiniert ist. Für Wolf Singer, Leiter des Max-Planck-Institutes für Hirnforschung in Frankfurt am Main ist es ohnehin längst klar, dass es keinen freien Willen (Ist der Mensch ein Automat?), sondern nur kognitive Prozesse gibt, die eine "Folge der sich ständig wandelnden Zustände des Gehirns“ sind. Die Neurobiologie lehre uns, dass "alle Prozesse im Gehirn deterministisch sind und Ursache für die je folgende Handlung der unmittelbar vorangehende Gesamtzustand des Gehirns ist." Daher könne es für den Naturwissenschaftler keinen freien Willen geben, denn:
Keiner kann anders, als er ist.
Eine Auffassung von Determination, die im Grunde nicht neu ist, auch wenn sie bislang eher in anderen Bereichen angesiedelt war. Sie erinnert, aller Wissenschaft zum Trotz, verdächtig an astrologische Verortungen des Schicksals oder an alte, heute so radikal nicht mehr vertretene kirchliche Vorstellungen von der „göttlichen Vorsehung“, d.h. der Vorherbestimmung jedes einzelnen Lebensweges, was der Volksmund in dem Sprichwort zusammenfasste: Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Immerhin aber gestand die Kirche, und tut es noch immer, dem Menschen uneingeschränkt zu, frei zwischen Gut und Böse wählen zu können. Nun ist es also nicht mehr Gott, sondern es sind biochemische Vorgänge, und das Schicksal steht auch nicht mehr in den Sternen, sondern in den Genen, aber am Ergebnis, nämlich der Annahme einer Art Fremdbestimmung des Menschen ändert das nicht viel.
Auch wenn die philosophische Tradition die Freiheit als Teil der Würde des Menschen ansieht ebenso wie die anthropologische Grundverfassung, sich selbst als den oder die zu wählen, der oder die man sein will, so gab es doch schon vor Jahrhunderten auch in der Philosophie die Diskussion über die Freiheit des Geistes. Bereits Baruch de Spinoza stellte im 17. Jahrhundert in seiner „Ethik“ die Frage, wie man eine durchgängige kausale Determiniertheit physischer Prozesse mit Freiheit zusammen denken könne. Und Johann Gottlieb Fichte setzte sich nach dem Studium von Immanuel Kants Schriften in seiner Wissenschaftslehre mit der Methode der Ich-Entwicklung auseinander. Ein Problem allerdings blieb bei der Negation eines freien Willens, sei es durch Geistes- oder Naturwissenschaftler, bisher noch immer ungelöst: Trägt der Mensch ohne freien Willen noch Verantwortung für das, was er tut?
Verortung Gottes im Schläfenlappen
Aber nicht nur Bewusstsein und Freiheit - oder eben Unfreiheit - des Menschen sind in den biologischen Prozessen des Gehirns anscheinend verankert, auch für religiöse Empfindungen und Erfahrungen lassen sich neurophysiologische Entsprechungen nachweisen. Die Forschungsergebnisse der US-amerikanischen Wissenschaftler Andrew Newberg, Eugene D'Aquili und Vince Rause, die 2001 in dem Buch „Why God Won’t Go Away“ veröffentlicht wurden und 2004 in Deutschland unter dem Titel „Der gedachte Gott - Wie Glaube im Gehirn entsteht“ erschienen, sowie Publikationen des amerikanischen Neurophysiologen Vilaynur S. Ramachandran sorgten zu Beginn dieses Jahrhunderts für Aufsehen. Ausgehend von Ansätzen der Epilepsieforschung hatten sie Gehirnaktivitäten von meditierenden und betenden Menschen beobachtet und mittels PET und fMRT abgebildet. Dabei konnten sie neuronale Verschaltungen und biochemische Prozesse nachweisen, die das bewirken, was manche Gläubige als transzendentale Realität oder als Wirken Gottes beschreiben.
Die Verortung Gottes im Schläfenlappen führte, ungeachtet dessen, dass gar nicht jede religiöse Erfahrung etwas mit "Gott" zu tun hat, unter der verbalen Neuschöpfung "Neurotheologie" international zu Schlagzeilen und zahlreichen wissenschaftlichen Diskursen. Beispielsweise veranstaltete im Oktober 2003 das neu gegründete Forum Naturwissenschaft-Philosophie-Theologie an der Universität Leipzig dazu eine interdisziplinäre Ringvorlesung.
In der öffentlichen Diskussion waren es besonders Experimente wie die des kanadischen Neurowissenschaftlers Michael Persinger, die einigen Wirbel verursachten. Mit einem umgebauten Motorradhelm, in dem acht Magnetspulen schwache, fluktuierende magnetische Felder rund um den Schläfenlappen erzeugten, vermochte er, bei Probanden spirituelle Erlebnisse künstlich hervorzurufen.
Nun sind Manipulationen des menschlichen Geistes und Empfindens ja nichts Neues. Die Versuche, Menschen zu steuern, sind uralt. Bislang erfolgten die Zugriffe auf die Gefühls- und Willensbildung allerdings von außen, über Rhetorik, Bilder, Musik, Gerüche oder Drogen, also über sinnliche Einflüsse und damit über Werbung im weitesten Sinn. Nun geht es zwar direkter, aber Zielrichtung und letztendliche Wirkung unterscheiden sich wohl nicht.
Prof. Andreas Engel, Neurophysiologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, warnt vor überzogenen Interpretation der neuen Forschungsergebnisse:
Wenn man sich anschaut, welche Hirnareale Aktivierungsunterschiede zeigen, sind es Areale, die in ganz vielen anderen Untersuchungen genauso Aktivierungsunterschiede zeigen, weil das Areale sind, die etwas mit Steuerung von Aufmerksamkeit zu tun haben.
Irritierend bleibt dabei die bis jetzt noch nicht ergründete Tatsache, dass es offensichtlich "von Natur aus“ Leichtgläubige und Skeptiker, also von vornherein mit unterschiedlichen „Glaubensgenen“ ausgestattete Menschen gibt, wie sich etwa bei Untersuchungen des britischen Psychologen Richard Wiseman oder des Züricher KEY Institute for Brain-Mind Research mit Anhängern und Skeptikern außersinnlicher Wahrnehmungen zeigte. Dabei wurde deutlich, dass eine starke oder schwache gläubige Grundeinstellung eines Menschen mit der Funktionsweise seiner rechten Hirnhälfte zu tun hat.
Die „Leichtgläubigen“ stellen im Gegensatz zu den „Schwergläubigen“, also Skeptikern, auch dort Zusammenhänge her und verarbeiten sie, wo die Ereignisse und Gegebenheiten auf keinerlei Bezüge hindeuteten. Sie sind bereit und überaus fähig, überall Assoziationen aufzuspüren und auch den banalsten Zufällen eine tiefere Bedeutung abzugewinnen. Der Züricher Neuropsychologie Peter Brugger erklärt dies mit einer „relativen Überaktivierung“ der rechten Hirnhälfte. Dabei konnte Brugger in weiteren Experimenten zeigen, dass durch Gabe des Medikamentes L-Dopa, welches im Hirnstoffwechsel den Neurotransmitter Dopamin freisetzt, Skeptiker zu Gläubigen werden.
Vom religiösen Gefühl und der Vorstellung von Gott
Der Allmächtige also ein Energiefeld? Gott eine Leistung unseres Gehirns, die mit Drogen beeinflussbar ist? Oder gibt es einen Gott außerhalb unserer Vorstellungskraft?
Diese Frage zu beantworten, heißt, das Gebiet der Naturwissenschaften zu verlassen, da bekanntlich hinter aller Erkenntnis immer etwas Unbeantwortbares zurückbleibt und andere Erklärungsmodelle einsetzen müssen. Die neurologischen Korrelate zu den Bewusstseinsvorgängen lassen sich beschreiben und wohl auch manipulieren, was, wertfrei betrachtet, eine großartige wissenschaftliche Leistung ist. Doch mehr, beispielsweise etwas über die Gedanken- und Glaubensinhalte, lässt sich auf naturwissenschaftlichem Terrain nicht sagen. Das ist Sache von Philosophie, Weltanschauung oder Religion.
Schon der Begriff Gott ist nicht eindeutig. Angebracht erscheint eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Gott und Gottesbild. Wenn Gott als Urgrund allen Seins definiert wird, unabhängig von seinem Wesen, dann ist Gottes Existenz unausweichlich und evident. Worum der Glaubensstreit eigentlich geht, ist das Gottesbild, d.h. die Frage, wie dieser Urgrund beschaffen ist, der alles Existierende in Gang gesetzt hat. Ist ein sich seiner selbst bewusster, also personaler und dazu dem Menschen zugetaner Gott, wie es Christen, Juden und Moslems glauben, oder ist es das nicht-personale All-Eine der Buddhisten? Ist es ein omnipotentes, aber nicht-intentionales „Nichts“ oder ist es „die Materie“? Wobei der Dialektische Materialismus sich aufgrund der neuen Physik und Biologie mittlerweile selbst erledigt hat. „Ubi enim est thesaurus tuus, ibi erit et cor tuum. - An was dein Herz hängt, dort ist dein Schatz.“ (Matthäus 6,21). Das gilt wohl auch für nicht-materielle Schätze, sprich Überzeugungen.
Ein Totschlagargument? Eines das jeder „religiösen“ Erfahrung zugesteht, dass es eine „besondere“ Hirnaktivität gab, die mit ihr einherging, die aber per se keinerlei Auskunft über die Frage erlaubt, ob wir in einer uns nicht völlig erfassbaren, womöglich in einer dualistischen oder aber ob wir in einer ausschließlich naturwissenschaftlich erklärbaren Welt leben?
Nein, wir leben in keiner dualistischen Welt, sagte der im Februar 2005 verstorbene Bonner Gehirnforscher Detlev B. Linke in einer seiner letzten Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Gehirn und Geist“. Aber:
Der Schluss von naturwissenschaftlich fassbaren Gehirnprozessen auf die Nicht-Existenz einer höheren Wirklichkeit ist keinesfalls streng logisch oder gar zwingend. Die heutige Hirnforschung geht davon aus, dass psychische und neurobiologische Phänomene einheitlich erklärbar sind. Allerdings muss ich deswegen noch lange kein materialistischer Monist sein, für den alles geistige Geschehen nur das Produkt physiologischer Vorgänge ist.
Theoretisch könnte, wenn Geist und Materie eins sind, das Gehirn dann ja auch reiner Geist sein. Und: Religion ist mehr als das gefühlsmäßige Verschwimmen von Innen und Außen in unserer Wahrnehmung, so wie es Newberg darstellte.
Ich bezweifle ebenfalls, dass Gefühle für das Vorhandensein von religiösen Vorstellungen oder gar von ganzen Religionen eine entscheidende Rolle spielen. Wenn man behauptet, Religiosität sei auf irgendein Gefühl der Innerlichkeit zurückzubeziehen, dann ist man doch schon fast beim Opium fürs Volk!
Ein künstlich erzeugtes „mystisches Gefühl“ hat wohl noch nie einen religiösen Inhalt bewirkt. Damit aus Emotion Glaube oder gar Religion wird, muss wesentlich mehr und anderes hinzukommen und geistig verarbeitet werden. Wie steht es also um den Inhalt?
Ein Einfallstor für höhere Einsichten?
Die eingangs erwähnte Interpretationsfähigkeit des Menschen, die ihn ständig nach Sinn und Zusammenhängen suchen lässt, traf schon zu Beginn der Menschwerdung auf andere, rudimentär bereits im Tierreich vorhandene Eigenschaften, nämlich auf die Sehnsucht nach Gewissheit und den Wunsch nach einfachen Regeln. So „komponierte“ der Mensch aus der Selbstreflexion und der Beobachtung seiner Umwelt heraus „einfache Geschichten“. Nach heutigem Kenntnisstand gingen die ersten menschlichen Weltdeutungen von einer allseits beseelten Natur aus. Denn der Urmensch konnte sich die ihn umgebenden übermächtigen Gewalten nicht anders als sich selbst vorstellen, nämlich beseelt. Allerdings unterschied er zwischen der alltäglichen, für ihn „natürlichen“ Welt der Menschen und Tiere und einer „höheren“, spirituellen Welt der Gewalten, Götter und Geister. Das Zwei-Welten-Modell.
Wenn es im Laufe der Entwicklung zu soziologischen Veränderungen kam und ein Erklärungsmodell durch neue Informationen fraglich wurde, so wurde es dementsprechend angepasst. Bis heute. Doch scheint es dabei gemäß dem Motto „Neues nervt“ üblicherweise nicht zu vollständigen Korrekturen zu kommen. Stattdessen, so meint der Psychoanalytiker Paul Watzlawick, werden weitere Ausarbeitungen, Verfeinerungen und Untererklärungen vorgenommen, so dass das Erklärungsmodell schließlich „selbst-abdichtend“, also zu einer nicht falsifizierbaren Annahme wird. So lässt sich etwa im Alten Testament der Bibel zweifellos eine kontinuierliche Veränderung des Gottesbildes erkennen. In den Teilen beispielsweise, die in der babylonischen Gefangenschaft geschrieben wurden, ähnelt es dem eines vorderasiatischen Herrschers jener Zeit.
Zwar hält Martin Urban jede der „heiligen Schriften“ aller Religionen für Menschenwerk, dennoch sieht er in der Bibel insgesamt und im Neuen Testament besonders eine Meisterleistung mit nach wie vor gültigen Werten und wichtigen Grundsätzen. Das Neue Testament beschreibe Jesus als Lehrer von „Glaube und Freiheit“, etwas, was er in den Kirchen weitgehend vermisst. Dass die Bibel von Menschen geschrieben und nicht vom Himmel gefallen sei, bestreiten auch stramme Christen nicht. Allerdings glauben sie an den Einfluss Gottes auf die Autoren, also letztlich eine externe Einwirkung auf die Hirnleistung. Angesichts der modernen Hirnforschung könnte die Frage gestellt werden, ob das limbische System als intuitives „Einfallstor höherer Einsichten“, die unserem Bewusstsein nicht zugänglich sind, taugt.
So sehr die zunehmende Entschlüsselung unserer selbst durch die Wissenschaft fasziniert und viele bislang nur vermutete Details tatsächlich verifiziert: Auch die High-Tech-Verfahren stoßen an Grenzen. Sie enträtseln ein Geheimnis nach dem anderen, nur um direkt darauf vor einem neuen zu stehen. Sie können zwar darstellen und beweisen, wie wir funktionieren und dass religiöse Erlebnisse neurologische Entsprechungen im Gehirn haben. Warum das aber so ist, auf welchem Urgrund diese Vorgänge basieren, das bleibt weiterhin unbeantwortet, d.h. eine Sache des jeweiligen Glaubens.
Trotzdem oder gerade deshalb drängen namhafte Gehirnforscher darauf, dass „Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften in einen intensiven Dialog treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen.“ So formulierten sie es im Oktober in einem so genannten Manifest.
Philosophen und andere Geisteswissenschaftler sehen bislang für ein neues Menschenbild eher wenig Bedarf und reagieren auf die Aussagen zur neuronalen Determination, sofern sie sie inhaltlich zur Kenntnis nehmen und nicht a priori als physikalischen Reduktionismus abwerten, überwiegend entspannt. Holm Tetens, Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin, stellt zunächst einmal die Frage, ob dieempirischen Wissenschaften überhaupt etwas über Freiheit aussagen können und vor allem, was jeweils unter Freiheit verstanden werden soll. Ist Freiheit überhaupt an den freien Willen geknüpft? Mit zwei Thesen dämpft er manche Aufgeregtheit der aktuellen Auseinandersetzung:
These 1: Der Mensch scheint aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht frei zu sein.
These 2: Selbst wenn der Mensch nicht frei ist, so ändert sich für ihn nichts. (im Sinne der conditio humana, die Verf.).
Ludwig Wittgenstein schrieb vor rund siebzig Jahren zum Thema Glauben:
... so brauche ich Gewissheit - nicht Weisheit, Träume, Spekulationen - und diese Gewissheit ist der Glaube. Und der Glaube ist der Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht mein spekulierender Verstand.
Vermischte Bemerkungen, 1937, 495f.
So ist es eben: Manche wissen, dass sie glauben, andere glauben, dass sie wissen. Oder, noch weiter in die Vergangenheit gegriffen bezüglich dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Da steh’ ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug, als wie zuvor. Doch das liegt nicht an dem leicht lesbaren und zum Schluss sehr persönlichen Buch Martin Urbans, sondern in der Natur der Sache.
Martin Urban: Warum der Mensch glaubt - Von der Suche nach dem Sinn. Eichborn Berlin, € 19,90 (D)/ sFr 34,90 / € 20,50 (A)